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Aus der Geschichte lernen

DATUM Ausgabe Juli/August 2018

Der 15. März ist mein Geburtstag, nicht der 15. März 1938, sondern der 15. März 1947. Mich trifft also das treffende und zugleich fatale Wort von der ›Gnade der späten Geburt‹.

Treffend ist das Wort, weil es ein Glück war, nach all dem Wahnsinn auf die Welt zu kommen. Fatal ist das Wort, weil man selbst einen so ungeheuerlichen Zufall wie eine Geburt zur rechten Zeit nicht mit dem überirdischen Sinn einer Gnade, die naturgemäß nicht allen zuteil werden kann, ausstaffieren sollte. Erst seit 1947 auf der Welt zu sein, ist reiner, durch nichts begründbarer Zufall, mit dem man demütig leben muss, vielleicht mit dem Gedanken im Hintergrund, dass es auch den rechtzeitigen Tod gibt: Karl Kraus zum Beispiel, er starb 1936, und da hatte er schon genug gesehen, ohne es leibhaftig in seiner ganzen Wucht fühlen zu ­müssen.

Fatal ist das Wort von der Gnade der späten Geburt auch aus einem anderen Grund: Es unterstellt ohne die geringste Chance auf Verifizierung oder Falsifikation mit leicht tückischer Vagheit, man wäre, hätte man die späte Geburt nicht gehabt, anfällig für genau das gewesen, was man nachher mühelos für Wahnsinn hat halten können, und Wahnsinn ist ja ohnedies nur ein problematisches Wort für einen politischen Willen und eine massenhafte Einwilligung in eine Politik, die Millionen von Menschen das Leben gekostet hat. Mitgehangen, mitgefangen und mitschuldig, sagen einem die Gnadenlosen, wäre man gewesen, denn wer ist schon ein Held, Sie doch schon gar nicht!

Am 15. März 1938 hielt Hitler am Heldenplatz seine Machtergreifungsrede. Zu dem Gedenktagszeug, das zur Erinnerung daran in Österreich flottiert, gehören solche Texte: ›Am 15. März 1938 be­siegelte die frenetische Begeisterung der am Heldenplatz Erschienenen das Ende Österreichs, die nationalsozialistische Macht­übernahme und im Grunde den Weg in Krieg und Zerstörung. Die Jubelnden indes hofften auf bessere Zeiten und verstanden nicht oder wollten nicht verstehen, was Nationalsozialismus be­deutete.‹

Ja, den Leuten, die die Gnade der späten Geburt nicht hatten, muss man wenigstens den wohlfeilen Asset (Vorteil, Aktivposten) einräumen, dass sie auf bessere Zeiten hofften und halt nicht verstanden (oder nicht verstehen wollen konnten), was Nationalsozialismus bedeutete. Das ist sie, ›die Geschichte‹: In dem Augenblick, in dem sie sich ereignet, weiß kaum einer, was sie bedeutet, sieht man von denen ab, die gerade abgeführt und eingesperrt werden.

Dass die Leute am Heldenplatz nicht verstanden, was das Ganze soll, ist unwiderlegbar, aber eines spricht dagegen: Sie haben so großartig am 15. März 1938 mitgemacht, so perfekt mitgespielt, dass sie – wurscht ob sie’s verstanden haben oder nicht – zu einem integralen Teil dessen wurden, was sie nicht durchschauen konnten. Ohne sie hätte das ihnen Un­verständliche nie werden können, was schließ­lich einem wie mir die späte Geburt als Gnade einbrachte. Sonst wär’s ja ein schlichter biologischer Vorgang gewesen, mit dem man gar nichts früheren Geburten voraus gehabt hätte.

Ich habe keine Ahnung, wie es derzeit mit dem sogenannten ›Geschichtsbewusstsein‹ steht. Na ja, ich habe beim Kinobesuch erlebt, wie eine aufzuklärende Schulklasse johlend beim Anblick des Konzentrationslagers in ›Schindlers Liste‹ zur Tötung der Häftlinge aufrief. Um es verharmlosend zu sagen: Pädagogik als Bumerang, wenn man darunter versteht, dass man mit einer erzieherischen Maßnahme ausschließlich das ­auslöst, was man durch sie verhindern möchte.

Ich weiß es nicht, aber man darf vielleicht überhaupt behaupten, dass zum Beispiel die eingebürgerte Fernsehaufklärung über Hitler diesen auch attraktiv gehalten hat. Dagegen, gegen diese Vergegenwärtigung, ist das Nicht-Wissen unter Umständen eine humanitäre Veranlagung. Die reißerische Dramaturgie eines Guido Knopp schrammt knapp an der Propaganda vorbei, und es ist typisch für die liberale Gesellschaft und ihre Massenmedien, dass sie auch in ihrer Ge­schichtsschreibung nicht den interessierten Bürger vor sich haben, sondern den Kunden, der den Produzenten mit der Quote belohnt. Die Ästhetik der Politik und die Politik der Ästhetik, wie sie seit Walter Benjamin (und heute bei Claude Lanzmann oder Alexander Kluge) thematisiert werden, lassen die Fernsehprofessoren links liegen.

Mitgehangen, mitgefangen und mitschuldig, sagen einem die Gnadenlosen, wäre man gewesen, denn wer ist schon ein Held, Sie doch schon gar nicht!

Das simple Nicht-Wissen zeitigt aber auch ganz schöne Szenen. Seltsam, was mir eine naturwissenschaftlich-technisch tätige Persönlichkeit erzählt hat, dass sie nämlich am Gedenktag, am 15. März 2018, ihre jungen Assistenten gefragt hatte: ›Was sagt Ihnen der 15. März 1938?‹ und es war unter diesen Auserwählten im akademischen Betrieb nicht ein Mensch, dem der 15. März 1938 irgendetwas gesagt hätte.

Was willst du, könnte man mir sagen, diese Leute sind Gottseidank zukunftsorientiert. Aber ich kritisiere diese Leute ja gar nicht, ich solidarisiere mich mit ihnen. Ich kritisiere die Geschichtspolitik, die in Österreich triumphierend auftritt, als wären Staat und Gesellschaft längst von ihren Weisheiten durchflutet.

Am 15. März 2018, spät im Programm von ORF2, in Verlängerung der aktuellen Sendung ›Zeit im Bild 2‹, verlängert durch einen historisierenden Fortsatz, wurde auch der Historiker Gerhard Botz interviewt. Botz ist der Verfasser eines Standardwerks über die Stadt Wien unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, ein Werk, das jeder Wienerin und jedem Wiener in die Wiege gelegt werden sollte.

Botz, von Armin Wolf befragt, referierte im Fernsehen spezifische Eigentümlichkeiten, ›Idiosynkrasien‹, die Hitlers Machtübernahme in Österreich begleiteten. Es herrschte, so Botz, nach dem Ende der Monarchie durch den verlorenen Ersten Weltkrieg unter vielen Österreichern der Wunsch, wieder in einem großen Reich unterzukommen.

Dass es in Wien zu den sogenannten ›Reibpartien‹ kam, zu den massenhaften Demütigungen von Juden, die zum Vergnügen zuschauender Arier mit Zahnbürsten die Gehsteige reinigen mussten, das sei auch der politischen Praxis vor Hitler geschuldet: In Wien und nirgendwo sonst auf der Welt sei es notwendig gewesen, so viele Propaganda-Parolen wegzuwaschen. Es habe eine österreichische Tradition gegeben, die politischen Gegner zu zwingen, die Öffentlichkeit von den Spuren ihrer Politik reinzuwaschen.

Dazu fiel mir ein, wie in den Erziehungsanstalten, in den kommunalen und in den katholischen, noch zu meiner Lebenszeit Menschen gezwungen wurden, ihr Erbrochenes aufzuessen. Um die Mischung aus Jubel und Hass zu erklären, den die Wiener am Heldenplatz in vollen Zügen und vor aller Welt genossen, verwendet Botz, wenn auch nicht wörtlich, so doch dem Sinne nach einen Begriff aus der Ästhetik: ›Plötzlichkeit.‹ Die Ausbrüche von Hass und Jubel in ihrer wienerischen Extremform erklären sich für Botz auch daraus, dass in Deutschland die Machtübernahme nicht so eruptiv, nicht so sehr auf einmal geschah.

Historische Phänomene, die einerseits auf unkontrollierbarer ›Entladung‹ beruhen, andererseits aber durch professionelle Propaganda provoziert werden, leben aus den Kraftquellen des Spontanen ebenso wie aus denen des Konstruierten, also aus den ›fake news‹, die die Massenmedien vor allem durch ununterbrochene Wiederholung zu der Wahrheit für viele, für die meisten machen. Der Ablauf ist mechanisch, und so ist es kein Zufall, dass er heute elektronisch ins Werk gesetzt wird. Die massenhafte Be­einflussung kann ohne Teilnahme einzelner Propagandisten erfolgen, auch ein Trump hängt von den vernetzten Rechnern ab, die ihre Aufgabe ›automatisch‹ besorgen. Goebbels war einst einmalig, heute sind die Propagandisten bloß die twitternden Missing Links aus der analogen Welt.

Und noch einen Punkt erwähnt der Historiker Gerhard Botz am Gedenktag, dem 15. März 2018, im österreichischen Fernsehen. Für diese Erwähnung greift er auf Kategorien zurück, die Elias Canetti in seinem Werk ›Masse und Macht‹ entwickelt hat: Begeisterung und Feierstimmung, jubelnde Massen, ›die festliche Revolution‹, diese forciert positive Gestimmtheit, diese euphorische Ausnahmesituation, all das erzeugt oft das Umschlagen ins Gegenteil. Aus den Feiermassen werden häufig Hetzmeuten, und der Schwung, der aus diesem Umkippen herkommt, die Wucht der mit Feiern und Hetzen aufgeladenen Emotionalität, erkläre schließlich die extreme Grausamkeit, die im Hintergrund der Jubelmassen im Gang war.

Mir verhilft dieses Umkippen zu einer anderen Behauptung: So eine Ambivalenz bedeutet doch, dass die Leute, die ihren Zwiespalt verkörperten, weder im Jubeln noch im Hetzen bei sich waren. Bei sich waren sie im Schwanken. Jubeln und Hetzen, das war ihre Passion, aber weder bei dem einen noch bei dem anderen hatten sie ein gutes Gewissen als Ruhekissen. Sie hatten ein schlechtes Gewissen, das sie weder auf der einen Seite noch auf der anderen beruhigen konnten, und so lautet meine Behauptung: Diese Leute wussten, was sie taten, wofür und für wen sie eintraten, auch wenn sie keine politologischen Begriffe dafür hatten.

Mein letzter Versuch, in der Wiener Kulturpolitik Einfluss zu nehmen, galt Elias Canetti, genauer galt er der ›Gesellschaft für Masse-und Machtforschung‹, die von ihren Funktionären fluchtartig im Stich gelassen wurde.  Aber im Kulturamt herrschte freundliche Aufbruchsstimmung. Dass das Ende der Ära Mailath-Pokorny damals zumindest schon eine Option war, wurde nach außen hin heiter hingenommen. Ich wollte dezidiert nichts für mich, ein Betreiben der Masse- und Machtforschung im digitalen Zeitalter schien mir allerdings eine naturgegebene Aufgabe der Wiener Politik. Ich erreichte natürlich nichts, einen Vortrag eines Spitzenintellektuellen über Canetti, einmal jährlich bei den Wiener Vorlesungen, hätte ich herausschinden können. In der amtlichen Atmosphäre, in der es so spürbar um nichts mehr ging, setzte ich mich auch dafür nicht ein.

Da erhebe ich lieber Widerspruch, zum Beispiel gegen eine These von Gerhard Botz. Auf die ziemlich gut gestellte Frage: ›Lernen wir aus der Geschichte oder tun wir nur so?‹, antwortet er am 15. März 2018 zuversichtlich. Nach 80 Jahren, sagt der Historiker, sei ein Umdenken möglich. In der zeitlichen Distanz könne man anfangen,  die Dinge anders zu sehen als die damaligen Zeitgenossen. In der dritten Generation sei es doch leichter, zum Beispiel den ›völkischen Nationalismus‹ zu bekämpfen, der sich wiederum zeigt!

Hoffen wir’s, aber schon allein, dass ein völkischer Nationalismus sich wiederum zeigt, spricht nicht für die Lernfähigkeit. Außerdem: Dafür, dass die Leute die modernisierten Angebote des völkischen Nationalismus nicht wählen, müssten sie aus der Geschichte gar nichts lernen. Es gäbe durchaus gegenwärtige Reflexe, den völkischen Nationalismus auch in der modernisierten Variante abzulehnen. Dafür wären keine zwei Weltkriege nötig, keine Reibpartien, nicht einmal Liederbücher auf Burschenschafterbuden oder der Schrei der Masse auf dem Heldenplatz.

Gut, ich bin ja einer, dem schon Kickl genügt, mit seiner Passion für Polizei­pferde. Diese sind ja ein Sinnbild für jene Art von Obrigkeit, die gerne nach unten schlägt. HC Strache, ganz ein völkischer Rasputin, wenn er das Kreuz des Christentums seinen johlenden Anhängern hinhält, ist mir per se so schrecklich, dass mir auch seine Drei-Bier-Vergangenheit wurscht ist. Ihn jetzt zu sehen, wie er den Staatsmann mimt, der von seiner Con­tenance beherrscht wird, stimmt mich traurig. Was alles kann aus einem Rabauken werden?

Selbst eine Katastrophe kann für die Triebstruktur einer Gesellschaft gerade ein Grund dafür sein, es noch einmal zu versuchen.

Und der oberösterreichische Funktionär, der seinen gar nicht deutschnatio­nalen Namen Podgorschek durchs Leben und durch die Medien schleppt, der im deutschen Ausland verrät, was die FPÖ mit dem ORF tun wird, nämlich ihn ›neutralisieren‹ und das auch, wenn man ›uns Orbánisierung vorwirft‹, was sollte man gegen ihn ›aus der Geschichte‹ lernen müssen? Der Mann macht sich un­geschickt wichtig, wenn er im intimen Gespräch mit der AfD sagt, die Roten und die Grünen wünschten ihm die Guillotine an den Hals – er phantasiert sich vor Mikrofonen zum Opfer, das er heldenhaft im Kampf für die illiberale Demokratie zu werden gedenkt.

Das Niveau, auf dem die Frage: ›Lernen wir aus der Geschichte oder tun wir nur so?‹ zu diskutieren wäre, hat der Geschichtstheoretiker Reinhart Kosellek in einem kurzen Aufsatz festgelegt, der einen von Cicero übernommenen Titel trägt: ›Historia Magistra Vitae‹. Weit unter Koselleks Niveau kann man die Unmöglichkeit, dass große Kollektive aus der Geschichte lernen (und dazu auch noch Gutes!), davon ableiten, dass wir bei Vergangenem immer wissen, wie es ausgegangen ist. Das Spannende für Wesen, die eine Gegenwart haben, ist doch die Unmöglichkeit zu wissen, wie es ausgeht. Daher ist alles offen, auch das, was man selber tun wird. Weil einmal etwas schief gegangen ist, hört man damit nicht auf. Selbst eine Katastrophe kann für die Triebstruktur einer Gesellschaft gerade ein Grund dafür sein, es noch einmal zu versuchen.

Dass ›nach 80 Jahren‹ auch Einsicht herrschen könnte, ist ein zwiespältiges Argument: Nach 80 Jahren kann vieles verblasst sein, dessen man sich besser erinnern sollte, aber dass ›die Geschichte‹ als pädagogische Instanz die Macht hat, auch nur das Schlimmste zu verhindern, ist unwahrscheinlich. Außerdem: Wie die alte Liebe, siehe die europäischen Nationen, überlebt manchmal auch der alte Hass – in mannigfachen Kostümierungen, sodass er oft wie neu aussieht.