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Auf Kur

DATUM Ausgabe Oktober 2018

An einem dieser Septembertage, in denen der Sommer 2018 auf Dauer gestellt war, hörte ich am Morgen Radio: die Sendung ›Pasticcio‹ auf Ö1. Ein genialer Moderator hatte eine Platte aufgelegt, die den Gesang eines Sizilianers ertönen ließ. Die wunderschöne Stimme des Mannes war von Härte und zugleich von Romantischem geprägt: eine Sehnsucht, wer weiß wonach, eine unstillbare Sehnsucht herrschte in seinem Gesang. Es war ein Mafia-Lied, und so hallte mein Fremdenzimmer im Kurhaus von Schärding von einem Refrain wieder, der aus zwei Worten bestand: ›OMERTÀ, OMERTÀ.‹

Das Lied berief sich auf das Schweigen, auf die Omertà, aber im Unterton hörte ich eine Verzweiflung, eine Überanstrengung heraus, mit der sich der Sizilianer die Omertà glauben machen wollte. Es kostete ja nur ein Wort, und schon käme ein Verbrechen ans Licht – ein Wort, und der, der es aussprach, durfte sich fürs Sterben bereit machen.

Dabei ist der Mensch das sprechende Tier und fürs Schweigen nicht auf der Welt.

Ein paar Tage, nachdem ich dieses Lied auf Ö1 gehört hatte, hieß es, der Papst hätte in Rom die Mafia zur Reue auf­ge­rufen. Aber er hat sie wohlweislich nicht dazu aufgerufen, ihr Schweigen zu ­brechen.

›Da gibt es‹, sage ich zur Ärztin im Kurhaus, ›ein Medikament zur Senkung des Blutdrucks, das eine seltsame Nebenwirkung hat: Du bekommst eine mindestens vier Kilo schwere Brust davon!‹ ›Hm‹, sagte die Ärztin, die naturwissenschaftlich gebildet und unsentimental pragmatisch war: ›Das könnte man ja zur Brustvergrößerung einsetzen.‹ ›Hm‹, sagte diesmal ich, ›schön wär’s, aber dann hätte man auch die anderen Nebenwirkungen am Hals.‹

Ja, alles Leben ist Chemie, und ich hätte längst schon den letzten Schnaufer getan ohne Xarelto 20 mg und Doxazosin 8 mg. Dass man die Valsartan-Mixturen als krebserregend erkannt hat, ist das Risiko des Patienten. Was will denn der, krank sein und keine Probleme mit der Therapie haben!? Sowas gibt’s in der offenen Gesellschaft nicht, und aus dem Chor der Ärzte, der Pfleger und der Pflegeassistenten erschallt der urige Ruf aus Weltkriegs­zeiten: ›Hunde, wollt ihr ewig leben!‹

Die Verblödung hat auf allen Gebieten einen schönen Platz. Die Werbetrottel kokettieren sogar mit ihr, sodass man nicht unterscheiden kann, ob sie wirklich so blöd sind oder ob sie nur so tun. Werbung ist die Kunst des Liberalismus, dessen Geist aus wichtigen, unverzichtbaren Freiheiten, aber auch aus verblödendem Konsumerismus, aus sogenannter ›Unterhaltung‹ und aus dem Bindeglied von beidem, aus der Werbung besteht. Es fällt im Werbeblock das Wort ›Erkältung‹, und man sieht einen jungen Mann, um den Hals einen Schal (der seine Erkältung bezeugt). Gleich folgt das Zauberwort, mit dem er sie loswerden wird: ›Shop-apotheke ich weg!‹, sagt der Erkrankte, der kurzen Prozess mit seinem grippalen Infekt machen wird.

Und man sieht eine mollige junge Frau. Sofort denkt man, die hat ja doch ein paar überflüssige Pfunde, und schon sagt sie es: ›Überflüssige Pfunde‹, aber sie weiß Rat: Sie shop-apothekt ihre Pfunde einfach weg. Jetzt erscheint eine schöne Dame älteren Jahrgangs. Bevor man gedacht hat, die Dame hat in ihrem Alter sicher trockene Haut, gibt sie einem recht: ›Trockene Haut‹, sagt sie, ›shop-apotheke ich weg.‹

Journalistische Artikel sind sowas Ähnliches, auch sie shoppen irgendwas weg oder sie kredenzen einem was, das einem schmecken soll. Ich gestehe, dass ich mit meinem Freund Karli sehr oft wette, worüber der Vollblutjournalist Christian Ortner das nächste Mal seine ›Quergeschrieben‹-(sic!)-Kolumne in der Presse schreiben wird. Dabei habe ich schon ein paar hundert Euro lukriert und Karli will nicht mehr mit mir wetten.

Christian Ortner beneide ich, denn er schreibt, was ich einmal im Datum schon behauptet habe, zu allem immer ein und denselben Artikel, während ich mich dabei überanstrenge, meiner Schreibpraxis wenigstens zwei Artikel abzuringen.

Ortners Einheitsartikel kommt davon, dass sein Autor nur eine Meinung hat.

Ich habe immerhin zwei, und das ist sehr unpraktisch in unserem Beruf. Auch wenn ich zwei Meinungen haben mag, über Ortner habe ich nur eine Meinung.

Ortners eine Meinung ist aber eh super, ganz einwandfrei, eine Spitzenmeinung, und sie passt im Neoliberalismus eh zu allem, was Ortner so meint, zum Beispiel dazu, dass ›Neoliberalismus‹ – historisch – ganz was anderes ist als die hundsgemeine ökonomische Strategie, die deren Feinde mit dem Terminus zu bekämpfen glauben. Super akademischer Gedanke, fast wie aus einer abgeschriebenen Dissertation, aber korrekt abgeschrieben, also immerhin ganz richtig. Und Ortner ist ein Liebender, er liebt – wie Strache den Kurz – den Kapitalismus, falls man unsere überaus komplexe Wirtschaftsordnung versimpelt so nennen will.

Das letzte Mal habe ich Karli abge­zockt, als ich darauf wettete, jetzt kommt vom Ortner ein Artikel über Chemnitz. Ich umriss den Artikel mit wenigen Worten, und schon war er am 7. September 2018 erschienen, in einer glänzenden Fassung unter dem Titel: ›Eine »Hetzjagd«, die es nicht gab, und Medien, die wieder versagen‹.

Wenn man ihn, den Ortner, so richtig ranließe, dann würde weder der Spiegel noch der Stern versagen, schon gar nicht das ZDF und die ARD, nicht einmal die FAZ, alle würden seine eine Meinung haben. So muss er vom Spiegel bis zur ARD alle ausschimpfen, erstens überhaupt und zweitens, weil solche Institutionen einen Rechthaberer aus Wien benötigen, der ihnen kursiv die Grundregeln des Journalismus vorschreibt: Check, Recheck, Doublecheck.

Für einen Meinungsjournalisten wie Ortner ist das ganz schön empirisch orientiert, das schau ich mir an, wenn er einmal seinen Doublecheck macht oder einen Recheck, aber auch ein einfacher Check würde mir genügen.

Ich sag’s ungern, womit mich Ortner mitten in meine journalistische Seele trifft: Dieser Kollege hat überhaupt nicht gecheckt, in welche Krise ›Hetzjagd‹ ja oder nein sogar die deutsche Bundesregierung bringen könnte. Er war buchstäblich ahnungslos. Kein Gespür dafür, aber eines der wichtigsten ›Narrative‹ der Rechten: Die Medien (sprich: ›die Mainstream-Medien‹) ›informieren‹ nicht, sie wollen unsere Leute eines Besseren belehren, sprich, sie ›erziehen.‹ Sogar in Österreich, das von der Kronen Zeitung regiert wird, murmeln einige im Narrativ von ›Gesinnungspolizisten‹ und davon, dass ›die Mainstream-Medien‹ der ›simplen Revolutionsrhetorik der 68er‹ huldigten.

Die deutsche Gesellschaft ist vorbildhaft gespalten, gelähmt von einer typischen Antithese: Die Rede von der ›Hetzjagd‹ wolle von einem Mord an einem Deutschen, begangen von Ausländern, ablenken, und umgekehrt: Dieses Konzept wiederum solle von dem ablenken, was in Chemnitz ›wirklich‹ passiert ist, nämlich laut Süddeutscher Zeitung: ›In Chemnitz ist ein fremdenfeindlicher Mob durch die Straßen gezogen, die Rechten haben Menschen bedroht.‹ Unter den Bedrohten waren auch Journalisten, über die man sagen darf, dass sie am eigenen Leibe erfuhren, worüber sie berichteten.

Der Journalismus parasitiert meistens von der Distanz zu den Phänomenen, die er – in Artikel oder in Fernsehbilder verpackt – an die Öffentlichkeit weiterleitet. Wie anno dazumal wird er an Orten wie Chemnitz in Ereignisse mit einbezogen, von denen das rechte Narrativ behauptet, es habe sie gar nicht gegeben. Dabei fliegt auf, dass ein Präsident des deutschen Verfassungsschutzes parteipolitisch agiert, also der AfD nicht fernsteht, während ein von der CSU entsandter Innenminister eigentlich gerne bei der AfD wäre, sie aber nicht zuletzt bekämpfen muss wegen der Wahlen in Bayern, die die CSU mit absoluter Mehrheit unbedingt gewinnen soll.

Der klassische Humor der Rechten setzt sich durch, und der Präsident des Verfassungsschutzes wird in dieser Funktion abgesetzt, aber – mit Einwilligung der SPD – fürs Erste als Staatssekretär im Innenministerium beschäftigt, wo er ein paar Tausender mehr verdient. Man hört Herrn Seehofer sich höhnisch ins Fäustchen lachen, aber dann … Und so weiter, ist das nicht Politik in Reinkultur, ein Spielfeld der ›Ohnmachthaber‹, wie Karl Kraus machtgierige Politiker nannte?

Das Wesentliche scheinen mir heute nicht die ehrenwerten Auseinandersetzungen zu sein, ob etwas gewesen ist oder nicht und, falls ja gewesen oder nein niemals gewesen, ob man es dann so nennen kann oder ob man es anders nennen muss. Das Wesentliche heute ist, dass – kaum hat man eine Sachverhaltsdarstellung zum Besten gegeben – ein anderer mit einer Gegenthese aufwartet. Muster: In Chemnitz wurden Ausländer verfolgt. Dagegen der Geheimdienstler Maaßen in der Bild-Zeitung: Nein, ›es sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt.‹

Ein als Beleg für die Jagd vorgebrachtes Video sei nicht ›authentisch‹ – es sei daher, so verstehe ich es, eine Fälschung. Später sagte Maaßen aber, er könne Deutsch, hätte er ›gefälscht‹ gemeint, hätte er ›gefälscht‹ gesagt. Ich glaube, er hat es nur deshalb nicht gesagt, damit man ihm nicht nachweisen kann, dass er für seine Behauptung keinen Beweis hat. ›Authentisch‹ ist ein Wort, das mehr verstecken als verraten kann. ›Authentisch‹ und ›nicht-authentisch‹ kann man schwer falsifizieren.

Und das ist es, worum es im Wesentlichen geht: Der Kernpunkt ist nur nebenbei die Frage, ob es eine ›Hetzjagd‹ gegeben hat oder nicht. Der Kernpunkt ist, dass sich solche Fragen nicht mehr stellen lassen (sollen), weil der Diskurs ›alternative facts‹ gleichrangig mit feststellbaren, überprüfbaren Fakten im Angebot führt.

Wunderbar an unserer Regierung ist, dass in ihr endlich die Philosophen an der Macht sind. Wenn ich mich recht erinnere, hat der studierte Philosoph Herbert Kickl am Beginn seiner Herrschaft in einem Interview mit der Kronen Zeitung selbstbezüglich an Platos witziges Theorem erinnert, die Philosophen sollten Könige sein. König Kickl hat uns schon einiges anschauen lassen, der studierte Philosoph Gernot Blümel wird es noch, vor allem dann, wenn er mit den Medienfachleuten der FPÖ den ORF ruiniert. Bis dahin hält Kollege Blümel durchaus philosophische Reden, zum Beispiel bei der Eröffnung der Bregenzer Festspiele. ›Mit dem Verweis‹, heißt es in einem Bericht darüber, ›auf die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wenn Kunst nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck gesehen werde, dann nämlich, wenn sie nur als Bestätigung dessen genutzt wird, was am System als »wahr« vorgegeben wird …‹

Ja, ich habe verstanden und steige aus dem Satz aus. Mehr in diese Richtung muss ich mir nicht sagen lassen. Ich find’s okay, da ist schon was Wahres dran, ist es doch guter Sir Popper, in dessen Sinne vom Eröffnungsredner Blümel die verwerflichen Philosophen Plato, Hegel und Marx gegeißelt werden. Würde ich, was doch undenkbar ist, mit Blümel am Stiegenaufgang zum I. Philosophischen Ins­titut hinaufwandeln, dann würde ich sicher nichts darüber sagen, dass die FPÖ sich gerne aus dem Arsenal eines dieser totalitären Regime des 20. Jahrhunderts bedient.

Aber Plato, na ja, da würde ich unbedingt ›in den Raum stellen‹, dass ich mir kaum eine Diskussion über Schönheit vorstellen kann, die nicht platonische Positionen berührt oder sich in ihnen sogar verfängt, ob nun wissentlich oder ahnungslos. Dass Kollege Blümel Marx nicht leiden kann, würde ich widerspruchslos hinnehmen, um über Hegel in die Diskussion einzusteigen: Ohne den Deutschen Idealismus, deren Hauptvertreter Hegel war, hätte der Selbstzweckgedanke nicht eine solche Karriere machen können, dass er es sogar bis hinauf zu den Bregenzer Festspielen bringt.

Wie das Schriftgelehrte in ihrem Wettstreit tun müssen, würde ich Blümel am Stiegenaufgang mit der Bitte um Berücksichtigung die spannende Stelle aus Hegels ›Ästhetik‹ vorlesen, an der Kant einfühlsam referiert wird: ›Das Schöne hingegen existiert als zweckmäßig in sich selbst, ohne dass Mittel und Zweck sich als verschiedene Seiten getrennt zeigen. Der Zweck der Glieder, z. B. des Organismus, ist die Lebendigkeit, die in den Gliedern selber als wirklich existiert; abgelöst hören sie auf, Glieder zu sein. Denn im Lebendigen sind Zweck und Materiatur des Zwecks so unmittelbar vereinigt, dass die Existenz nur insofern ist, als ihr Zweck ihr einwohnt. Von dieser Seite her betrachtet, soll das Schöne die Zweckmäßigkeit nicht als eine äußere Form an sich tragen, sondern das zweckmäßige Entsprechen des Inneren und Äußeren soll die immanente Natur des schönen Gegenstandes sein …‹

Aber längst ist auch das Hässliche, sogar das forciert Unschöne Gegenstand des künstlerischen Treibens. Ich sage nichts über Kern, nicht aus Parteilichkeit, sondern weil ich ihm gegenüber sprachlos bin. Am Tag seines Rücktritts nahm ich, ganz erschöpftes Selbst, Platz im Kurhaus-­Café. Ich muss schwer verletzt gewirkt haben, denn eine Dame sprach mich an: ›Wie geht’s Ihna denn?‹

Ich grummelte vor mich hin, möglichst unverständlich. ›Na, wie denn?‹, insistierte sie. ›Ich gehöre nicht zu den Menschen‹, erwiderte ich, und sie: ›Zu wem gehören sie nicht?‹ – ›Nein, ich gehöre nicht zu jenen Menschen‹, erwiderte ich kühn (und jetzt Relativsatz): ›die – ob Freund oder Feind – nach etwas fragen, zum Beispiel nach meinem Wohlergehen, obwohl es sie gar nicht interessiert.‹

Die Dame wischte mein Kauderwelsch vom Tisch und adressierte Folgendes an mich: ›Sie wohnen doch im zweiten Stock.‹ ›Jawohl‹, sagte ich fast einsilbig. ›Aber im zweiten Stock‹, sagte die Dame, ›war doch die Rettung da. Net für Sie?‹

Ich musste sie enttäuschen, war aber selbst enttäuscht. Die Intervention der Dame löste in mir ein ambivalentes Gefühl aus: Einerseits war ich froh, dass die Rettung nicht meinetwegen da war, andererseits war ich traurig darüber, dass ich wieder einmal die Rettung versäumt hatte.