2014: Der Himmel auf Erden

Eine verlorene Frau, ein vergessener Ort: Mit 24 traf Rosa Hofer eine Entscheidung, die sie von allem befreite und ihr alle Freiheit nahm.

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Fotografie:
Thomas Raggam
DATUM Ausgabe Juli/August 2024

Sie dreht sich nicht mehr um, als sie beschließt, dieses Leben hinter sich zu lassen. Nur das hellgrüne Kleid trägt sie, und etwas Geld für die Fahrt hat sie dabei. Mehr braucht sie nicht. Zwei Stunden dauert die Reise in einen Neubeginn, der das Ende ihrer Freiheit bedeutet. Im Mai 1962 besucht Rosa Hofer (Anm.: Name geändert) ihr Elternhaus auf einem kleinen Berg bei Sankt Lorenzen in der Oststeiermark. Einen Tag und eine Nacht verbringt sie dort. Ein letztes Mal legt sie sich ins Bett ihrer Mutter und schläft eng neben ihr ein. Dass dieser Besuch ein Abschied ist, weiß damals niemand außer ihr selbst. Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang, steigt sie mit ihrem Bruder auf dessen Motorrad. Im Kopf hat sie ein paar Gedanken über ihr Leben, über ihre Familie und die feste Entschlossenheit, all das hinter sich zu lassen. An der Haltestelle wartet bereits der Bus nach Graz. ›Pfiat di, Bruder.‹ Sie steigt ein und blickt nicht zurück.

Mit der Linie 21 fuhr Rosa Hofer damals in die Grabenstraße 114. Seither hat sich vieles verändert hier. Die Bushaltestelle gibt es schon lange nicht mehr, die Straße ist heute eine der Grazer Hauptverkehrsadern, vierspurig verläuft sie durch den dritten Stadtbezirk. Links und rechts Wohnungen, Geschäftslokale, Büroräume. Und zwischen einer Tankstelle und einem Blumenladen eine lange Wand aus Stein. Die war damals schon da. An dem Frühsommertag im Jahr 1962 bildete sie die Grenze zwischen Rosa Hofers altem Leben und dem neuen.

Hinter der Geschichte

Das war mein erster journalistischer Text, der jemals irgendwo veröffentlicht wurde. Er bekam damals recht viele Reaktionen, was wohl daran lag, dass ich in einen so verschlossenen, verborgenen Raum vorgedrungen bin. Wenige Menschen wussten, dass es mitten in Graz ein Kloster mit so strengen Regeln gibt. Die Geschichte meiner Großtante war für unsere Familie schmerzhaft und unverständlich: Warum entscheidet sich ein Mensch, sich selbst einzusperren und sich völlig Gott zu verschreiben? Wie blickt man auf die Welt, wenn man jahrzehntelang fast nichts von der Außenwelt mitbekommen hat? Ich habe durch diese Recherche auch meine eigene Familiengeschichte besser verstanden, darum hat sie bis heute einen besonderen Stellenwert für mich. Meine Großtante konnte für die Geschichte nicht mehr fotografiert werden, weil sie schon sehr krank war, sie ist wenige Wochen nach der Veröffentlichung gestorben. Ich habe ihr ein Magazin ins Kloster geschickt, weiß aber nicht, ob sie meinen Text noch lesen konnte.

Bei DATUM habe ich meine journalistische Karriere gestartet. Für mich war es eine tolle Schule, um in diesen Beruf einzusteigen. Dort waren immer viele junge Leute, die versucht haben, guten Journalismus zu machen. Ich bin dann weitergezogen, zuerst zum Profil in die Innenpolitik und jetzt bin ich im Österreich-Büro der Zeit.

Christina Pausackl

In die Mauer eingebaut steht eine Kirche und, etwas weiter die Wand entlang, ein weiteres Gebäude. Der braune Verputz bröckelt an den Ecken, die straßenseitigen Fenster sind doppelt mit Eisen vergittert und in einer Maueröffnung sind zwei kleine Schilder befestigt: ›Grabenstraße 114‹ steht auf dem einen, ›Karmelitinnen‹ auf dem anderen.

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Wörter: 3685

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