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Anatomie einer Pleite

Wie tausende Firmen in Österreich hat GA Actuation das vergangene Jahr nicht überlebt. Was die Geschichte des Tiroler Mittelständlers über den Zustand der österreichischen Volkswirtschaft verrät.

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Illustration:
Nicolas Stavik
DATUM Ausgabe März 2023

Die schwere graue Brandschutztür rollt zur Seite. Frank Mittendorf führt über die Schwelle in eine weitläufige Fabrikhalle, in der sich hunderte Industriemaschinen aneinanderreihen. Im Hintergrund zischen die Luftdruckgeräte. 

›Hier wird der Handbremshebel gefertigt, der im Renault Mégane landet‹, sagt Mittendorf mit dem Stolz eines Geschäftsführers. Der 54-Jährige deutet auf den Werktisch vor einer Spezialmaschine. Darauf liegen einige Werkzeuge, als wären sie gerade noch benutzt worden. Die ganze Halle scheint betriebsbereit, doch etwas Essenzielles fehlt: Nirgendwo sind Mitarbeiter zu sehen. 

An einem normalen Donnerstagnachmittag wie heute haben hier einmal 140 Menschen gearbeitet. Sie produzierten Seilzüge und Türhebel für Automobilkonzerne wie BMW oder Renault. GA Actuation war ein typischer österreichischer Zulieferbetrieb und einer der größten Arbeitgeber im Zillertal. Heute sind fast alle Mitarbeiter entlassen. Die wenigen Arbeiter, die noch letzte Produktionsaufträge ausführen, werden ihnen bald folgen. Denn GA Actuation ist pleite und muss in den kommenden Wochen den Betrieb einstellen. 

Frank Mittendorf, der durch die menschenleere Produktionshalle führt, hat das Unternehmen erst im vergangenen Oktober übernommen. GA Actuation war zu diesem Zeitpunkt bereits hochverschuldet und schrieb rote Zahlen. Anfangs glaubte Mittendorf noch an eine Zukunft für das Unternehmen. ›Irgendwann wurde aber klar, dass wir um eine Insolvenz nicht herumkommen werden›, sagt er jetzt. Es folgten fehlgeschlagene Versuche, das Unternehmen umzustrukturieren und überlebensfähig zu machen. Doch die Verluste der vergangenen Jahre wogen zu schwer. ›Wir fangen 2020 mit der Pandemie an, die Lieferketten stockten. Nach Corona kam die Ukraine-Krise und die Kosten explodierten auf allen Seiten. Diese Dinge hatten natürlich alle einen massiven Einfluss auf uns‹, sagt er. GA Actuation musste den Betrieb im Januar dieses Jahres einstellen.

Mit seinem traurigen Schicksal ist der Tiroler Industriebetrieb nicht allein. Hochinflation, Fachkräftemangel und die Nachwehen der Pandemie führen gerade zahlreiche österreichische Unternehmen in den Bankrott. Die Firmenpleiten sind in Österreich 2022 um rund 60 Prozent gestiegen: Fast 5.000 Unternehmen wurden insolvent. Und im kommenden Jahr dürften es noch mehr werden. Denn Österreichs Wirtschaft schrumpft und die Inflation ist so hoch wie seit 50 Jahren nicht. Bereits im Oktober warnte das Wifo-Institut: Österreich steuert zum ersten Mal seit den 1970er-Jahren auf eine Stagflation zu. 

Der Begriff Stagflation ist ein Kunstwort aus Stagnation und Inflation und bezeichnet das absolute Horrorszenario für Wirtschaftswissenschaftler: Die Inflation frisst den Menschen die Löhne weg, während gleichzeitig ihr Arbeitsplatz bedroht ist. Dadurch können sie weniger konsumieren und die Wirtschaft schrumpft weiter. Ein Teufelskreis. Beobachtbar war das zuletzt als Folge der Ölkrise in den 1970er-Jahren. Damals erreichte die Inflation fast zehn Prozent, und die Wirtschaftsleistung stagnierte. Die Folge waren eine Verdopplung der Staatsschuldenquote, Firmensterben und Arbeitslosigkeit.

Nach einer Phase der niedrigen Inflation und relativ konstanten Wachstums sind wir heute an einem ähnlichen Punkt wie damals. ›Stagflation ist ein starkes Wort‹, sagt Stefan Ederer, Makroökonom beim Wifo-Institut und mitverantwortlich für die Prognosen der österreichischen Wirtschaftsentwicklung. ›Aber natürlich sind wir in einer Phase der Konjunktur-Schwäche. Die Wirtschaftsleistung sinkt momentan sogar‹. Das Firmensterben ist also das Symptom einer schrumpfenden Wirtschaft. Doch wie ist es so weit ­gekommen?

Im Fall GA Actuation führt diese Frage zwei Jahre in die Vergangenheit. Die Probleme des Unternehmens begannen sich zu vervielfachen, als im Dezember 2019 in Wuhan das Corona-Virus entdeckt wurde. Die Krankheit war damals noch weit weg und der damalige Geschäftsführer kannte sie nur aus der Zeitung. Die wirtschaftlichen Folgen spürte das Unternehmen allerdings schon nach wenigen Wochen. Als Folge der chinesischen Lockdowns stauten sich in Shanghai hunderte Schiffe, die Automobilkonzerne mit Vorprodukten versorgen sollten. Dadurch fehlten wichtige Einzelteile, um europäische Autos zusammenzuschrauben. Die Produktion von Konzernen wie BMW oder Renault brach ein, es liefen weniger Autos vom Band und es wurden weniger Türhebel verarbeitet. So konnte GA Actuation immer weniger Teile verkaufen. Das Geld wurde knapp in der Firmenkassa. ›Wir sahen während der Pandemie einen drastisch schrumpfenden Bedarf unserer Kunden‹, sagt Geschäftsführer Mittendorf.

Und es kam noch schlimmer. Ab März folgten auch hierzulande Lockdowns, die bei GA Actuation die Produktion immer wieder unterbrachen. Im Jahr 2020 brach der Umsatz des Unternehmens von 21 Millionen auf 13,8 Millionen Euro ein. GA Actuation konnte plötzlich weder seine Mitarbeiter noch seine Lieferanten rechtzeitig bezahlen. Die Lieferanten stellten deshalb auf Vorkassa um. Die finanziellen Probleme gerieten außer Kontrolle. Während der beiden Pandemiejahre verließen circa 25 Mitarbeiter die Firma, manche davon frei­willig, doch die meisten wurden gekündigt. Das Unternehmen konnte sie sich schlichtweg nicht mehr leisten. 

›Das ist echt ein Todeskreislauf‹, sagt Mittendorf: ›Dann klappt ihr ohnehin schon fragiles Kartenhaus mit einem Windstoß in sich zusammen.‹  

Doch zunächst blieb das fragile Kartenhaus, das Mittendorf beschreibt, noch stehen. Der damalige Geschäftsführer konnte sein wackelndes Unternehmen dank staatlicher Corona-Hilfen noch vor dem Sturm der Pandemie schützen. Im Frühling 2020 beantragte er Umsatzersatz und Fixkostenzuschüsse. Laut Mittendorf wurden diese zwar viel zu spät ausgezahlt, spülten dann aber ein Jahr später doch das bitter benötigte Geld in die Firmenkassa. Außerdem konnte der Geschäftsführer seine Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken, wodurch der Staat einen Großteil ihrer Löhne übernahm. Am Ende erhielt GA Actuation so insgesamt 1,9 Millionen Euro an Corona-Hilfen und konnte sich dadurch noch über Wasser halten. ›Ohne Corona-Hilfen hätten wir das erste und auch das zweite Pandemiejahr definitiv nicht überlebt‹, sagt Mittendorf. 

Die massiven Investitionen der Politik retteten damals nicht nur GA Actuation das Leben. Tausende Unternehmen wären ohne Corona-Hilfen bereits während der Pandemie in den Bankrott gerutscht. Während der Jahre 2020 und 2021 waren die Firmeninsolvenzen daher auch auf einem relativ niedrigen Level. Österreich pumpte insgesamt 47 Milliarden Euro in die Wirtschaft, um sie am Laufen zu halten.

›Koste es, was es wolle!‹, war damals nicht nur die Devise des österreichischen Finanzministers Gernot Blümel. Die ganze EU nahm so bereitwillig Schulden auf wie noch nie, um ihre Unternehmen vor der Pleite zu bewahren. Ermöglicht wurde das durch die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Die hielt den Leitzins während der ersten beiden Pandemiejahre auf null. Staaten, Haushalte und Unternehmen konnten so Kredite aufnehmen, ohne darauf Zinsen zahlen zu müssen. Das machte Europa investitionsfreudig. Nicht nur aus öffentlichen, auch aus privaten Kassen floss viel Geld in die Wirtschaft und ließ die meisten Unternehmen relativ gut durch die Pandemie kommen. 

Doch die lockere Geldpolitik von damals hatte einen Haken: Sie ließ die Inflation steigen. Wenn mehr Geld vorhanden ist, ist eine Geldeinheit natürlich weniger wert. Güter werden teurer. Während der Pandemie war das kein Problem, weil das normale Wirtschaftsleben stark zurückging und dadurch die allgemeine Nachfrage sank. Inflation war noch kein Thema.

Doch dann sorgte Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 für eine Explosion der Energiepreise. In der Folge wurde das Gas in Europa plötzlich knapp. Von einer Jahrhundertpandemie geriet man in eine Krise ganz neuer Art. Weil die meisten Produkte für ihre Herstellung Energie benötigen, stiegen die Preise für nahezu alle Güter an. 

Nach den Absatzeinbrüchen der Corona-Krise war GA Actuation also mit neuen Problemen konfrontiert. Aus der knappen Firmenkassa mussten nun auch noch höhere Kosten auf allen Seiten bezahlt werden. ›Das Material wird teurer, die Energie wird teurer und dazu kommen noch steigende Löhne‹, so Mittendorf. Im November 2022 stiegen die Löhne der Mitarbeiter durch die Kollektivverhandlungen um sechs Prozent. Die damaligen Lohnerhöhungen hält Mittendorf zwar für richtig. ›Alleine für den Lebensmittelkauf brauchen die Leute natürlich mehr Geld‹, sagt er. Für das Unternehmen seien sie allerdings eine schlechte Nachricht gewesen. Denn GA Actuation konnte sich die Gehälter seiner Mitarbeiter ohnehin kaum mehr leisten. Die Inflation gab dem angeschlagenen Unternehmen damit den Rest. GA Actuation schrieb im weiteren Verlauf des Jahres Verluste in Millionenhöhe. 

Von dieser aussichtslosen Situation war der damalige Geschäftsführer ›menschlich und fachlich völlig überfordert‹, sagt Mittendorf über seinen Vorgänger. Der sei im Laufe des Jahres immer weiter abgetaucht, war für niemanden mehr erreichbar und erschien nicht mehr zu Meetings mit Kunden und Lieferanten. Die Steuerung des Unternehmens lief aus dem Ruder. Die Eigentümer der Firma versuchten das Ganze anfangs noch unter den Tisch zu kehren, so Mittendorf. Doch irgendwann wurde es ihnen zu bunt. Ende September versuchten sie, einen neuen Geschäftsführer zu finden. Vermittelt über eine Kölner Beratungsfirma übernahm Mittendorf das Unternehmen. Der Deutsche hatte bereits einige Restrukturierungen von Firmen hinter sich. Doch bei GA Actuation musste er irgendwann einsehen, dass jede Hoffnung verloren war. ›Es wurde bald klar, dass wir an einer Betriebsschließung nicht vorbeikommen‹, erinnert er sich.

Diese Einsicht ist im Laufe des vergangenen Jahres wohl vielen Geschäftsführern gekommen. Ähnlich wie Mittendorfs Kartenhaus klappten tausende Firmen im Land zusammen, weil sie die Kostensteigerungen nicht mehr tragen konnten. Anders als in den Pandemiejahren konnten sie nun auch von der Politik keine Rettung erwarten. Die EZB schraubte seit Juli 2022 den Leitzins fünfmal in die Höhe: auf aktuell drei Prozent. Damit will sie die Wirtschaft bremsen, um so der galoppierenden Inflation Einhalt zu gebieten. Dass dabei zahlreiche Firmen insolvent gehen und Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, nimmt sie in Kauf. ›Das Ziel der Leitzinserhöhung ist es unter anderem, bewusst eine milde Rezession einzuleiten‹, erklärt Arbeiterkammer-Ökonom Patrick Mokre, Experte für Krisentheorie. Das geschehe, indem Kredite teurer werden, Investitionen und Schulden sich also weniger lohnen und dadurch die Nachfrage sinkt. Im Gegensatz zur Nullzinspolitik fließt dabei sozusagen weniger Geld in die Wirtschaft. Mokre hält die Zinserhöhung daher für eine schlechte Idee: ›Das ist keine soziale Lösung der Krise‹, meint er.

Wie vielen österreichischen Unternehmen es im kommenden Jahr wie GA Actuation ergehen wird, hängt unter anderem davon ab, für welchen Kurs sich die EZB entscheidet. Die Zentralbank befindet sich heute in jenem Dilemma, das man den Zielkonflikt von Preisstabilität und niedriger Arbeitslosigkeit nennt: Entscheidet sie sich angesichts einer schwachen Wirtschaftsleistung für niedrige Leitzinsen, wird die Inflation wohl noch weiter steigen. Die Gehälter und Ersparnisse der Menschen würden so immer weiter entwertet. Erhöht die EZB hingegen die Zinsen weiterhin, rechnen Ökonomen damit, dass immer mehr Firmen im Land schließen müssen. ›Wenn die Inflation weiterhin hoch bleibt, und damit auch die Zinsen hoch bleiben müssen, kann diese Bremsung für die Wirtschaft zu einer Vollbremsung werden‹, warnt Ederer vom Wifo-Institut. Dann könnten erhöhte Finanzierungskosten vielen angeschlagenen Unternehmen im Land den Rest geben. Aktuell scheint die EZB dieses Szenario jedoch zu bevorzugen. Im März steht die nächste Leitzinserhöhung an.

Auch Geschäftsführer Mittendorf geht davon aus, dass viele Unternehmen seiner Branche das kommende Jahr nicht überleben werden. Zu groß seien die Belastungen der Inflation. Wie es für ihn nun weitergeht, steht noch nicht fest. In einer kleinen Auffanggesellschaft will er künftig eine Handvoll Mitarbeiter beschäftigen und die noch ausstehenden Aufträge von GA Actuation fertigproduzieren. ›Damit will ich so lange wie möglich weitermachen. Eine gewisse Hoffnung ist noch da, im kleineren Rahmen ein paar Kunden weiter zu bedienen‹. 

Wenn es gut läuft, könnte sich aus den Scherben von GA Actuation also ein neuer kleiner Industriebetrieb mit fünf bis zehn Angestellten entwickeln. Von Mittendorfs ehemaligen Mitarbeitern hat ungefähr die Hälfte einen neuen Job gefunden. Der Rest ist noch auf der Suche. Ob sie bald wieder einen Arbeitsplatz haben, hänge von ihrer ›Reisebereitschaft‹ ab, meint Mittendorf. Denn nach der Pleite eines der größten Arbeitgeber im Zillertal sind entsprechende Jobs nur noch außerhalb zu finden. •

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