Aus unfreien Stücken

Wie baut man sich ein Leben in einem Land auf, aus dem man Jahre zuvor geflüchtet ist ? Die Geschichte einer › freiwilligen Rückkehr ‹ nach Afghanistan.

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Fotografie:
Emran Feroz
DATUM Ausgabe April 2021

Der Kabuler Stadtteil Shar-e Naw hat sich in den letzten Jahren verändert. Mittlerweile findet man hier neben traditionellen Läden westlich anmutende Coffeeshops, teure Steakrestaurants, die von afghanischen Influencern beworben werden, oder hippe Shishabars. Junge Frauen stolzieren stylish geschminkt durch die Straßen, während ihre männlichen Widerparts die jüngsten Modetrends aus Mailand, New York oder Dubai zu imitieren versuchen. Afghanistan ist anders geworden, so meint man. Womöglich sogar sicherer.

› Das ist alles eine Fassade ‹, meint der 27-jährige Noor ul-Hadi, der von Freunden und Familie meist Maiwand genannt wird, ein verbreiteter Rufname, dessen Ursprung ein gleichnamiger Ort in Südafghanistan ist. Er wirkt betrübt, während er im › Cupcake ‹ sitzt, einem bekannten Café, und an seinem Cappuccino nippt. Der junge Afghane schaut um einiges älter aus, als er eigentlich ist. Die letzten Jahre haben ihn sichtlich mitgenommen. Maiwand weiß, dass er sich in diesem Moment in einer Blase befindet, die mit seinem Leben und dem Alltag seiner Familie wenig bis gar nichts zu tun hat. Im › Cupcake ‹ kostet der Americano einhundert Afghani, mehr als einen Euro.

Die meisten Afghanen leben am Existenzminimum und können sich einen Kaffee zum Preis von zehn frisch ge­backenen Brotlaiben nicht leisten. Wer das Café verlässt, wird häufig von Bettlern überrannt. Das Klientel derartiger Lokali­täten ist oftmals Kabuls Elite, sprich es sind die Kinder von reichen Geschäftsmännern und Politikern, oder aber Mitarbeiter von NGOs und Journalisten. Zu diesen Menschen hat Maiwand nie gehört.

Während Maiwand in Kabul sitzt, schwelgt er in Erinnerungen an Innsbruck, die Stadt, in der er noch vor wenigen Jahren gelebt hat. Maiwand gehört zu jenen Afghanen, die abgeschoben wurden. In seinem Fall sprach man von einer › freiwilligen Rückkehr ‹, doch nachdem er mir im › Cupcake ‹ seine Geschichte erzählt hat, kann ich diese Bezeichnung nur noch skandalös finden.

Maiwands Leben in Afghanistan war von Gewalt geprägt gewesen. Im Jahr 2012 – vor seiner Flucht nach Österreich – wurde das Haus von Maiwands Familie im Dorf Kala Sheikh zum Ziel einer Razzia. Mitten in der Nacht stürmten US-Elitesoldaten gemeinsam mit afghanischen Sicherheitskräften das Wohnzimmer und schossen wild und wahllos herum. Als die Operation zu Ende war, lagen Maiwands Onkel und dessen Sohn leblos am Boden. Warum sie getötet wurden und warum das Haus von Maiwands Vater überhaupt zum Ziel wurde, konnte niemand beantworten – bis heute.

Es handelte sich um eine klassische › Anti-Terror-Operation ‹, wie sie in Af­gha­nistan seit nun fast zwei Jahrzehnten regelmäßig stattfindet. Elitesoldaten, die eng mit dem US-Militär und dem Geheimdienst CIA verstrickt sind, gehen auf Terroristenjagd, doch immer wieder sind es Zivilisten, die getötet werden. Abdul Hadi Mohmand, Maiwands Vater, pflegte keinerlei Kontakte zu den Taliban oder ähnlichen Gruppierungen. Eher war das Gegenteil der Fall. Mohmand stand der Provinzregierung in Dschalalabad nahe. › Ein Fehler ‹ – so wurde das Geschehen seitens der Behörden lapidar kommentiert.

Menschenrechtsorganisationen kri­ti­sieren das Vorgehen solcher Milizen seit Jahren. Ende 2019 veröffentlichte Human Rights Watch einen ausführ­lichen Bericht, in dem die überlebenden Opfer nächtlicher Razzien zu Wort kamen. Insgesamt wurden 14 Fälle vorgestellt, die Zivilisten das Leben gekos­tet hatten. Zwei Jahre nach dem nächtlichen Überfall brachen Gewalt und Trauer abermals über Maiwands Familie herein. Maiwands Vater wurde von bewaffneten Männern, höchstwahrscheinlich den ­Taliban, ermordet. Seine Verbindungen zur Regierung wurden ihm letztendlich zum Verhängnis. Maiwand war nun auf sich allein gestellt. Er wurde zum Haupternährer seiner Familie und musste sich um seine Mutter und seine jüngere Schwester kümmern. Dass dies auf Dauer nicht gutgehen würde, bemerkte der junge Mann schon früh. Der Krieg intensivierte sich, und die Hauptstadt wurde von politischen Krisen heimgesucht. Zeitgleich nahmen Macht und Einfluss der Taliban zu. Vor allem in den ländlichen Gebieten eskalierte die Situation.

Ende 2014, kurz nach der Ermordung seines Vaters, entschloss sich Maiwand, sein Land hinter sich zu lassen. Dank einiger Freunde fand er den Kontakt zu einem Schlepper, der ihn für 3.000 Dollar in die Türkei bringen konnte. Maiwand hatte nicht viel Geld, sondern nur das, was ihm sein Vater vermacht hatte, ein paar Tausend Dollar. Mitte Mai 2015 verließ Maiwand Afghanistan. Über den Iran kam er in die Türkei, wo ihm ein weiterer Schlepper vermittelt wurde. Dieser, so hieß es, würde ihn nach Europa bringen – für weitere 5.000 Dollar. Maiwand bezahlte und gelangte über Griechenland und die Balkanroute nach Österreich.

Das Geflüchtetenheim in der Tri­en­tl­gasse im Innsbrucker Stadtteil Reichenau ist bekannt. Seit Jahren leben hier Menschen aus den verschiedensten Kon­fliktregionen. Afghanen, Kurden, Sy­­rer, Somalier, Iraner. Die Zimmer sind eng, die Doppelbetten gewöhnungsbedürftig, doch für Maiwand ließ es sich aushalten. Er war froh, in Sicherheit zu sein. Im Vergleich zu seiner Heimatprovinz Nangarhar im Osten Afghanistans war Tirol ein Paradies. Die Berge, die Afghanen alles andere als fremd sind, faszinierten ihn dennoch. Er genoss lange Spaziergänge am Inn, Sommerabende, an denen er mit Freunden grillte, oder den Innsbrucker Winter mit dem Christkindlmarkt in der Altstadt. Manchmal besuchten ihn › seine Jungs ‹, andere Afghanen, die schon länger in Innsbruck lebten. Sie spielten Fußball und brachen im Ramadan gemeinsam das Fasten.

Innsbruck war für Maiwand eine Oase. Jeder Schritt war hier sicher. Nirgends lauerten brutale Milizen oder mordende Extremisten. Trotz der Un­sicherheit, ob ihm Asyl gewährt wird, verbrachte Maiwand ruhige, sorglose Nächte in seinem Bett. Für ihn und viele seiner Landsleute war das alles andere als selbstverständlich.

Dank seiner Englischkenntnisse begann Maiwand mit dem Dolmetschen bei Arztbesuchen. Er wollte seinen Landsleuten helfen und auch der einheimischen Mehrheitsgesellschaft sein Engagement beweisen. Das war nicht immer einfach. Ungewollt wurde Maiwand immer wieder von seinen Kriegstraumata eingeholt. Er hatte Schlafstörungen und Angstattacken. Jene Nacht, in der sein Onkel und sein Cousin getötet wurden, spielte sich immer wieder vor seinem inneren Auge ab. Polizei­kontrollen assoziierte er sofort mit den Checkpoints brutaler Sicherheitskräfte. Jeder, der Afghanistan ansatzweise kennt, kann das nachvollziehen. Ein Innsbrucker Arzt, der den Afghanen ­behandelte, stellte zwar genannte psy­chische Probleme schnell fest und verschrieb Psychopharmaka. Allerdings wurde diesem Attest von den Behörden kaum Beachtung geschenkt, wie sich später zeigte.

Später. Das war der 1. August 2018. Rund drei Jahre nach Maiwands Ankunft in Österreich flog er von Innsbruck nach Wien, wo Mitarbeiter der IOM (›Internationale Organisation für Migration‹) ihn erwarteten – mit 250 Eu­ro Bargeld und einem Rückflugticket nach Kabul. Maiwand musste zurück in das Land, aus dem er geflüchtet war. Wie war es dazu gekommen? Für Maiwand wirkte das alles wie aus dem Drehbuch eines schlechten Films – ohne Happy End. › Am Terminal wusste ich, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte. Doch es war zu spät ‹, erinnert er sich. Nachdem jegliche Asylgesuche abgelehnt worden waren, wurde er immer verzweifelter. Während andere Geflüchtete positive Rückmeldungen vom Bundesministerium erhielten und langfristig ihre Zukunft in Tirol planen konnten, sah es für Maiwand düster aus. Drei Jahre lang hatte er weder seine Mutter noch seine Schwester gesehen. Eigentlich wollte er sie nach Österreich bringen, doch nun wurde ihm klar: Seine ­eigene Zukunft ist ungewiss. Er hatte kaum noch Hoffnung, dass ihm Asyl gewährt wird. Denn während viele syrische Geflüchtete aufgenommen werden, müssen Menschen aus Afghanistan weiterhin für ihr Recht auf Asyl kämpfen und jedes Detail doppelt und dreifach beweisen. Im schlechtesten Fall, und der tritt gar nicht so selten ein, entscheidet ein Sachbearbeiter des Ministeriums willkürlich über die Zukunft eines Menschen.

In Maiwands Fall kam es noch schlimmer. Seine Mutter und Schwester waren seit Monaten nicht mehr erreichbar. › Was, wenn ihnen etwas passiert ist? ‹ dachte er. Maiwand ließ sich von einer Sachbearbeiterin beraten. Er wollte seiner Mutter wegen zurück, allerdings nur für einen Monat. Daraufhin wurde ihm empfohlen, einer sogenannten › freiwilligen Rückkehr ‹ zuzustimmen. › Anders können Sie Ihre Familie nicht sehen ‹, hieß es seitens der Beraterin. Maiwand wurden einige Dokumente vorgelegt. › Man wollte meine Unterschrift. Es geschah dann alles schnell und unter Druck ‹, beschreibt er das Prozedere. › Freiwillig ‹ war im Nachhinein nichts. Stattdessen wurde dem Geflüchteten mehrmals gesagt, dass er › eh kein Asyl bekommen würde ‹.

Kurz darauf erhielt er seinen Rückkehrbescheid. Der Vorgang wurde abgeschlossen, nachdem Maiwand von der afghanischen Botschaft in Wien ein Dokument erhielt, das die Wiedereinreise nach Afghanistan ermöglichte. Da die afghanische Regierung in Kabul von den Hilfsgeldern der EU abhängig ist, arbeitet sie in Sachen Abschiebung und ›freiwillige Rückkehr‹ eng mit den österreichischen Behörden zusammen. Sie de­­klariert deshalb unter anderem Gebiete als sicher, die das keineswegs sind. 2016 unterzeichnete die EU einen Deal mit Kabul, der Abschiebungen garantierte. Er wurde vor Kurzem erneuert.

›Korrupte Politiker bereichern sich, beschaffen sich ausländische Aufenthaltstitel und heizen hierzulande weiterhin den Krieg an, während geflüchtete Afghanen in Krieg und Chaos ab­geschoben werden‹, kommentiert Abdul Ghafoor das Geschehen. Ghafoor schaffte es einst nach Norwegen, bevor er selbst abgeschoben wurde. Nach seiner ›Rückkehr‹ gründete er eine NGO, die sich um die Belange von Abgeschobenen kümmert, AMASO (› Afghanistan Migrants Advice and Support Organi­zation ‹). In dem einstigen Ein-Mann­Betrieb sind mittlerweile vier weitere ­Afghanen beschäftigt. AMASO kümmert sich vor allem um marginalisierte Abgeschobene, die vor Ort niemanden haben. › Es gibt viele junge Männer, die hier vor dem Nichts stehen. Andere kennen ­Afghanistan gar nicht, weil sie etwa im Iran aufgewachsen sind ‹, sagt er. Die Kernbotschaft von Ghafoor und seinem Team lautet wie folgt: ›Du bist nun hier, aber das ist nicht das Ende der Welt.‹ Abgeschobenen werden Workshops und Safe Spaces, etwa in Form von günstigen WGs, angeboten.

Außerdem versucht man, finanzielle Starthilfen aufzutreiben oder Arbeitsstellen zu beschaffen. Menschen wie Maiwand, sprich ­sogenannte › freiwillige Rückkehrer ‹, ­gehören ebenfalls zu Ghafoors Klientel. Er bestätigt das, was man in diesem Kontext nicht nur von den Betroffenen hört. › Es wird Druck ausgeübt. Man wird falsch informiert. Und dann muss man plötzlich weg ‹, so Ghafoor.

Maiwand landete an einem frühen Augustmorgen des Jahres 2018 in Kabul. Als er ausstieg, konnte er Afghanistan wortwörtlich riechen – eine Mischung aus Staub, stickiger Luft und Smog. › Willkommen zurück. Kopf hoch, wir sitzen hier alle fest. Aber Heimat bleibt Heimat, oder? ‹ begrüßte ihn ein Wachmann. Das Flughafenpersonal erkennt mittlerweile junge Männer wie Maiwand, also jene, die es in Europa › nicht geschafft ‹ haben. Kurz darauf erwarteten ihn abermals zwei Mitarbeiter von IOM. › Wo willst du hin? ‹ wurde er gefragt. › Nach Dschalalabad ‹, antwortete Maiwand knapp. Einer der Mitarbeiter gab ihm 300 Afghani, etwas mehr als drei Euro. › Hier, dein Fahrtgeld ‹, sagte er. Außerdem wurde ihm angeboten, ins Spinzar Hotel, das nahe des Kabuler Basars liegt, einzuchecken. Das Hotel ­arbeitet mit IOM zusammen. Maiwand lehnte ab und nahm ein Sammeltaxi nach Dschalalabad. Während er dort nach seiner Mutter und seiner Schwester suchte, wurde seine Familie abermals von Gewalt heimgesucht.

Maiwands Heimatprovinz Nangarhar gehört zu den tödlichsten Regionen des ganzen Landes. Im März wurden drei Journalistinnen von Terroristen des › Islamischen Staats ‹ ermordet. Politische Aktivisten, Intellektuelle und Medienschaffende verlassen in diesen Tagen aufgrund der Zunahme gezielter Attentate in Massen das Land. Trotz der Friedensgespräche mit den Taliban liegt die Anzahl getöteter Zivilisten weiterhin auf einem Höchststand. Laut UN wurden 2020 mindestens 3.035 Zivilisten getötet sowie 5.785 weitere verletzt. Da die Zählung auf sehr konservativen Methoden basiert – jedes Opfer muss von drei verschiedenen Quellen bestätigt werden – ist die Dunkelziffer wahrscheinlich deutlich höher.

In der südöstlichen Provinz Paktia griffen IS-Terroristen am 4. August 2018 eine schiitische Moschee an. Dutzende von Menschen wurden getötet und ­verletzt, darunter auch Verwandte ­Mai­­­wands. Die Familie seiner Mutter stammt aus jener Provinz und gehört dort der schiitischen Minderheit an. Doch Maiwand hatte keine Zeit zu trauern. Nach zwei Wochen fand er seine ­Familie in seinem Heimatdorf. Die Taliban hatten ihnen – trotz der Proteste von Dorfältesten – die Handys abgenommen. Der Grund: Die Extremisten suchten Maiwand und wollten Druck ausüben. Maiwand wusste nicht, was die Taliban von ihm wollten. Gemeinsam mit Mutter und Schwester kehrte er nach Kabul zurück, wo sie bei einer Tante unterkamen.

Einige Monate später zog Maiwand nach Dschalalabad. Dank eines Freundes bekam er eine Stelle als Sicherheitsmann bei einem lokalen Radiosender. Sein Gehalt: Etwas mehr als einhundert Euro. Besser als nichts, doch auf Dauer zu gefährlich. Er wollte einen anderen Job und wurde bald fündig. Die NGO Wadan, die sich für Entwicklung, De­mokratie und Menschenrechte einsetzt, bot ihm eine Stelle an, ebenfalls in Dschalalabad. Anfangs war Maiwand froh, etwas › Anständiges ‹ gefunden zu haben. Das Gehalt – rund 150 Euro – war überschaubar, doch er konnte damit die Miete bezahlen und den Unterhalt seiner Familie gewährleisten.

Vor rund drei Monaten wurde Maiwand dann von Wadan ins nahege­le­gene Kama geschickt. Der Distrikt galt einst als Urlaubsort. Hier ist alles grün und das Wasser kristallklar. Bekannt ist vor allem die Eiscreme, die es hier gibt, im Afghanischen Shir Yakh genannt. Ausgerechnet hier kam Maiwand zum Schluss, dass er das Kapitel Afghanistan ein für alle Mal abschließen müsse. Denn während seiner Fahrt nach Kama wurde auf ihn geschossen. Der Wagen, ein heruntergekommener Corolla, bekam einen Platten. Maiwand selbst blieb unverletzt. Er wusste sofort, um wen es sich handelte: Seine Cousins aus seinem Heimatdorf hatten es auf das Grundstück seines getöteten Vaters abgesehen. Obendrein pflegten sie gute Verbindungen zu den Taliban und hatten das Gerücht verbreitet, Maiwand sei in Österreich zum Christentum konvertiert.

Sie waren auch jene Männer, die seiner Mutter und seiner Schwester einst die Handys abgenommen hatten und ihnen drohten. Wadan kündigte Maiwand nach dem Angriff. Seine Anwesenheit würde die anderen Mitarbeiter in Gefahr bringen, hieß es. Als Maiwand zur Polizei ging, um Anzeige zu erstatten, wurde er belächelt. › Sei froh, dass du noch lebst, Junge. Geh nach Hause ‹, sagten ihm die Beamten. An jenem Tag ging Maiwand nach Hause, doch er plante seine endgültige Flucht, gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester. Ende Februar 2021 erhielten alle drei ein Visum für Pakistan – ein Land, das Maiwand noch nie betreten hatte.

Seit vier Jahrzehnten ist Pakistan eine Anlaufstelle für afghanische Geflüchtete. Gegenwärtig verweilen weiterhin über eine Million Afghanen im Land. Viele von ihnen leben in Großstädten wie Peschawar oder Karatschi. Die Beziehung zwischen den zwei Staaten ist ­problematisch. Afghanistan wird mittels der Durand-Linie, einer kolonialen Grenze, die 1893 gezeichnet wurde, von Pakistan getrennt. Der pakistanische Nationalstaat existierte damals nicht. Die Briten wollten lediglich ihr Ter­ritorium kennzeichnen und schlossen einen Vertrag mit jenem afghanischen Emir ab, den sie selbst in Kabul installiert hatten.

Fast ein halbes Jahrhundert später wurde Pakistan geboren – und heimste jene Grenzgebiete für sich ein. Der afghanische Nationalismus war Islamabad in dieser Hinsicht stets ein Dorn im Auge. Während des Kalten Krieges unterstützte Pakistan, gemeinsam mit Saudi-Arabien, den USA und anderen westlichen Verbündeten, die Mudschaheddin-Rebellen. Viele von ihnen wurden in den Geflüchtetenlagern Peschawars rekrutiert. Pakistan nahm Millionen von Afghanen auf, doch gleichzeitig wurde der Konflikt in deren Heimat angeheizt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Den Taliban wird nämlich nicht umsonst eine besondere Nähe zum pakistanischen Sicherheitsapparat vorgeworfen. Auch Maiwand weiß, was für eine destruktive Rolle Pakistan in Afghanistan spielt.

Ihm und seiner Familie bleibt dennoch nichts anderes übrig. Ihr Hab und Gut wurde von einem Transporter bereits nach Peschawar gebracht. Ihre eigene Fahrt rückt immer näher. › Wir werden dort arm sein, doch es wird mehr Sicherheit geben als hier ‹, sagt er. Einige Verwandte in Peschawar wollen ihm helfen. Womöglich kann er in einer Fabrik arbeiten. Mit den 15.000 Rupien, rund 80 Euro, könnte er über die Runden kommen. Maiwand hofft auch auf die UN, die afghanische Geflüchtete vor Ort unterstützt. Ob Pakistan seine Endstation sein wird, weiß er nicht. Er befürchtet, dass seine Verfolger ihn selbst dort aufspüren könnten. Die Taliban und andere militante Gruppierungen unterhalten dort seit Jahren gut organisierte Informationsnetzwerke. Maiwand weiß das, doch er verdrängt diesen Gedanken.

Vorerst zumindest. › Die Menschen in Österreich und Europa wissen gar nicht, was sie haben. Man schätzt all das wohl erst, wenn man es verliert ‹, sagt er. Nachts taucht nicht mehr nur das Trauma der Ermordung seiner Familienmitglieder vor ihm auf. Maiwand träumt nun auch von den Bergen Tirols und der Innsbrucker Altstadt mit dem Goldenen Dachl. •

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