Auf Augenhöhe
Wie der ukrainische Präsident mit seinem Volk und der Welt kommuniziert.
Ein Blick hinter die Kulissen politischer Fotografie:
Wolodymyr Selenskyj überall: in Konferenzschaltungen mit Staats- und Regierungschefs, in Pressefoyers mit Medienvertretern, in Reden an das Europäische Parlament oder den US-Kongress. Selenskyj in Sozialen Medien und auf Titelblättern internationaler Magazine wie Le Point, Vanity Fair, The New Statesman. Selenskyj in Videobotschaften an das ukrainische Volk, wenn er in einem mit Sandsäcken gesicherten Hinterhof steht. Es ist vor allem diese direkte Form der Ansprache, der Authentizität zugeschrieben wird. Selenskyj zeigt, dass er nicht verschwindet, wenn es gefährlich wird. Dass Politiker sich in Videobotschaften an Menschen wenden, ist kein neues Phänomen. In einem Kriegszustand ist es spektakulär.
Selenskyj zeigt sich trotz der akuten Bedrohungslage im Präsidentenpalast, geht mit seinem Regierungsteam in Kiew auf die Straße oder besucht verwundete Soldaten im Krankenhaus. Er gibt Lageberichte, spricht der Bevölkerung Mut zu, wirbt um die Unterstützung internationaler Partner und wendet sich auf Russisch an die angreifenden Soldaten und ihren Präsidenten Putin.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist deren Präsident medial omnipräsent. Seine Kommunikation über verschiedene Kanäle und an unterschiedliche Zielgruppen erhält internationale Aufmerksamkeit und Zustimmung. Kritische Stimmen weisen auf eine mediale Ikonisierung des Präsidenten hin. Der Krieg werde durch die Zuspitzung auf eine Heldenfigur glorifiziert und in archaischen Mythen von Männlichkeit und Opferbereitschaft erzählt. Diese Beobachtungen sind nicht falsch, aber sie erklären das Phänomen nur unzureichend.
Mit seiner Selbstdarstellung bedient der ukrainische Präsident idealtypische Vorstellungen von politischer Führung. Dazu gehört, die Notwendigkeiten des Augenblicks zu erkennen, das eigene Handeln daran auszurichten und es glaubwürdig und vertrauensbildend zu kommunizieren. Sein Kommunikationsstil ist dem des russischen Präsidenten diametral entgegengesetzt. Putins autoritäres Auftreten war in den letzten Jahrzehnten vor allem darauf konzentriert, Stärke zu projizieren – unter anderem durch die Verbreitung einschlägiger Fotos, auf denen er Kampfsport betreibt oder mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd reitet.
Selenskyj wiederum behält auch während des Krieges Repräsentationsformen bei, die für Demokratien konstitutiv sind und ihren Fortbestand sichern sollen. Das gilt vor allem für einen Kommunikationsstil, der auf Dialog setzt, anstatt Entscheidungen zu verkünden, wie es Wladimir Putin tut. Während die Settings am Schreibtisch oder im Pressefoyer weitgehend Normalität suggerieren, markiert Selenskyj mit seiner Kleidung, dass es sich um einen Ausnahmezustand handelt: Seit Beginn des Angriffskrieges ist der Präsident bei seinen zahlreichen Auftritten überwiegend in olivgrünen T-Shirts und Jacken zu sehen.
Zwar ist die Fokussierung des Kriegsgeschehens auf die beiden Präsidenten eine Vereinfachung, die auf Personalisierungstendenzen in der Politik und die Logik der medialen Aufmerksamkeit zurückzuführen ist. Dennoch bietet die direkte Gegenüberstellung eine Erkenntnis: Politikverständnis drückt sich auch im Kommunikationsstil aus. •
Info zum Bild: Screenshot einer Videobotschaft am 8. März 2022, www.instagram.com/p/Ca1p6regkYP/
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