Bitte stören!

Die Klimaproteste der ›Letzten Generation‹ erzeugen Ärger und Unverständnis. Warum wir gerade deshalb auf sie und ihre Botschaften achten sollten, lehrt uns die Sozialpsychologie.

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Illustration:
Andreas Leitner
DATUM Ausgabe April 2023

Es gibt da dieses Experiment aus den frühen Sechzigern des 20. Jahrhunderts. Unter dem Vorwand, einer Fokusgruppe zum Thema ›Urbanes Leben‹ beizuwohnen, werden Personen in einen Seminarraum gebracht, um dort jeder für sich im Sesselkreis Fragebögen auszufüllen, bis die Gruppenleiterin zurückkommt. Da strömt aus einer Ecke des Raums langsam Rauch.  Ein Knistern ist zu hören, schließlich auch ein alarmierendes Piepsen. Im Mittelpunkt des Experiments steht allerdings nur ein Proband, alle anderen sind in den Versuch eingeweiht und angewiesen, den Rauch und die Geräusche geflissentlich zu ignorieren und weiter an ihren Fragebögen zu arbeiten. 

Der Umstand, dass die anderen die Gefahr nicht erkennen oder nicht reagieren wollen, führt in fast allen Fällen dazu, dass auch die eine tatsächliche Versuchsperson nichts unternimmt. Sie blickt nervös in die Runde, rutscht auf dem Sessel hin und her, beobachtet die teilnahmslosen Sitznachbarn und tut – trotz der eindeutigen Gefahrenlage – nichts. 

Bei 24 Wiederholungen des Experiments reagierten lediglich drei Probandinnen oder Probanden, indem sie irgendwann aufsprangen, die Gefahr benannten, den Raum verließen und das vermeintliche Feuer meldeten. Drei von 24, kaum mehr als zehn Prozent. Im Gegenversuch, wenn also der Proband allein im Raum war, meldeten drei Viertel das Feuer innerhalb der ersten sechs Minuten. 

Das Phänomen, das die beiden Pioniere der Sozialpsychologie John M. Darley und Bibb Latané 1968 in ihrem ›Smoke-filled-Room‹-Experiment untersuchten, nennt die Psychologie Verantwortungsdiffusion. Selbst wenn wir als Teil einer Gruppe eine Gefahrenlage eindeutig als solche erkennen, tendieren wir dazu, uns nicht zuständig zu fühlen, ganz besonders dann, wenn die Umgebung auch tatenlos bleibt. Je mehr andere Menschen um uns herum sind, desto weniger fühlen wir uns verantwortlich und desto eher bleiben wir tatenlos. Denn, auch das haben Darley und Latané nachgewiesen: Je größer die Gruppe, desto länger dauert es, bis der Proband den Rauch überhaupt bemerkt. Je mehr Menschen um einen herum, desto weniger aufmerksam ist man gegenüber dem Umfeld, desto weniger huscht der Blick durchs Zimmer, desto mehr konzentriert man sich auf den eigenen Fragebogen und blendet das Umfeld aus. Man nennt das auch den ›Bystander‹-Effekt. Je mehr Zuschauer bei einem Unfall, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass niemand hilft. 

Was sind das aber für Menschen, jene zehn Prozent, die sich von der Tatenlosigkeit ihres Umfelds nicht anstecken lassen? Die aufstehen, die Gefahr ansprechen, das Umfeld konfrontieren, lästig und laut werden und schließlich – nachdem sich niemand mitreißen lässt – kopfschüttelnd den Raum verlassen, um das Feuer zu melden und sich selbst in Sicherheit zu bringen? Und was können wir von ihnen lernen?

Es brennt

Anders als in dem beschriebenen Experiment ist die Gefahrenlage in unserer heutigen Welt längst Realität – unzweifelhaft und nicht mehr zu ignorieren. Die Erderhitzung hat bereits heute ein Ausmaß angenommen, das Extremwetterereignisse, wie Trockenheit und Überschwemmungen, mit einer vielfach höheren Wahrscheinlichkeit vorkommen lässt und bei einem weiteren ungebremsten Voranschreiten weite Teile der menschlichen Zivilisation in Gefahr bringt. Nicht erst in hundert Jahren, sondern in den kommenden, in wenigen Jahrzehnten. Es gibt keinen Zweifel mehr, es dürfte längst keinen mehr geben. Die Wissenschaft ist sich einig. In seinem jüngsten Bericht spricht der Weltklimarat von einem ›sich rapide schließenden Zeitfenster, um die Lebensgrundlage für alle Menschen zu sichern‹. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, warnte im Herbst des vergangenen Jahres: ›Die Klimakrise bringt uns um!‹ Und auch der Papst schlägt Alarm. In seiner Enzyklika ›Laudato si’‹ widmete sich Franziskus bereits 2015 schwerpunktmäßig und in seiner Wortwahl unmissverständlich dem Klimaschutz. 

All diese dringenden Appelle höchster Instanzen – von wissenschaftlicher, politischer oder religiöser Seite –, die jede Wortmeldung sorgsam abwägen, verhallen seit Jahren. Sie verlangen radikale Schritte. Doch kaum jemand fühlt sich verantwortlich, wir sind eben nur ›Bystander‹ – Zuschauer und Zuschauerinnen, von denen zweifellos viele ein wachsendes Unbehagen oder inzwischen größte Sorge um die Lebensgrundlagen der nächsten Generationen spüren. Aber weil alle um uns so ruhig und ungestört weitermachen wie bisher, tun wir das auch. Diese Verantwortungsdiffusion gibt es auch unter Staaten. Wieso sollen wir uns in Industrie, Verkehr oder allen möglichen komfortablen Gewohnheiten radikal und mühevoll verändern, wenn andere Länder oder gar Emissions-Giganten wie China auch nichts oder viel zu wenig unternehmen? 

Radikale Reaktion

Und da sind wir nun, im Dürre-Frühling 2023. Aktivisten und Aktivistinnen, die der viel zu unentschlossen agierenden Phalanx aus Politik und Wirtschaft den Marsch blasen, werden von weiten Teilen der Politik und der Medien als gefährlich-radikale Störenfriede abgekanzelt, ja mitunter sogar als Terroristen – weil sie Staus verursachen. Eigene Straftatbestände sollen erlassen werden, um ihrem Treiben Einhalt zu gebieten. Der Tenor ist klar: Der Frühverkehr ist uns heilig. Demonstrieren: Okay, aber bitte nicht stören, sonst droht das Gefängnis. Die Radikalität dieser Reaktion ist vielsagend. Klimapolitische Maßnahmen, selbst die einfachsten und billigsten, wie etwa Tempobeschränkungen im Autoverkehr, die ohne viel Aufwand zu einer substanziellen Reduktion der Emissionen führen, werden als gefährlicher Angriff auf die Freiheit bekämpft. Als ob es ein Menschenrecht auf Tempo 130 gebe. 

In der mitunter hysterischen Abwehrhaltung gegen notwendige Klimaschutz-Maßnahmen tritt eine Vorstellung von Freiheit zutage, die rat- und mutlos machen kann. Die individuelle Freiheit steht als Allerheiligstes über allem, über allen anderen und folgerichtig auch über den Lebensgrundlagen nachfolgender Generationen. Die Verfechter dieses rücksichtslosen Freiheitsbegriffs haben viele Gesichter und Ausprägungen und bei Weitem nicht nur den Klimaschutz im Visier: Es sind konservative Politiker, reaktionäre, sich aber liberal gebende Medienmacher und rechtspopulistische Verführer. Sie alle wettern gegen ›Verbotskultur‹ und ›Klimahysterie‹ und bedienen gemeinsam eine emotionale Gemengelage aus Trotz, Ignoranz und einer guten Portion Nostalgie. Dabei sind längst sie es, die hysterisch und radikal sind. Aber auf dieser Gefühlswelle zu reiten, ist ihr Geschäft geworden, und ein gutes noch dazu. 

Über den Doppel-Auspuffrohren aufgemotzter Karossen sieht man in den Wiener Außenbezirken immer öfter einen Sticker mit der Aufschrift: ›Fuck Greta‹. Es ist dies der gleiche kindliche Trotz, die gleiche zur Schau gestellte Ignoranz und die gleiche Nostalgie – die Sehnsucht nach einer Welt, in der ein PS-starkes Auto noch verlässliches Sinnbild der individuellen Freiheit war und das Status-Symbol schlechthin. Es ist der gleiche verquere Freiheitsbegriff, die gleiche Rücksichtslosigkeit.

Der Lähmung entrissen

Zurück in den verqualmten Seminarraum. Was lernen wir aus diesem Experiment? Wie reagieren wir auf Menschen, die sich der Verantwortungsdiffusion entgegenstellen, die plötzlich laut und lästig sind, vielleicht unbeholfen und radikal wirken, Angst verbreiten oder in der Aufregung auch einmal gefährlichen Blödsinn anstellen? Was tun wir mit Menschen, die uns beim Verdrängen des Offensichtlichen stören? Versetzen Sie sich ruhig in die Lage: Sie sitzen in diesem Seminarraum, haben schon seit einiger Zeit ein Unbehagen, was diesen Rauch und das laute Piepsen des Feueralarms angeht. Sie riechen förmlich, dass da etwas nicht stimmt. Aber sie haben sich bisher nicht gerührt, die anderen ja auch nicht. Und plötzlich steht jemand auf und sagt: ›Es brennt! Wir müssen etwas tun.‹ Werden Sie darauf einsteigen, wird es Sie aus Ihrer Lähmung reißen? Oder werden Sie betreten zur Seite blicken, sich ärgern über diesen lauten Wichtigtuer und die Art und Weise, wie er seine Warnung artikuliert, einer Stilkritik unterziehen? Vermutlich nicht. Wahrscheinlicher ist doch hoffentlich, dass Sie diese Intervention als bestätigenden Impuls dafür nehmen, dass Gefahr im Verzug ist. Und sie werden selbst ins Tun kommen: Aufstehen, den Raum verlassen und den Brand melden. 

Ohne die konkreten Maßnahmen der Aktivistinnen und Aktivisten der ›Letzten Generation‹, ihre Argumente oder ihre Intensität samt und sonders gut zu heißen, können wir die Proteste als das sehen, was sie zweifelsfrei sind: Ein unmissverständliches Signal dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass Gefahr in Verzug ist. Etwas, bei dem wir uns nicht aus der eigenen Verantwortung stehlen dürfen, bei dem wir endlich selbst ins Tun kommen können. 

Was aber heißt dieses ›ins Tun kommen‹ angesichts der in ihrer Komplexität und existenziellen Gefahr schier unbegreiflichen Herausforderung namens Klimakrise?  Was es auf jeden Fall nicht bedeutet, ist, sich dem illusorischen Anspruch hinzugeben, in unserer heutigen Welt lasse sich ein perfektes, nachhaltiges, emissionsfreies Konsumleben verwirklichen. Das kann und wird keinem von uns gelingen. Umso billiger und lächerlicher ist es, wenn sich die Kritiker des Klimaaktivismus mit listigem Hohn darüber echauffieren, dass auch so manche Klimakleber ein iPhone besäßen, Fleisch äßen oder mit dem Auto unterwegs seien. Wir sollten dringend damit aufhören, von Menschen, die Klimaschutzmaßnahmen propagieren und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lautstark in die Pflicht nehmen, zu verlangen, sie selbst müssten makellos sein. 

Es bedeutet auch nicht, sich den Verlockungen der so­genannten ›Ökomodernisten‹ hinzugeben, wie es zuletzt wieder Bundeskanzler Karl Nehammer getan hat. Sie propagieren, dass künftige Technologien alle Probleme lösen würden, weshalb heute keine drastischen Schritte notwendig wären. Eine wohltuende Vorstellung, doch nicht mehr als eine gefährliche Ablenkung.

Was ›ins Tun kommen‹ hingegen sehr wohl bedeuten kann: Die eigenen gelernten Verhaltensmuster, ob in Verkehr, Ernährung oder Konsum, zu hinterfragen, vor allem sie nicht zum sakrosankten Merkmal der eigenen persönlichen Freiheit zu stilisieren. Neugierig auf Veränderungen zu sein, aufmerksam zu sein, Verantwortung zu spüren und Politiker abzuwählen, die wissenschaftlichen Konsens und völkerrechtlich bindende Verträge ignorieren oder konterkarieren – und lieber Milliarden an Strafzahlungen in Kauf nehmen als niedrigere Umfragewerte. Das alles geht aber nur, wenn wir uns zuerst einmal auf die Störungen einlassen. Sie sollen uns das Verdrängen schwer machen, also bitte: Lassen wir uns stören. •

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