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Am Abstellgleis

In Österreichs Alten- und Pflegeheimen werden Bewohner systematisch ruhig gestellt. Das System lässt dem Pflegepersonal keine andere Wahl.

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Illustration:
Andrea Settimo
DATUM Ausgabe Mai 2018

Frau Müllers* Handlungsspielraum reicht nicht einmal bis zu dem halbleeren Glas Hipp, Sorte Sommerfrüchte, das vor ihr steht. Sie bewegt den Mund. Kein Laut kommt heraus. Am Tisch nebenan unterhalten sich fünf Damen über das Wetter und ihre Ehemänner. Selbst wenn sie wollte: Sie könnte nicht einfach den Handlauf ihres Rollstuhls greifen und sich zu den anderen Frauen rollen, denn das Personal des Pflegeheims, in dem Frau Müller lebt, hat die Rollstuhlbremsen angezogen. Frau Müller fehlt die Kraft, um diese eigenständig zu lösen.

Frau Müller, um die 90, hat graue, zusammengebundene Haare und ein dünnes Gesicht. Um ihren Hals hängt ein Lätzchen, das bis zu ihrem Bauchnabel reicht. Frau Müller ist dement und hat, wie viele mit diesem Krankheits­bild, einen sogenannten Wandertrieb: Sie will zurück nach Hause, dahin, wo sie als Kind gelebt hat. Darum hat ihr der Arzt 25 mg Seroquel täglich verschrieben, ein Beruhigungsmittel, das bei ihrer Diagnose legitim ist. Die angezogenen Rollstuhlbremsen sind es nicht.

Frau Müller ist freiheitsbeschränkt, ihre Fortbewegung wird gegen ihren Willen eingeengt. In Pflegeheimen ist das gestattet, wenn Bewohner psychisch krank oder geistig behindert sind und die eigene Gesundheit oder die anderer massiv gefährdet. Jede solche Einschränkung muss, je nachdem, ob sie medikamentös oder mechanisch ist, von einem Arzt oder einer diplomierten Pflegekraft angeordnet werden. Außerdem muss jede Maßnahme dokumentiert und an einen Bewohnervertreter gemeldet werden. Das wurden die Bremsen nicht.

Johann Schneider* ist ein solcher Bewohnervertreter. Der Mann, Anfang 40, Glatze und Dreitagebart, gelbes Polo­shirt, beugt sich zu Frau Müller und spricht sie an. Sie reagiert nicht. Er geht in die Hocke und drückt die zwei schwarzen Griffe, die rechts und links an den Rollstuhlrädern dafür sorgen, dass sie blockiert werden. Zwei kleine Hebel springen nach außen, die Räder können sich wieder drehen.

Zimmertüren, die mit Müllwagen versperrt sind

Seit Jahren dokumentieren die Volksanwaltschaft, die Patientenanwaltschaft und Vertretungsnetzwerke wie jenes, für das Schneider arbeitet, Fälle wie diesen. Diese Institutionen überprüfen den Alltag in den Heimen, kontrollieren, ob er regelkonform ist. Sie treffen, wie in Frau Müllers Fall, auf angezogene Bremsen. Sie treffen auf alte Männer, die mit Leintüchern an Lehnstühle gebunden werden oder deren Zimmertüren mit Müllwägen versperrt werden, treffen alte Frauen, die mit fünf verschiedenen Psychopharmaka sediert sind oder in Hosen stecken, die an den Rollstuhl genäht wurden.

Wer die eigene Mutter, Großmutter, Tante in ein Altersheim gibt, überlegt sich das im Normalfall gründlich – nicht nur, weil ein Heimplatz oft mehrere tausend Euro im Monat kostet, sondern auch, weil dieser Schritt enormes Vertrauen voraussetzt: Wie wird im Heim mit den Angehörigen umgegangen? Was machen sie außerhalb der wenigen Stunden, die man zum Kaffeetrinken bei ihnen ist? Wer sind die Menschen, die sie dort waschen, pflegen und füttern?

Die Pflegebranche wächst und wird aufgrund der alternden Gesellschaft in den nächsten Jahren noch schneller expandieren. Schon jetzt stirbt jeder fünfte Österreicher im Heim. Die Anstalten suchen händeringend nach Personal, denn Arbeitskräfte verlassen die Branche schnell, sie sind überarbeitet, frustriert und ausgebrannt. In nur wenige Branchen wollen so wenige wieder zurück.

Im Erdgeschoss des Heimes, in dem Frau Müller lebt, hängt einige Tage nach Ostern gebastelte Osterdekoration an den Wänden, die Sonne scheint durch eine große Fenster­front auf massive Holztische und Tanks voll Orangensaft, die darauf stehen. Draußen vor den Fenstern sieht man die weißen Gipfel der österreichischen Alpen. Innen sorgt Schneider dafür, dass die ohnehin schon kleine Welt der Altersheimbewohner nicht noch weiter eingeschränkt wird.

›Ich bin ein Nestbeschmutzer‹, sagt Schneider. In einem McDonalds, fünfzehn Minuten vom Heim entfernt, erzählt er, dass er früher selbst in der Pflege gearbeitet hat. Erst vor einigen Monaten hat er die Seiten gewechselt – zumindest sehen das seine ehemaligen Kollegen so. Seitdem ist er Bewohnervertreter und überprüft als solcher im Auftrag des Gesetzes, ob freiheitsbeschränkende Maßnahmen gemeldet und zurecht angewandt werden. Seit dreizehn Jahren regelt das Heimaufenthaltsgesetz die Grenzen der Freiheit in Pflegeheimen und wer sie wann verschieben darf. Eine Freiheitsbeschränkung ist die allerletzte Instanz. Bevor Gitter rund um Betten montiert werden, Seroquel oder andere sedierende Mittel verabreicht werden, muss jedes gelindere Mittel versucht werden – etwa Menschen wie Frau Müller, die einen Wandertrieb haben, ein Stück begleiten. Und jede freiheitsbeschränkende Maßnahme muss, auch das sieht das Heimaufenthaltsgesetz seit Inkrafttreten vor, an einen Bewohnervertreter wie Schneider gemeldet werden. Hält der eine Freiheitsbeschränkung für unzulässig, meldet er sie dem Bezirksgericht, das den Fall überprüft.

Die Volksanwaltschaft berichtet, dass in über 60 Prozent der österreichischen Heimen eine ›bedenkliche Medikation‹ stattfinde. Warum werden viel mehr Psychopharmaka gegeben als notwendig? Warum braucht es Menschen wie Schneider, die ein Heim nach dem anderen anfahren, um zu prüfen, ob Bewohner angebunden oder ruhig gestellt werden? DATUM war für diese Recherche in sieben Alten- und Pflegeheimen. In drei davon herrschten offensichtliche Missstände. Der Fehler liegt in einem System, das seine Akteure dazu zwingt, gegen ihr Gewissen und gegen das Gesetz zu handeln.

Schneider leert seinen Cappuccino, isst die Apfeltasche auf und steigt in seinen Kombi. Er fährt durch ein malerisches Tal in ein kleines Dorf im Westen von Österreich. Das erste Pflegeheim, das Schneider heute besucht, ist ein moderner Neubau hinter einem Fußballplatz. 34 Menschen wohnen dort, erzählt er vor der Eingangstür. Sein Besuch ist angekündigt – er ist hier, weil er eine gemeldete Maßnahme überprüft. Der Pflegedienstleiter begrüßt ihn herzlich, die beiden kennen sich durch die regelmäßigen Kontrollen. Sie gehen durch einen kreis­runden Raum mit einer offenen Küche, in der Bewohner und Personal zusammen kochen, in ein kleines Zimmer. In der rechten hinteren Ecke steht ein Bett. Darin liegt, unter einer orangefarbenen Wolldecke, Herr Neumaier*, die Beine angewinkelt, den Oberkörper darüber gekrümmt. Er hat graue Haare, sein Gesicht ist dünn, seine Augen wach. Gegenüber steht ein Rollstuhl, eine frische Windel liegt darauf.

Wo hört Freiheit auf, wo fängt Sicherheit an?

Über dem Bett hängt ein Foto. Es zeigt einen Mann in schwarzen Wanderschuhen, hochgekrempelter Hose und umgeschlagenen Hemdsärmeln, in der linken Hand einen Skistock. Er steht auf einer Eisfläche, hinter ihm thronen die weißen Bergspitzen der Alpen. Jetzt stehen die Wanderschuhe zwei Armlängen vom Bett entfernt, oben auf dem Schrank. Das Bett von Herr Neumaier ist auf jeder Seite von Holzlatten umgeben – auf den kurzen Seiten des Bettes je eine, auf den langen je zwei. Nur ein Brett hängt schräg in der Halterung. Herr Neumaier ist zu schwach, um darüber zu klettern.

Zu seinem Schutz seien diese Bretter da, argumentiert der Pflegedienstleiter. Der alte Mann, der während des Gesprächs unablässig an seiner orangefarbenen Decke nestelt, würde sonst aus dem Bett fallen. ›Warum legt ihr keine Sturzmatratze vor das Bett?‹, fragt Bewohnervertreter Schneider – das wäre eines der gelinderen Mittel, die laut Gesetz ausprobiert werden müssten, bevor man Herrn Neumaier von seiner Außenwelt abtrennt. ›Weil er dann am Boden herumkriechen würde‹, antwortet der Pflegedienstleiter. ›Dann soll er das doch, wenn er möchte‹, sagt Schneider freundlich, aber bestimmt.

Sie diskutieren darüber, ob diese eine diagonale Holzlatte Herrn Neumaier im Bett einsperrt: ›Für uns ist es so offen‹, sagt der Pflegedienstleiter, ›für das Gesetz nicht‹, erwidert Schneider. Der Pflegedienstleiter nimmt das diagonale Holzbrett schließlich ab. ›So ist’s okay?‹ Er klingt trotzig. Die beiden vereinbaren einen Kontrolltermin im nächsten Monat.

Wo hört die persönliche Freiheit auf? Wo fängt die Sicherheit an? Das müssen die 33.000 Personen, die hierzulande in Heimen Menschen pflegen, jeden Tag aufs Neue entscheiden. ›Um Leute in ihrem Dreck liegen zu lassen, wollte ich den Beruf nicht machen‹, sagt Max*, ehemals psychiatrischer Pfleger in drei Wiener Heimen, in einem Café in Wien Ottakring. ›Wer 24 /7 die Decke anstarrt und alles, was er hört, ist das Piepsen der Infusionspumpe, der wird wahnsinnig.‹ Max wollte die zahllosen Freiheitsbeschränkungen in den Heimen, in denen er arbeitete, nicht mit ansehen. Also kämpfte er erst dagegen. Im letzten Dezember gab er auf. Heute sagt er: ›Ich weiß nicht, was ich für ein Monster geworden wäre, wenn ich dortgeblieben wäre.‹

Er erzählt etwa von einem Mann, der ›das ganze Haus wuschig gemacht‹ habe, weil er nicht aufhörte zu schreien. ›Er rief nur »Hallo« und »Ja« ‹, erinnert sich Max. Seine Kollegen hätten ihn in Sitzhose – einer Hose, die am Rollstuhl festgenäht ist – in das letzte Zimmer geschoben, die Bremsen festgestellt und seien gegangen: ›Da drin hat er schreien können. Hat ja keiner gehört.‹ Manchmal ging Max zu ihm hin. Dann fragte er: ›Herr Knauber*, wollen wir reden?‹ Und dann fragte Herr Knauber ihn nach der Uhrzeit.

›Meine persönliche Meinung: Sperrt sie alle ein‹, sagt Monika*, zehn Jahre in der Pflegebranche, in einem Café im Shopping-Ressort Gerasdorf. ›Wenn es nicht anders geht‹, fügt sie dann noch hinzu. Und: ›Aber in den meisten Fällen geht es nicht anders.‹ Sie befürwortet die sogenannten Steckgitter, jene Hindernisse, die auch Herrn Neumaier im Bett halten sollen. Doch als Freiheitsbeschränkung muss es für diese, wenn sie wiederholt gesteckt werden, ein ärztliches Zeugnis geben. Wenn es das nicht gibt? ›Dann steck ich es und schreib in die Doku »Auf eigenen Wunsch des Patienten« ‹, sagt Monika, ›Wenn der Patient völlig neben sich ist, hinterfragt das niemand.‹

Monika kam nicht, wie viele andere, aus Idealismus, sondern aus der Arbeitslosigkeit ans Pflegebett, später stieg sie ins Management auf. Als Verantwortliche wollte sie vor allem eins: einen reibungslosen Ablauf im eigenen Haus. Manchmal wurde dieser durch die Ankündigung einer Kontrolle gestört. ›Da nahm ich die Dienstpläne raus und dachte nur: »Scheiße« ‹, erzählt sie. Selten war ausreichend Personal im Dienst. ›Also bekam die Putzfrau an dem Tag ein anderes Dienstgewand. Und plötzlich wurde aus ihr eine Diplomierte.‹ Plötzlich trat eine Reinigungskraft an den Posten, für den eigentlich eine dreijährige Ausbildung absolviert werden muss – eine Ausbildung, die sicherstellt, dass eine Person qualifiziert genug ist, um Sonden zu legen, Blut abzunehmen und Freiheitsbeschränkungen anzuordnen.

Monika hat ihren Posten im Management aufgegeben, Max studiert nun Physik. Weder Max noch Monika wollen wieder zurück in die Pflege. Auch keine der vier anderen ehemaligen Pflegekräfte, mit denen DATUM für diese Recherche gesprochen hat, will zurück. Zu grob sind die Mängel, zu auslaugend der Berufsalltag. In einem Nachtdienst für bis zu 45 Bewohner zuständig zu sein, im Akkord zu waschen, zu füttern und Windeln zu wechseln, wird vielen nach wenigen Jahren zu viel.

Überfordertes Personal, ratlose Kontrolleure.

Die Pflegebranche sucht händeringend nach Personal, gleichzeitig steigt die Arbeitslosenrate in diesem Sektor. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres gaben laut Arbeitsmarktservice 642 Personen ihren Job in einem Pflegeheim auf oder verloren ihn. Gleichzeitig entstanden in der Zeit 429 offene Stellen in Pflegeheimen – um 22 Prozent mehr als in dem Zeitraum letztes Jahr. Zahlen, die ein Dilemma beschreiben: Leute mit Pflegeausbildung würden ohne Schwierigkeiten einen Job in der Branche finden. Doch sie wollen keinen mehr. Pflegeassistenten steigen mit einem Bruttogehalt von rund 1.800 Euro in den Beruf ein, Pflegefachassistenten mit bis zu 2.080 Euro. Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger starten, je nachdem ob sie studiert oder ihre Ausbildung an einer Schule absolviert haben, mit zwei- bis dreitausend Euro.

Wie viele Pfleger in einem Pflegeheim arbeiten müssen, legt der Personalschlüssel fest. Der ist in jedem Land unter­schiedlich: Auf einen Bewohner mit der Pflegegeldstufe V, der dauernde Bereitschaft einer Pflegeperson benötigt, müssen in Wien 1,5 Pfleger kommen, in der Steiermark sind es 2,2 Pfleger. Im Salzburger Pflegegesetz ist keine genaue Zahl festgeschrieben. Dort steht lediglich, dass eine ausreichende Anzahl an qualifiziertem Personal zur Verfügung stehen müsse.

›Der Pflegeschlüssel ist unwürdig‹, sagt Artur Wechselberger, Präsident der Ärztekammer Tirol. ›Der Ausdruck Pflegeschlüssel ist auf Zeit berechnet. Das ist eine Unverfrorenheit der Ökonomie und der betriebswirtschaftlichen Betrachtung‹. Wechselberger meint damit, dass beim Pflegeschlüssel für jede Pflegehandlung eine bestimmte Zeit berechnet ist. Für einen Bewohner der Stufe V sind in Tirol 136 Minuten Pflege pro Tag vorgesehen. Zeit für Gespräche und menschliche Zuwendung ist da nicht einkalkuliert, so Wechselberger. Er betreut als praktizierender Arzt zwischen 35 und 40 Patienten in verschiedenen Pflegeheimen, kennt die Situation in den Heimen und die der Pfleger. ›Wenn ich Arbeitsbedingungen schaffe, die unattraktiv sind, die Menschen in ein Dilemma bringen, das sie nicht lösen können, dann darf ich mich nicht wundern, wenn die davonlaufen.‹

Wie diese ›unattraktiven Arbeitsbedingungen‹ aussehen, beschreibt Max, während er einen Verlängerten trinkt: ›Mit Glück kommen in einem Dienst auf 30 Leute zwei Pflegeassistenten und ein Diplomierter‹, sagt er. ›In der Zeit muss man Verbände wechseln, waschen, drei Mal Essen aus­teilen, Infusionen anhängen, dazwischen kollabiert jemand, ein anderer hat Durchfall und nebenbei muss man noch Suchtgiftpflaster wechseln. Da fällt viel Menschliches weg.‹

Wer sich mit dem österreichischen Pflegesystem beschäftigt, trifft auf völlig überfordertes Fachpersonal, auf ratlose Kontrolleure, auf Gepflegte, die ihre letzte Zeit absitzen. Auf einen österreichischen Föderalismus in Reinform, der neun verschiedene Rahmenbedingungen für den Umgang mit den Älteren hervorgebracht hat. Und auf eine Politik, die dem allen seit Jahren zuschaut. Lediglich eine von 182 Seiten im Regierungsprogramm der schwarz-blauen Koalition ist der Pflege gewidmet. Dort steht, ›die Finanzierung von Gesundheit, Vorsorge und Pflege bedarf einer gesamtheitlichen Betrachtung‹, man wolle ein ›Konzept zur langfristigen Finanzierung der Pflege‹ erarbeiten. Wie das aussehen soll, wird nicht erläutert. Und darauf, wie die Arbeitsbedingungen besser gemacht werden sollen, wie man verhindern will, dass immer weniger Leute Pfleger werden wollen, gibt die Regierung keine Antwort. Man liest nur, dass bis zum Ende der Legislaturperiode ein Modell entwickelt werden soll, das garantiert, ›dass das Geld bei den Menschen ankommt und nicht in den Strukturen versickert‹.

Seit zehn Jahren sollte das Nationale Qualitätszertifikat, kurz NQZ, Angehörigen Sicherheit geben, dass sie ihre Liebsten in einem Heim unterbringen, in dem sie menschenwürdig betreut werden. Bevor ein Heim das NQZ erhält, wird bei Hausbesuchen auch überprüft, ob die Bewohner frei und selbstbestimmt handeln können und wie gut sie betreut werden. Die NQZ-­Häuser sind ein exklusiver Kreis, aktuell haben nur 52 von rund 900 österreichischen Pflegeheimen das Zertifikat. ›Wir bestätigen die gute Arbeit in den Heimen. Aber wir gehen immer von einer Momentaufnahme aus‹, sagt Andrea Freisler-Traub von der Zertifizierungseinrichtung. Das NQZ wird vom Sozialministerium ausgestellt – ein Ministerium, das seit 2007 in SPÖ-Hand war und erst mit dem letzten Regierungswechsel zur FPÖ wanderte. Man könne das Fehlverhalten einzelner Personen leider nie ganz ausschließen, heißt es aus dem Sozialministerium. Wesentlich sei, dass offen mit Fehlern umgegangen wird und sie rasch behoben werden. Die Praxis sieht im konkreten Fall anders aus. Im Oktober 2016 wurde öffentlich, dass Bewohner des Pflegeheims Kirchstetten systematisch gequält, misshandelt und vernachlässigt wurden. Die Zertifizierung des NQZ aber wurde der Einrichtung erst vor wenigen Monaten entzogen.

Je besser das Pflegeteam, desto weniger Medikamente

Wer den Blick in der österreichischen Pflegelandschaft auf das Detail lenkt, der sieht auch Lösungsansätze. Etwa in Bad Gastein. Dort haben zwischen 2013 und 2014 Pflege­personal, Ärzte und Apotheker zusammengearbeitet, um die Medikation bei Pflegepatienten zu verbessern. Mit Erfolg: Bei 40 Prozent der 72 Patienten konnte die Zahl der Medikamente verringert werden – sieben Prozent kamen danach ganz ohne Schlaf- und Beruhigungsmittel aus. Oder in Vorarlberg. Dort macht der Psychiater Elmar Weiß­kopf seit fast einem Vierteljahrhundert in Pflegeheimen mit dem Personal Fallbesprechungen, darüber, was gut läuft und was man anders machen könnte. Daraus entwickelte sich ein flächendeckendes Projekt, in das mittlerweile 75 Prozent der Vorarlberger Heime involviert sind. In Zwei-Jahres-Programmen wird das Personal von 13 Psychiatern geschult. ›Wir reden über gerontopsychiatrische Krankheitsbilder und die richtigen Pflegemaßnahmen, damit es gar nicht so weit kommen muss, dass man die Freiheit der Bewohner beschränkt‹, sagt Weißkopf. ›Je besser ausgebildet das Pflegeteam, desto weniger Medikamente, desto weniger freiheitsbeschrän­kende Maßnahmen werden eingesetzt.‹

Nach dem Besuch bei Herrn Neumaier hat sich Schneider, der Bewohnervertreter, wieder ins Auto gesetzt. Seine Arbeit macht ihm Spaß, auch wenn er die Heime oft mit einem mulmigen Gefühl anfährt. Vor allem jene, in denen sich die Vorfälle häufen. In die fährt er öfter unangekündigt und nicht nur, wenn er eine gemeldete Beschränkung kontrolliert. Auch im Heim von Herrn Neumaier will er den nächsten Besuch nicht ankündigen. Er glaubt nicht, dass das Bettgitter von nun an unten bleiben wird. ›Nächste Woche komm ich wieder, diesmal über den Kellereingang‹, sagt er.

Mehrere Instanzen sollen sicherstellen, dass das Heim­aufenthaltsgesetz eingehalten wird: Die Volksanwaltschaft schickt für ihren Bericht zur präventiven Menschen­rechts­kontrolle, den sie dem Nationalrat und dem Bundesrat vor­legt, Kommissionen in Heime, Psychiatrien und Gefäng­nis­­zellen. Dort prüfen diese, ob die Personen unter men­schen­würdigen Bedingungen untergebracht sind. In Pflege­kreisen heißt es nur: ›Die Folterkommission kommt‹, wenn die Volksanwaltschaft sich ankündigt.

In Wien kontrolliert zusätzlich die Heimkommission der Patientenanwaltschaft den Pflege- und Betreuungsstandard von Heimen, um dem Magistrat darüber zu berichten. Als dritte Säule der Kontrolle spannt sich über ganz Österreich ein Netzwerk von Bewohnervertretern. Vier Vereine gibt es, die Alten- und Pflegeheime, aber auch Behinderteneinrichtungen und Krankenhäuser kontrollieren: das Vertretungsnetz; den Niederösterreichischen Landesverein für Sachwalterschaft und Bewohnervertretung; das Institut für Sozialdienste in Vorarlberg; die Bewohnervertretung und Sachwalterschaft Salzburg. Schneider arbeitet für einen dieser Vereine, welcher es ist, soll hier nicht zu lesen sein, weil er einer gesetzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt. Wie aus den Jahresberichten dieser Vereine hervorgeht, gab es 2016 41.472 freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Die Dunkelziffer dürfte höher ausfallen. ›In 58 Prozent der von uns besuchten Einrichtungen waren Freiheitsbeschränkungen nicht ausreichend dokumentiert‹, sagt Volksanwalt Günther Kräuter.

Egal, mit wem aus dem Kompetenzdschungel der verschiedenen Kontrollinstanzen man spricht: Was die Ursachen für den übermäßigen Einsatz von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen angeht, herrscht Einigkeit. Geld- und Personalmangel führen zu überforderten Pflegern in vollen Heimen, die aus Zeitmangel ein Medikament zu viel geben, die Leute im Lehnstuhl festbinden oder die Bettgitter hochstecken. Von einem politischen Willen, den drohenden Pflegenotstand zu bekämpfen, spürt man wenig.

›Leider stellen unsere Kommissionen immer wieder Defizite und manchmal krasse Menschenrechtsverletzungen fest‹, sagt Volksanwalt Kräuter. 46 Prozent der von der Volksanwaltschaft besuchten Heime hatten 2017 in der Nacht zu wenig diplomiertes Personal. Das korreliere mit dem Medikamenteneinsatz, sagt Kräuter. ›Wenn eine Einrichtung am Abend wenig Personal einsetzt, ist der Betreiber daran interessiert, dass die Leute im Bett liegen und schlafen‹, sagt er.

Das zweite Altersheim, das Schneider heute anfährt, ist älter als das erste. Und größer, 150 Bewohner leben in dem mehrstöckigen Bau, an dessen Fassade sich Holzfenster mit Waschbetonplatten abwechseln. Es ist das Heim, in dem Schneider später auf Frau Müller treffen wird. Schneider nimmt die Treppe im hinteren Teil des Gebäudes, um nicht an dem Zimmer vorbeizukommen, in dem Pfleger ihre Schreibarbeit erledigen und die Pausen verbringen. Der Flur erinnert an den einer Schule, Tür reiht sich an Tür, vor den Eingängen stehen Nummern und die Namen der Bewohner.

Die breiten Steintreppen zu den einzelnen Stockwerken sind am oberen Absatz mit einer hüfthohen Tür gesichert, einem Treppengitter, wie man es sonst aus den Wohnungen junger Eltern kennt. Normalerweise sind die Gitter unverschlossen, sie dienen der Sicherheit, nicht dem Einschließen. Im dritten Stock aber steckt unter der Klinke ein rot gepolsterter Holzsessel, der verhindert, dass sie einfach runtergedrückt werden kann.

Als eine Pflegerin, eine rundliche Frau mit dunklen Locken und tiefen Falten im Gesicht, Schneider jenseits des Treppengitters erblickt, lässt sie erschöpft die Schulter sinken. Sie kennt den Mann und weiß, warum er hier ist. ›Ja wissen S’, die Luise macht jetzt wieder immer die Tür auf‹, sagt sie und lässt Schneider in den Flur.  Im großen, hellen Aufenthaltsraum, in dem es nach Kaffee und Desinfektionsmittel riecht, sitzen fünf Frauen um einen Tisch, vor ihnen fünf weiße Kaffeebecher. Es ist still. Nur alle 60 Sekunden, wie eine menschliche Ku­ckucks­uhr, ruft die rundliche Frau am Stirnende leise ›Hallo‹. Neben ihr, im Rollstuhl, sitzt Frau Wecker*, eine dunkelhaarige Frau mit eingefallenem Gesicht. Dass ihre Sitznach­barin ihr die Tasse wegnimmt, kümmert sie nicht. Aus ihrem Mund kommen nur Schmatzgeräusche. ›Medikamente‹ vermutet Schneider, das Schmatzen sei eine Nebenwirkung von Risperidon, einem Neuroleptikum, das zur Behandlung von Schizophrenie eingesetzt wird. In manchen Heimen wird es ohne Diagnose eingesetzt, um Bewohner ruhig zu stellen.

Schneider hebt die blau-weiß karierte Schürze von Frau Wecker hoch, die an ihrem dünnen Körper fast bis zum Boden hängt. Die Rollstuhlbremsen sind angezogen, genauso wie bei Frau Müller drei Stockwerke unter ihr.

›Was sollen wir denn machen, wir sind nur zu zweit im Dienst‹, sagt die Pflegerin, nachdem sie die Rollstuhlbremsen gelöst hat. Die Frau neben Frau Wecker trinkt nun aus zwei Tassen gleichzeitig. Kaffee läuft über den Tisch. Frau Wecker beginnt in ihrem Rollstuhl vor- und zurückzurollen, sich an den Stuhllehnen entlangzuhanteln. ›Dann macht es Bumm und sie liegt wieder‹, sagt die Pflegerin. Ihre verzweifelte Stimme verrät, dass sie weiß, dass die angezogene Bremse und der Stuhl unter der Türklinke falsch sind, doch sie kann schlicht nicht anders.

Der Mensch ist als Rädchen im Pflegesystem nicht wegzudenken. Der Mensch kümmert sich um die Alten, er füttert sie, wäscht sie, unterhält sich mit ihnen. Erst der Mensch macht den Alltag in einem Pflegeheim menschlich. Dennoch kürzen manche Heime genau da, denn das Personal ist der teuerste Posten: 65 Prozent der Ausgaben in stationären Alters- und Pflegeeinrichtungen fließen in Löhne, Gehälter und Sozialversicherungsabgaben. Das setzt die übriggebliebenen Arbeitskräfte immer mehr unter Druck – bis die, die eigentlich helfen wollten, nicht mehr in der Lage dazu sind. Mehrere ehemalige Pfleger, mit denen DATUM gesprochen hat, standen kurz vor dem Burn-out. ›Dann wird man aggressiv, dann kommt es zu Gewalt, ohne dass man sich dessen noch bewusst ist‹, sagt Herta*, eine ehemalige Pflegekraft, die derzeit wegen eines Nervenzusammenbruchs im Krankenstand ist. Wie weit Gewalt in der Pflege gehen kann, zeigen einzelne Skandale. ›Die Gefahr für Missstände und Gewalt steigt, wenn das Personal knapp und in der Folge überfordert ist‹, so Volksanwalt Kräuter.

Um die Kosten der stationären Pflege langfristig zu stemmen, gebe es zwei Ansätze, sagt Matthias Firgo, als Öko­nom am Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo zuständig für Strukturwandel und Regionalentwicklung: ›Die eine Möglichkeit wäre die Finanzierung aus dem allgemeinen Steuertopf, die andere eine verpflichtende Pflegeversicherung für jeden einzelnen‹. Die Abschaffung des Pflegeregresses, also der Zugriff auf Vermögen, ist ein Schritt in Richtung des ersten Ansatzes. Zusätzlich müsste man Steuern erhöhen oder an anderen Posten sparen. Die verpflichtende Pflegeversicherung gibt es in Deutschland seit über zwei Jahrzehnten – aber auch dort kämpft man mit den Kosten der alternden Gesellschaft.

Die Herausforderungen, die auf das ohnehin schon strapazierte Pflegesystem zukommen, sind enorm. Eine Prognose des Wifo zeigt: Bis 2030 werden die Kosten für die stationäre Pflege real um rund 90 Prozent, bis 2050 um 375 Prozent steigen. Das liegt zum einen am demografischen Wandel hin zu einer älteren Gesellschaft – 2050 werden in Österreich über doppelt so viele über 80-Jährigen leben wie jetzt – und zum anderen an der sinkenden Bereitschaft der Jungen, sich zu Hause um sie zu kümmern.

Bereits jetzt geben Länder jährlich rund 2,5 Milliarden Euro für die stationäre Pflege aus. Etwas mehr als die Hälfte der Kosten, 56 Prozent, bekamen die Länder 2015 in der Form von Beiträgen der Betroffenen, also Pflegegeld und Pensionen, wieder zurück. Um die verbleibenden Kosten von rund 1,4 Milliarden zu stemmen, bekommen die Länder einen Zuschuss vom Bund: 472 Millionen Euro sind im heurigen Budget für den ›Aus- und Aufbau der Betreuungs- und Pflegedienstleistungen‹ vorgesehen. Das inkludiert 100 Millionen, um den Wegfall des Pflegeregresses auszugleichen – für die Länder viel zu wenig, sie fordern mindestens 500 Millionen Euro. Fast 19.000 Euro kostet ein Pflegefall im Heim pro Jahr.

Im Dienstzimmer, keine fünf Meter von Frau Müller entfernt, stehen sich Schneider und ein junger Pflegedienstleiter gegenüber. Die Wand hinter dem Mittzwanziger mit hochgegelten Haaren ist ein riesiger Medikamentenschrank. 150 schmale Fächer, darauf kleben Etiketten mit Namen wie Elfriede, Josef oder Hermann. In ihnen stapeln sich Pillen und Tropfen, in jedem fünf Packungen oder mehr. Schneider diskutiert mit dem Pflegedienstleiter, spricht die Missstände an. Der junge Pflegedienstleiter sieht aus dem Fenster. ›Nicht gut‹, sagt er und seufzt. Und nach einer Weile: ›Rechtlich wissen wir ja Bescheid, aber in der Praxis ist es schwierig.‹

Auf dem Weg raus aus dem Heim, diesmal vorbei am Pflegestützpunkt, wie immer vorbei am Desinfektionsmittel­spender, spricht Johann Schneider eine Gruppe alter Männer an. Das übliche Thema: das Wetter. Das genieße er, sagt Schneider auf dem Parkplatz: das Plaudern, die Zeit, die man den Alten schenkt. ›Eigentlich hätte ich ja doch Lust, wieder in die Pflege zu gehen‹, sagt er, als er sich zum letzten Mal für diesen Tag in seinen schwarzen Kombi setzt, ›aber dafür läuft drumherum zu viel falsch.‹ •