Auf verlorenen Posten

Die Zahl der Ein-Personen-Unternehmen steigt rasant. Ein Sozialexperiment mit ungewissem Ausgang.

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Illustration:
Andrea Dalla Barba
DATUM Ausgabe Februar 2017

Eigentlich dachte Susanne M. immer, alles richtig gemacht zu haben: Studium der Elektrotechnik, postuniversitäre Weiterbildungen, um neben dem technischen Wissen auch kaufmännisch auf Vordermann zu kommen. Zwanzig Jahre arbeitete sie sich hoch, bis sie zu Beginn der Weltwirtschaftskrise 2008 fast ganz oben angekommen war: Als hochbezahlte Qualitätsmanagerin eines Industriekonzerns leitete sie ein Team von drei Leuten, ›über mir war nur noch der Vorstand‹. Heute steht auf Susanne M.s Visitenkarte nicht mehr ›Abteilungsleiterin‹, sondern ›selbstständige Unternehmensberaterin‹. Wegen Einsparungen trennte sich der Konzern von der mittleren Führungsebene, sie verlor ihren Arbeitsplatz. Eine vergleichbare Stelle fand sie nicht mehr, ›um meine Kosten zu decken, blieb mir nur der Weg in die Selbstständigkeit‹.

Susanne M. ist jetzt ein Ein-Personen-Unternehmen. Eine Firma, die keine Mitarbeiter haben darf und mit eigenen Produktionsmitteln arbeiten muss. So wie achtzig Prozent derer, die in den vergangenen Jahren in Österreich ein Unternehmen gegründet haben. Knapp 40.000 Neugründungen hat die Wirtschaftskammer 2016 gezählt, ein Plus von mehr als drei Prozent gegenüber dem Jahr davor und der fünfte Anstieg in Folge. 58,9 Prozent aller Unternehmen in der Wirtschaftskammer sind mittlerweile EPUs, ihre Zahl ist in den vergangenen fünf Jahren um 50.000 auf 290.000 gestiegen. Dazu zählen klassische Freiberufler wie Apotheker, Steuerberater und Rechtsanwälte, sofern sie nicht eine andere Rechtsform wählen und Mitarbeiter anstellen, und viele Kreative. Aber genauso gehören dazu Susanne M., der Lkw-Fahrer und die rumänische Altenpflegerin, alle mit Gewerbeschein. Und eine ständig wachsende dritte Gruppe: die Neuen Selbstständigen, die ohne Gewerbeschein auf Werkvertragsbasis und meist ohne Betriebsvermögen ihre Arbeitsleistung anbieten. Für die letzten beiden Gruppen gilt: Ihr Schritt in die Selbstständigkeit hat auch mit einem Arbeitsmarkt zu tun, der aus den Fugen geraten ist. Und mit einer Politik, die auf die Situation zögerlich reagiert: Wer der eigenen Klientel entspricht, wird bedient, alle anderen negiert.

Dennoch sind die EPUs gekommen, um zu bleiben. Sie werden sich auf das Budget niederschlagen, den Arbeitsmarkt verändern und die Rahmenbedingungen vom Sozialversicherungsrecht bis zur Insolvenzgesetzgebung herausfordern. Sie werden fragen, wie weit sich der Sozialstaat zurückdrängen lässt. Und schlussendlich die Wirtschaft mitgestalten, wenn man es positiv formuliert. Umwälzen passt aber auch.

Patrick Wolowicz sieht man diese Veränderungen nicht unbedingt an. Er nimmt einen Schluck vom White-irgendwas-Latte, seit Jahren kostet er sich durch das Angebot der Starbucks-Kette, nicht nur hier am Schottentor, sondern auch in anderen Wiener Filialen, etwa am Schwedenplatz und auf der Mariahilfer Straße. Es riecht nach Vanille und Zimt, die Besucher haben ihre Anoraks auf Bänken und am Boden gestapelt, der Raum ist laut und voll. Mit seinem schulterlangen Haar, dem dunklen Jackett und den schwarzen Lederschuhen würde Wolowicz als vieles durchgehen, als aufstrebender Theatermacher etwa oder engagierter Pädagoge. Nur den Computernerd nimmt man ihm nicht ab. Einzig, dass er samt Laptop alleine dasitzt, wo sich rundherum Menschentrauben um die Tische drängen, passt zum Klischee: Der 35-Jährige ist Programmierer. Und hat hier seinen Arbeitsplatz.

›Ich kaufe mir einen Kaffee um vier Euro, und schon habe ich mein privates Büro‹, sagt Wolowicz. ›Zum Arbeiten brauche ich einen Computer und einen Internetanschluss. Das WLAN hier ist kostenlos.‹ Im Jahr 2015 hat der Wiener gleich zwei Wettbewerbe für App-Entwickler gewonnen, seine ›Wave‹-App lotst seither Touristen und Einheimische durch Wien und greift dafür auf offene Daten der Stadt zurück. ›Heute bin ich bekannt genug, die Aufträge kommen meistens von selbst‹, sagt er. ›Mein Vorteil ist, dass es in Wien noch zu wenige App-Entwickler gibt.‹

Soloselbstständige arbeiten mehr als Unselbstständige – und verdienen weniger.

Wolowicz lebt gut von dem, was er tut. Und arbeitet dabei auf eigenes Risiko. Das bedeutet keinen Chef, keine Arbeitszeitaufzeichnung, keinen Schreibtisch. Und zugleich globale Projektmitarbeiter, globale Kunden und globalen Wettbewerb. Sein Strategiespiel ›Zen Wars‹ haben Hunderttausende auf der ganzen Welt heruntergeladen, die meisten davon in Südkorea. Alles, was er getan hat, war, sich einen Gewerbeschein für ›Dienstleistungen in der automatischen Datenverarbeitung und Informationstechnik‹ zu lösen und bei der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft anzumelden. Und er hat Erfolg damit.

Wenn die Wirtschaftskammer über EPUs schreibt, denkt sie an Leute wie Wolowicz. Für sie sind sie Ausdruck des Wandels einer von Großunternehmen geprägten Ökonomie hin zur Wissensökonomie, in der ›Kleinstunternehmen ihren Platz finden‹, ›auf die neueste Technologie zugreifen‹ und ›spezialisierte Leistungen in hoher Qualität‹ erbringen, wofür sie ›mit ihrem eigenen Namen bürgen‹. Die Kammer sieht in den Solounternehmern Pflänzchen, die bei entsprechender Pflege zu soliden Firmen heranwachsen werden. Die Regel aber sind sie nicht.

Dem Großteil geht es nicht so gut‹, sagt Gerhard Lukawetz. Der Wiener Marktforscher hat 2015 im Auftrag des Sozialministeriums zusammen mit der Agentur L & R eine österreichweite Studie zur Einkommenssituation von 190.000 EPUs geleitet, die zu anderen Ergebnissen kommt. Soloselbstständige arbeiten demnach 48,6 Stunden pro Woche und damit zehn Stunden mehr als Unselbstständige. Und sie müssen mit weniger Geld auskommen: 21.800 Euro netto im Jahr, wobei eine geringe Zahl von Spitzenverdienern den Durchschnitt noch nach oben verzerrt. ›Insgesamt sind die Mehrzahl der Einkommen im Vergleich zu ähnlich qualifizierten unselbstständig Erwerbstätigen niedrig‹, heißt es in Lukawetz’ Studie. Im Median, also ohne statistische Ausreißer nach oben und unten, beträgt das jährliche Einkommen gar nur 16.322 Euro netto. Das sind 1.360 Euro im Monat und nur rund 200 Euro mehr als die ›Armutsgefährdungsschwelle‹ für einen Ein-Personen-­Haushalt.

Vermutlich aber verdient der durchschnittliche Soloselbstständige, wenn er nicht Patrick Wolowicz heißt, überhaupt so wenig, dass er unter der Armutsgrenze liegt – weil nämlich die Studie staatliche Sozialtransfers wie das Kindergeld zu berücksichtigen versucht, auf die auch EPUs Anspruch haben und die man deshalb wieder he­rausrechnen muss. Lukawetz hat zudem nur Unternehmer ausgewertet, die einkommensteuerpflichtig waren, also dem Finanzamt mehr als 11.000 Euro Einkünfte im Jahr gemeldet haben. Alle Minderverdiener sind darin gar nicht erfasst. Dafür hat die Studie nicht zwischen Vollerwerb und Teilzeit unterschieden. Mehr als drei Viertel der EPUs jedenfalls erzielen ihr Haupteinkommen aus der Selbstständigkeit – und trotzdem geben 37,7 Prozent an, schwer mit ihrem Einkommen auszukommen.

Es sind insbesondere die Neuen Selbstständigen und Leute mit Gewerbeschein, die sich am Grund sammeln, während klassische Freiberufler wie Wirtschaftstreuhänder und Rechtsanwälte die Spitzenverdienerliste anführen. Und während sich diese in eigenen Kammern organisieren, landen die anderen wie Susanne M. und Patrick Wolowicz im institutionellen Nirgendwo – obwohl alle bis auf die Neuen Selbstständigen Pflichtmitglieder der Wirtschaftskammer sind. Denn mit dem Wachsen der EPUs wachsen auch die Zweifel, ob eine Kammer, die Arbeitgeberinteressen vertritt, der richtige Ort für Leute ist, die gar keine Arbeitgeber sein dürfen. Andererseits: Wären es Arbeiterkammer und Gewerkschaft, die für Arbeitnehmerrechte einstehen, obwohl der Soloselbstständige gar keinen Chef über sich hat? Eine ›dritte Berufsgruppe, einen Zwitter‹ nennt die Initiative Amici delle SVA deshalb die EPUs, die aus der klassischen Zweiteilung in unselbstständige und selbstständige Arbeit herausfallen. Sie sind gewissermaßen eigenverantwortliche Arbeitnehmer. Doch nicht jeder hat sich diese Verantwortung selbst ausgesucht.

Hunderte Kilometer fährt Susanne M. heute jeden Tag in Österreich umher und prüft Gütesiegel. Es war der beste Job, den sie nach ihrer Entlassung finden konnte. 99 Prozent ihres Umsatzes macht sie nun mit einem Konzern. Angestellt wird sie dort trotzdem nicht. ›Ich muss meine Familie ernähren‹, sagt sie auf die Frage, warum sie sich das antut. Die langen Fahrten zehren ebenso an ihr wie die finanziellen Einbußen. Hat sie für ihren alten Arbeitgeber fünfzig Stunden pro Woche gearbeitet, zählt sie die Zeit heute nicht mehr. Der Dauereinsatz bringt ihr ungefähr das Monatsgehalt von früher ein – aber ohne Weihnachts- und Urlaubsgeld, ohne Inflationsanpassung, ohne automatische Vorrückung, ohne Arbeitslosenversicherung. ›Es ist praktisch, Arbeit an EPUs auszulagern. Denn wenn keine Arbeit da ist, liegen sie dem Unternehmen nicht auf der Tasche, und Urlaub machen sie auch keinen‹, sagt Susanne M. Und im Krankheitsfall? ›Totalausfall.‹ Die SVA zahlt seit 2012 ab dem 43. Tag Krankengeld. Bis dahin aber können sich für das EPU, das ohnehin knapp kalkuliert, bedrohliche Einkommensausfälle angehäuft haben.

Susanne M. ist ein Lehrbeispiel für eine neue Organisationsform in der Wirtschaft: die vertikale Desintegration. Unternehmen bemühen sich um eine ›schlanke Struktur‹, was bedeutet: Auslagerung sämtlicher Tätigkeiten, die für die Unternehmensführung kein Kerngeschäft darstellen. Das kann Reinigungsfrauen genauso treffen wie Mitarbeiter mit hoher Qualifikation. Die Lücken werden dann mit Soloarbeitern wie Susanne M. gefüllt. Die Marktschwankungen und Konjunkturengpässe muss die ehemalige Angestellte nun selbst auffangen. ›Die Unternehmen entledigen sich so des Marktrisikos‹, sagt die Wirtschaftssoziologin Susanne Pernicka von der Linzer Johannes-Kepler-Universität. Ob Susanne M. dieses Tempo bis zur Pension durchhält, weiß sie nicht. Insgeheim hofft sie weiter, irgendwann wieder eine Anstellung zu finden, dort anknüpfen zu können, wo sie aufhören musste. Aber: ›Führungspositionen liegen nicht auf der Straße.‹

Peter S. hat noch einen fixen Arbeitsplatz, einen Schreibtisch mit Computer. Der Grafiker kommt jeden Tag um neun ins Büro, spricht seinen Urlaub mit dem Vorgesetzten ab und nutzt die Infrastruktur des Unternehmens: den Rechner, das Papier, das Telefon, ›ich bringe nur den Kugelschreiber selber mit‹. In der Mitarbeiterliste der Firma scheint er dennoch nicht auf. Warum auch – auch Peter S. ist selbstständig. Versichert bei der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft, die sich um Unternehmer kümmert, obwohl er als Grafiker regelmäßige Arbeitszeiten und einen Chef hat, der ihn sofort anrufen würde, wenn er eines Tages nicht an seinem Arbeitsplatz erscheint. Menschen wie Peter S. dürfte es laut Arbeitsrecht gar nicht geben. Er legt seine Honorarnoten trotzdem. Seit mehr als 15 Jahren.

In einem Wirtschaftsbereich ist das neue Arbeitsregime bereits massiv angekommen: dem Handwerk und Gewerbe – jener Sparte, die die meisten Neugründungen verzeichnet. Paketzusteller sind Beispiele einer durch den Onlinehandel neu entstandenen Branche, die überhaupt nur von selbstständigen Tagelöhnern bedient wird. Den Fleischzerleger kennt das Handwerk schon länger, aber auch diese Arbeitsplätze haben mittlerweile Soloarbeiter übernommen. Ähnliches zeigt sich auf Baustellen: Aus der angestellten Belegschaft der Baukonzerne verschwunden sind etwa der Eisenbieger, der Spachtler und der Verfuger. Sie wurden im Zuge der Wirtschaftskrise und des freien Arbeitsmarktzugangs für Personen aus den neuen EU-Ländern durch Selbstständige ersetzt – ohne dass sich die Arbeitsabläufe auf der Baustelle geändert hätten. Dort arbeiten jetzt Eisenbieger, Spachtler und Verfuger mit einem vom Magistrat ausgegebenen Gewerbeschein. Etwa für das ›Verspachteln von bereits montierten Gipskartonplatten‹ oder das ›Verschließen von Bauwerksfugen mittels plastischer und dauerelastischer Kunststoffmassen und Kunststoffprofile‹.

Und im Krankheitsfall? Totalausfall. Die SVA zahlt ab dem 43. Tag Krankengeld.

›Man lässt den ehemaligen Mitarbeiter Honorarnoten schreiben und gibt ihm ein bisschen mehr Geld‹, sagt der Steuerberater Andreas Knipp von den Amici delle SVA. ›Man hängt dem Arbeitsverhältnis ein unternehmerisches Mascherl um.‹ Am untersten Rang der Hacklernahrungskette schuftet dann die Subsubfirma am Arbeitsrecht vorbei, ehemals unselbstständige Tätigkeiten werden durch den Gewerbeschein scheinlegalisiert. Das hat auch der Verwaltungsgerichtshof festgestellt: Bei manuellen Tätigkeiten und Hilfstätigkeiten, etwa bloßen Bauhilfsarbeiten, ›die in Bezug auf die Art der Arbeitsausführung und auf die Verwertbarkeit keinen ins Gewicht fallenden Gestaltungsspielraum des Dienstnehmers erlauben, kann bei einer Integration des Beschäftigten in den Betrieb des Beschäftigers – in Ermangelung gegenläufiger Anhaltspunkte – das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses in persönlicher Abhängigkeit im Sinn des § 4 Abs. 2 ASVG ohne weitwendige Untersuchungen vorausgesetzt werden‹, erkannte das Gericht im Jahr 2011. Soll heißen: Wer in die üblichen Abläufe auf der Baustelle eingebunden ist, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit unselbstständig tätig, egal welchen Wisch er vorweisen kann. Sanktionierbar ist das Erkenntnis trotzdem kaum: Österreich hat zwar anders als viele andere EU-Länder ein Lohn- und Sozialdumpinggesetz, allerdings sind dessen Definitionen und die Datenlage zu schwammig, um konkret vorgehen zu können.

Warum aber macht es einen Unterschied, ob einer als Angestellter oder mit Gewerbeschein arbeitet? ›Spezifische Normen wie der Kollektivvertrag sollen den Arbeitnehmer schützen und dem Arbeitgeber eine besondere Fürsorgepflicht abverlangen‹, sagt die Wirtschaftssoziologin Pernicka. Das Arbeitsrecht hat also den Anspruch, das Machtgefälle zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu mildern.

Zwischen vielen Auftraggebern und EPUs taucht dieses alte Machtgefälle nun wieder auf – insbesondere dann, wenn das EPU von wenigen Auftraggebern abhängig ist wie im Fall von Susanne M. und Peter S. Außerdem verzichtet der Soloselbstständige auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, kollektivvertragliche Vereinbarungen etwa für Arbeitszeiten und Überstunden gelten nicht, Schutzmaßnahmen können leicht umgangen werden. EPUs sind zudem schlechter abgesichert: Nur wenige schließen eine teure private Arbeitslosenversicherung ab, der Zugang zu staatlicher Arbeitslosenunterstützung und Mindestsicherung wird ihnen zugleich erschwert. Dafür müssten sie im Regelfall das EPU dichtmachen – und damit die Möglichkeit aus der Hand geben, nach einer Durststrecke noch einmal Fuß zu fassen.

›Wir erleben derzeit, wie die Arbeitsverhältnisse vom Arbeitsrecht her gesehen stark erodieren‹, sagt der Schuldnerberater.

In der Wiener Peripherie, wo die Gasometer-Türme in den Simmeringer Himmel ragen und man noch Mietwohnungen um weniger als zehn Euro pro Quadratmeter finden kann, landen diejenigen, die nicht mehr weiterwissen, denen das Wasser bis zum Hals und darüber steht. An der Straßenkreuzung bietet der Würstelstand Mausi Bosna an, es nieselt. Alexander Maly hat hierher in sein Büro geladen. Inmitten von Linoleumböden, hölzernen Aktenschränken und Neonröhren waltet der Geschäftsführer der Schuldnerberatung der Stadt Wien. Der schmale Mann mit dem graumelierten Bart hat schon alles gesehen, Schuldner berät er seit den 1980er-Jahren. Kamen vor zehn Jahren noch die Botenfahrer, sind es heute die Trockenausbauer, ›die nur eine Bohrmaschine haben und alles machen‹, und viele aus dem Logistikbereich. ›Rund ein Drittel unserer Kunden sind EPUs. Die hatten wir immer. Was typisch geworden ist, sind die Scheinselbstständigen‹, sagt Maly. ›Wir erleben derzeit, wie die Arbeitsverhältnisse vom Arbeitsrecht her gesehen stark erodieren.‹ 600 Neuanmeldungen verzeichnet die Schuldnerberatung heute monatlich. Bei einem EPU-Anteil von 33 Prozent ergibt das 200 Solofirmen, die in Wien jeden Monat aufgeben müssen. Sie finden sich auch in den Statistiken wieder: Jede zweite Firmenpleite österreichweit ist ein EPU. ›Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass rund die Hälfte davon in die Selbstständigkeit gezwungen wurden‹, sagt Maly.

Beim Konkursverfahren sitzt der Solounternehmer wieder zwischen den Stühlen. Bei einer Unternehmens­insolvenz muss er den Gang zum Handelsgericht antreten, das darauf ausgerichtet ist, Pleiten mit Passiva von mehreren hundert Millionen Euro abzuwickeln. Da kostet dann der vom Gericht eingesetzte Masseverwalter im Monat mehr, als das EPU je verdient hat. Die andere Möglichkeit ist der Privatkonkurs. Weil aber Soloselbstständige mit ihrem Privatvermögen haften und bei einer Insolvenz der letzte Notgroschen meist längst aufgebraucht ist, scheitern sie oft an der Einigung auf einen Zahlungsplan mit den Gläubigern.

Besonders schwer haben es Personen, deren Schulden hauptsächlich bei der Sozialversicherung oder der Finanz liegen, da sich diese häufig gegen einen Zahlungsplan sperren. Ein gescheiterter Unternehmer mit relativ niedrigen Passiva von 40.000 bis 50.000 Euro trifft dann auf staatliche Institutionen mit bescheidenem Spielraum. ›Diesen Fall sehen wir häufig. Gerade die Sozialversicherungen vertreten aber die Meinung, dass Verbindlichkeiten nicht gestundet werden dürfen‹, sagt Franz Blantz vom Alpenländischen Kreditorenverband. Den Schuldnern bleibt dann nur das Abschöpfungsverfahren, das ihnen Schuldenfreiheit in sieben Jahren garantiert, wenn sie eine Quote von zehn Prozent erreichen – was ob der mageren Finanzmittel oft eine unüberwindliche Hürde darstellt. Schuldnerberater Maly verschränkt die Arme und seufzt, während sich per Telefon der nächste Kunde ankündigt. ›Das ist doch Bigotterie‹, sagt er. ›Einerseits kann es nicht genügend Unternehmensgründungen geben, auf der anderen Seite lässt man diejenigen, die straucheln, am Boden liegen. Man nagelt sie am Boden fest.‹

Patrick Wolowicz, Susanne M., Peter S. und die Kunden von Herrn Maly werden einander nie begegnen. Der App-Entwickler Wolowicz beweist, dass man das EPU-Dasein freiwillig wählen kann. Susanne M. beweist, dass manche das Unternehmertum wegen der Vorstellungen der Führungskräfte wählen müssen. Peter S. beweist, dass es bewusste Scheinselbstständigkeit gibt und Unternehmer das Arbeitsrecht umgehen. Die Schuldner im Wiener Außenbezirk beweisen, dass man mit alldem scheitern kann.

Aber ihr Tun kann auch bedeuten, dass allen Bürgern mehr Kosten erwachsen. Denn wenn vermehrt Menschen als Selbstständige auftreten, die früher als Angestellte beschäftigt waren oder worden wären, hat das Auswirkungen auf die Gemeinschaft – weil der Arbeitgeber nicht nur das Risiko, sondern auch die Kosten auf die EPUs abwälzt. Und damit auf den Staat. Schon zu Erwerbs­zeiten, wenn sie arbeitslos werden. Und auch später. Denn irgendwer muss am Ende deren Pension bezahlen. Und das ist der Steuerzahler.

›Die billige Arbeit kommt Firmen zugute, die die Gewinne aus den geringen Produktionskosten einstreifen‹, sagt die Ökonomin Christine Mayrhuber vom Wirtschaftsforschungsinstitut. ›Auf der anderen Seite leben jene, die eine gute Arbeit leisten, an der Armutsgrenze.‹ In einem Angestelltenverhältnis zahlen Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils gut die Hälfte der Sozialversicherungsabgaben ein, daraus speist sich die Absicherung des Angestellten bei Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit – und nach vielen Jahren die Pension. 22,8 Prozent des Bruttogehalts fließen in die Pensionsversicherung, 10,25 Prozent vom Dienstnehmer, 12,55 vom Dienstgeber. Der Soloselbstständige zahlt 18 Prozent allein an Pensionsbeiträgen an die SVA. Dazu kommen 7,65 Prozent für die Krankenversicherung auf Basis der Beitragsgrundlage, also der Einkünfte laut Einkommensteuerbescheid. Was aber passiert, wenn viele EPUs wenig Umsatz machen und in der Folge nur geringe Pensionsbeiträge abführen?

Genau das hat Mayrhuber für das Wifo untersucht. ›Wenn jemand längere Zeit nur für die Mindestbeitragsgrundlage Sozialversicherungsbeiträge bezahlt und jetzt das Einkommen des gesamten Erwerbslebens Berechnungsgrundlage für die Pension ist, zieht das eine Pensionshöhe nach sich, die unter der Ausgleichszulage liegen wird‹, sagt sie. Und holt zur Erklärung des Problems aus: EPUs seien in Österreich zwar mittlerweile pensions- und krankenpflichtversichert – Errungenschaften, die Soloselbstständige in Deutschland nicht kennen. Anders aber sieht es bei den Arbeitszeitgesetzen aus, ›wo es keine Grenze nach unten gibt, was den Wert der Arbeit von EPUs betrifft‹.

Wer in Österreich Unternehmer ist, hat also keinen Mindestlohn. Und arbeitet deshalb oft Vollzeit für Einkünfte im Teilzeitbereich. So erreicht selbst ein Drittel der einkommensteuerpflichtigen EPUs Jahreseinkünfte von weniger als 15.000 Euro – aus den Beiträgen daraus kann man kaum eine Pension bestreiten. Eine immer größere Gruppe wird deshalb in Zukunft auf Ausgleichs­zahlungen des Staates angewiesen sein und sich die Pension aufstocken lassen müssen. Die Kosten, die sich der Unternehmer mitunter spart, tauchen so Jahre später im staatlichen Budget wieder auf. ›Die soziale Absicherung wird auf die Sozialversicherungsgemeinschaft ausgelagert‹, sagt Mayrhuber. ›Das ist die Zeitbombe, die man in dieser Dimension noch nicht erkannt hat.‹

Eine steigende Altersarmut bei Solounternehmern erwartet auch Studienautor Lukawetz – und prophezeit als eine der Ursachen eine immer weiter wachsende Zahl von EPUs mit geringem Einkommen. Schon jetzt gelten 13,7 Prozent der Soloselbstständigen während des Erwerbs­lebens als armutsgefährdet, doppelt so viele wie bei den Angestellten. Besonders am Rand stehen selbstständige Hilfskräfte und Verkaufskräfte sowie Selbstständige im Gesundheitswesen – Branchen, in denen auffallend viele EPUs tätig sind. Die Schieflage wird sich auch nicht auswachsen, denn die Armutsgefährdung steigt, je jünger die Solounternehmer sind. Bei den 20- bis 29-Jährigen beträgt sie derzeit zwanzig Prozent.

Die Pensionen der Selbstständigen finanziert das Finanzministerium schon heute quer – allerdings unabhängig davon, ob der Versicherte Inhaber einer Traditionsfirma, ein ehemaliges Start-up, Scheinselbstständiger oder ein in die Selbstständigkeit Getriebener ist. 22,8 Prozent der Beitragsgrundlage beträgt der Pensionsversicherungsanteil der SVA-Pflichtversicherten, genauso wie bei den Unselbstständigen – nur dass bei denen der Arbeitgeber mitzahlt. Als Ausgleich für den fehlenden Arbeitgeber schießt der Staat den Pensionen aller Selbstständigen 4,3 Prozent aus dem Steueraufkommen zu. Das kostete die Gemeinschaft in den vergangenen Jahren rund 380 Millionen Euro pro Jahr, bis 2021 erwartet das Finanzministerium jedoch deutliche Steigerungen. Denn mehr als die Hälfte der EPU-Gründer sind höchstens vierzig Jahre alt, der staatliche Zuschuss für sie wird erst zeitverzögert fällig werden – wenn sie es überhaupt bis zum Pensionsantritt schaffen und nicht schon vorher bei der Schuldnerberatung und vor Gericht landen.

SPÖ-Kanzler Kern nennt EPUs in Anspielung auf die ›Ziegelbehm‹ vom Wienerberg die ›neuen Ziegelarbeiter‹.

Was aber sind die Lehren daraus? Susanne M. sieht vor allem die Politik in der Pflicht. Aufgrund der hohen Lohnnebenkosten würden Unternehmen mittlerweile sogar Hochqualifizierte auslagern. ›Die Arbeit kostet einfach zu viel. Auf Kapital zahle ich auch nur 25 Prozent Steuern‹, sagt sie. ›Ich bin für den Arbeitgeber einfach zu teuer geworden.‹ Die Amici delle SVA setzen sich vorrangig für eine bessere soziale Absicherung der Soloselbstständigen ein. Sie fordern Zugang zu Arbeitslosengeld und Mindestsicherung, etwa durch ein Aufstockungsmodell, in dem EPUs bei schlechter Auftragslage oder Krankheit reduziert weiterarbeiten können, um den Kundenstamm nicht zu verlieren und trotzdem finanziell über die Runden zu kommen. Auch die Wifo-Ökonomin Mayrhuber sieht vor allem bei den Einkünften Handlungsbedarf: Sie könnte sich vorstellen, dass die Mindestlöhne der einzelnen Branchenkollektivverträge auch für die EPUs gelten. Und Schuldnerberater Maly fordert drastisch kürzere Konkursverfahren, was sich auch die EU-Kommission wünscht.

Die Regierung ist in der Sache gespalten. Bundeskanzler und SPÖ-Chef Kern hat sich auf der Suche nach den verlorenen Linkswählern der Sache rhetorisch angenommen und EPUs in einem Interview mit dem Profil in Anspielung auf die ›Ziegelbehm‹ vom Wienerberg des späten 19. Jahrhunderts die ›neuen Ziegelarbeiter‹ genannt – also sozial Ausgebeutete. In seiner Plan-A-Rede kritisierte er die mangelnde soziale Absicherung der EPUs und Kleinunternehmen, weil diese nicht zu den ›Gstopften‹ gehören würden, Krankengeld aber trotzdem erst nach wochenlangem Aus­fall bekämen und zwanzig Prozent Selbst­behalt beim Arzt zahlen müssten. Das ÖVP-geführte Wirtschaftsministerium dagegen erkennt in den Soloselbstständigen weiterhin Unternehmen im Kindheitsstadium, die später Mitarbeiter aufnehmen und so dem EPU-Dasein entwachsen werden, Start­-ups als Wette auf eine erfolgreiche Zukunft sozusagen, und verweist auf entsprechende Gründermaßnahmen und Förderprogramme für Klein- und Mittelunternehmen.

Das Jobangebot revolutionieren werden die Solounternehmer dennoch nicht. Weil die meisten von ihnen EPUs bleiben wollen, rechnen Experten nur mit ›begrenzten Beschäftigungseffekten‹. Eine Entwicklung vom Soloselbstständigen zum Firmenchef über einen soliden Betrieb ›im Erwachsenenalter‹, sagt der KMU-Experte der Wirtschaftsuniversität Wien, Dietmar Rößl, sei ›jedenfalls die Ausnahme‹. Der Soloselbstständige schaffe seinen Arbeitsplatz vorrangig für sich selbst.

Patrick Wolowicz hat jedenfalls nicht vor, Mitarbeiter aufzunehmen. Die zwangsselbstständige Susanne M. und der scheinselbstständige Peter S. wie auch die mutmaßlichen Scheinselbstständigen vom Bau ebenso wenig. Sie wollen nur in einer Arbeitswelt durchkommen, die ihnen eine Anstellung verwehrt. Und das ist schwierig genug. So legt manch ein Neo-Unternehmen mit dem Grundstein zum Firmenreich auch das Fundament zur späteren Insolvenz. Die Hälfte der Soloselbstständigen erlebt derzeit den fünften Firmengeburtstag nicht.