Wilde Westen

Seit einem Jahr kleben sich die Klimaaktivisten der ›Letzten Generation‹ auf Österreichs Straßen. Wer sind die Menschen, die ihr Leben dem Protest verschreiben? Wer führt sie an, wer finanziert sie? Eine Spurensuche im innersten Kreis der Bewegung.

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Fotografie:
Gianmaria Gava
DATUM Ausgabe April 2023

An diesem Montagmorgen Mitte März ist Martha Krumpeck Königsbiene. So nennen ihre Mitstreiter die Leiterin einer Klebeaktion. Mit ihren 1 Meter 86 ist sie nicht nur passenderweise die Größte, sondern auch die Wichtigste am Bahnsteig der Station Pilgramgasse. Sie führt die bevorstehende Aktion an. Die übrigen sieben Bienen, wie die ›Letzte Generation‹ ihre klebenden Mitglieder im zivilen Widerstand nennt, stehen nervös um sie herum, bis Krumpeck ruft: ›Bienen, los geht’s.‹ 

Eine halbe Stunde und eine Busfahrt später läuft Krumpeck als erste auf die Straße am Getreidemarkt. Ein Autofahrer versucht noch über den Fahrradweg auszuweichen. Er kommt nicht durch, muss sein Auto anhalten. Ein Herr in Hemd und Anzughose steigt aus. Er versucht, Krumpeck von der Straße zu zerren. Sie lässt ihre langen, dünnen Arme locker und wehrt sich nicht – krabbelt danach aber schnell wieder zurück auf die Spur und klebt sich mit drei Tuben Sekundenkleber an die Fahrbahn. Zwei Installateure, die gerade am Weg in die Arbeit waren, filmen die Szene, während sie die Aktivisten niederbrüllen. Dazwischen hupen Autofahrer, Polizeisirenen ertönen. Der Verkehr steht. 

Seit einem Jahr blockieren Aktivisten der Letzten Generation Österreichs Straßen. Die Mitglieder der Gruppierung eint die Überzeugung, dass Demonstrationen wie die von ›Fridays for Future‹ nicht genug sind, weil sie das alleinige Ziel nicht erreichen: eine radikale, nachhaltige Kehrtwende in der Klimapolitik, ein sofortiges Aus fossiler Brennstoffe. Viele der Aktivisten stellen ihr gesamtes Leben und all ihre Zeit in den Dienst dieser Sache. Über sie ist nach wie vor sehr wenig bekannt: Wer organisiert Österreichs ›Letzte Generation‹? Wer finanziert sie? Und vor allem: Wie weit ist sie bereit zu gehen?    

Im Zentrum der ›Letzten Generation‹ steht die 31-jährige Martha Krumpeck. Sie war in den vergangenen Monaten wegen dutzender Verwaltungsstrafen kurzzeitig im Polizeianhaltezentrum, eine Zeit lang sogar im Gefängnis. Darauf ist die Aktivistin stolz. ›Jedes Mal, wenn ich mich auf die Straße setze, bekomme ich die Höchststrafe‹, sagt sie, ›man versucht den Rechtsrahmen voll auszuschöpfen.‹ Sie sieht ihre Gegner – Behörden, Politik und Wirtschaft – im Eck. ›Wir haben sie so weit strapaziert, dass sie bei den Hartnäckigen kein Mittel mehr zur Abschreckung haben.‹ 

Martha Krumpeck (ist Galionsfigur und Vordenkerin der ›Letzten Generation‹)

Am Morgen nach der Aktion am Getreidemarkt sitzt die Molekularbiologin vor einem im Zehn-Sekunden-Takt vibrierenden Telefon und erzählt über die Anfänge der Organisation, die die Klimabewegung nach den schwierigen Corona-Jahren zurück in die Schlagzeilen gebracht hat. Es habe alles mit einer herben Enttäuschung begonnen, sagt sie. Ein halbes Jahr lang hatte ein Bündnis verschiedener Klimaschutzorganisationen und Aktivisten – darunter auch Krumpeck und einige ihrer späteren Mitstreiter – den Bau der Lobau-Autobahn 2021 aufgehalten. Sie hatten Holzgebäude, darunter auch eine heute ikonische Pyramide, auf dem ›die Wüste‹ genannten Baustellengrund errichtet und ihre Besetzung den Winter hindurch aufrechterhalten. Unter dem Motto ›Lobau bleibt‹ und gegen den Druck des Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig wollten sie die Stadtstraße stoppen.

Doch innerhalb des Klimaschutz-Bündnisses bildeten sich bald Lager – eines davon angeführt von Martha Krumpeck. Während die meisten Aktivisten Entscheidungen des Plenums der Klimaschutzorganisationen ernst nahmen, stellte sich Krumpeck über diese. ›In der linken Szene sind Plenumsbeschlüsse wie in konservativen Kreisen das Kreuz in der Kirche: Daran wird nicht gerüttelt‹, sagt einer, der Krumpeck gegenüberstand und sich noch gut an damals erinnert. Das Plenum wollte nur öffentlich mit dem Bürgermeister sprechen und lehnte das Angebot der Stadt ab, im Hintergrund mit Vertretern zu verhandeln. Krumpeck traf sich trotzdem mit der Stadt Wien. Bis heute nehmen ihr das ehemalige Mitstreiter übel. 

 Doch Krumpecks Aktivismus begann bereits abseits der Klimabewegung. Nach einer schweren Depression während ihrer Studienzeit saß sie in einem Verein, der sich für die Rechte von Transpersonen einsetzt. Im Internet findet man noch einen alten Vortrag aus dieser Zeit. Im Vereinsvorstand sitzt sie heute nicht mehr – auch um zu verhindern, dass der Hass, den sie heute erfährt, auf die Organisation durchschlägt. Krumpeck hat über die Jahre ihr Engagement vollkommen der Klimarettung verschrieben. Es sei aktuell das drängendere Problem, sagt sie. 65.000 Euro, die sie vor einigen Jahren bei der Servus-TV-Sendung ›Quizjagd‹ gewonnen hat, halfen ihr schon früh und vor der ›Letzten Generation‹, sich vollkommen auf ihren Protest zu konzentrieren. 

Die Aktivistin schrieb beim ersten Bundesplenum von ›Fridays for Future‹ an deren Grundsätzen mit – später, beim zweiten Bundesplenum, stimmte sie als einzige gegen eine Grundsatzänderung. Bei ›Extinction Rebellion‹, wo Krumpeck wie viele andere Aktivisten der ›Letzten Generation‹ ebenfalls Mitglied war, versuchte sie kurz vor einer Aktionswoche in Wien, andere Mitglieder zu motivieren, mit ihr nach Berlin zu fahren. Dort würden die größeren Proteste stattfinden. Ein ehemaliger Aktivist, mittlerweile nicht mehr bei der Organisation engagiert, dachte, er höre nicht richtig. 

 Heute bezeichnet sich Krumpeck als ›die Kassandra der Klimabewegung‹. Der griechische Gott Apollo soll Kassandra die Gabe der Weissagung verliehen haben. Als sie jedoch seine Verführungsversuche zurückwies, verfluchte er sie, auf dass niemand mehr ihren Worten Glauben schenke. Ob Krumpecks Alleingang, mit der SPÖ über die Stadtstraße zu sprechen, damals entscheidend war oder nicht: Am 1. Februar 2022 räumte die Stadt Wien unerwartet das Protestcamp und löste die Besetzung unter massivem Polizeieinsatz auf.

Moritz Kramer (vernetzt die Bewegung nach innen und außen)

Zu diesem Zeitpunkt hatte Martha Krumpeck längst andere Pläne. Noch während der Lobau-Besetzung fuhr sie nach Deutschland und traf dort Henning Jeschke. Das Gründungsmitglied der ›Letzten Generation‹ im Nachbarland hielt 2021 einen 27-tägigen Hungerstreik ab, bis der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz mit ihm sprach. Krumpeck reiste auch nach England, wo sie unter anderem den ›Extinction-Rebellion‹-Mitgründer Roger Hallam kennenlernte. Eine Woche nach der Lobau-Räumung, am 8. Februar, klebten dann die ersten Hände auf Wiens Straßen. ›Ludwig hat die Letzte Generation mit der Lobau-Räumung klar mitprovoziert‹, sagt ein damaliges Gründungsmitglied dazu.

Was einst eine Handvoll Aktivisten ins Leben gerufen hatten, ist zu einer Organisation aus mehr als einem Dutzend Arbeitsgruppen gewachsen. Die ›Letzte Generation‹ hat einen Steuerberater, Anwälte, die sich um Verwaltungsstrafen kümmern, und finanziert sich in erster Linie über private Spender. Über die Plattform ›Open Collective‹ hat die Bewegung Stand Ende März über 67.000 Euro erhalten, darunter auch eine anonyme Großspende von 10.000 Euro. Knapp 26.000 Euro des Budgets hat die Bewegung mittlerweile ausgegeben, den Großteil davon für Flyer, Zugfahrten, Miete, Warnwesten – und Sekundenkleber.

Die Bewegung ist Mitglied des A22-Netzwerks, ein internationaler Zusammenschluss von zivilen Widerstandsprojekten, die sich dem Klimaschutz verschrieben haben. Darunter auch ›Just Stop Oil‹ in Großbritannien und die ›Letzte Generation Deutschland‹. Die meisten der Organisationen bekommen Geld aus dem Climate Emergency Fund. Der in Kalifornien ansässige Fonds ›unterstützt mutige Aktivistinnen und Aktivisten, die die Öffentlichkeit für den Klimanotstand aufwecken‹, wie auf deren Seite geschrieben steht. Das Geld stammt überwiegend von privaten Spendern – unter ihnen ist auch Aileen Getty, eine von mehreren Erbinnen eines fünf Milliarden US-Dollar schweren Ölvermögens.

Mirjam Griebler (mobilisiert neue Leute für die ›Letzte Generation‹)

Direkt bekommt die ›Letzte Generation‹ noch kein Geld aus dem Fonds. Als die Aktivisten im November um Finanzierung ansuchten, war der Fördertopf bereits ausgeschöpft. Doch gemeinsam mit der ›Letzten Generation Deutschland‹, die bereits Climate-Emergency-Gelder bezieht, haben die Österreicher eine Hilfskonstruktion geschaffen. Aktuell erhalten zwei Mitglieder der ›Letzten Generation‹ Geld des Climate Emergency Fund, das eigentlich an die deutsche Schwesterorganisation ausgezahlt wurde. Sie sind die ersten Aktivisten, die von Spenden ihren Lebensunterhalt bestreiten – und sich gänzlich den Kampagnen widmen können. Eine der Personen sitzt in Wien und erhält etwa 1.300 Euro netto, die andere in Graz. Ursprünglich war ein Teil der Idee, in Österreich Aktivisten anzuwerben, um die Proteste in Deutschland zu unterstützen – damals hatten weder deutsche noch österreichische Aktivisten es für möglich gehalten, dass in Österreich das Potenzial für einen eigenen Ableger der ›Letzten Generation‹ vorhanden ist. 

Auch Martha Krumpeck erhielt seit Ende des letzten Jahres über diese Konstruktion Geld. Mittlerweile habe die ›Letzte Generation‹ aber einen Verein gegründet, sagt sie. So kann die die Organisation zum Beispiel freie Dienstnehmer anstellen. Krumpeck lässt sich monatlich Geld – ›etwas mehr als 1.000 Euro‹ – aus dem eigenen Spendentopf auszahlen. Vermögen darf sie keines besitzen: Das würde der Staat sonst für Verwaltungsstrafen heranziehen. 

Die ›Letzte Generation‹ ist deutlich zentraler organisiert als der Vorläufer ›Extinction Rebellion‹. Ein kleines Kernteam aus maximal 15 Aktivisten trifft die wichtigen Entscheidungen: eine nicht-hierarchische, aber straffe Struktur, mit klar definierten Zuständigkeiten und einem hohen Maß an Eigenverantwortung, um sie herum mehr als hundert Freiwillige. Es wundere Krumpeck selbst immer wieder, dass die Struktur hält. 

David Sonnenbaum (bringt Struktur in die Gruppe)

Auch wenn niemand Krumpeck als Anführerin der ›Letzten Generation‹ benennt: Ihr großer Einfluss in der Bewegung ist kaum zu übersehen. Die wichtigsten Vorträge stammen aus ihrer Feder, genauso eine Vielzahl der Pressemeldungen. In den Signal-Gruppen organisiert sie maßgeblich die Proteste mit, ruft einzeln Leute durch, ob sie dabei sind. Vor allem aber ist sie das einzige Gründungsmitglied, das auch im Vorstand des erst vor Kurzem geschaffenen Vereins sitzt.

Die meisten ihrer Mitstreiter sind berufstätig, viele haben Familie. Von der Wissenschaftlerin bis hin zur Grafik-Designerin und einem Trampolinanlagen-Betreiber sind alle möglichen sozialen Gruppen vertreten. Diese Diversität führt aber auch dazu, dass viele Mitglieder Verpflichtungen im Alltag haben und nicht nach Belieben Verwaltungsstrafen und Polizeigewahrsam riskieren können. Außerdem leidet die Flexibilität der Aktivisten. Ankunftszeiten kommuniziert Krumpeck deshalb aus Prinzip zu früh. ›Wenn ich gegen 7:45 Uhr ein Treffen ansetzen möchte, schreibe ich den Leuten, dass wir um 7:20 beginnen und hoffe, dass sie nur zwanzig Minuten zu spät kommen‹, sagt Krumpeck.

Über 600 Leute meldeten sich nach der jüngsten Protestwelle im Februar. Sie alle wollen Teil der Bewegung werden. Für die Aufnahme müssen die Neuankömmlinge angeben, ob sie bereit sind, sich anzukleben, und in welche Arbeitsgruppen sie möchten. Die ›Letzte Generation‹ sammelt all diese Daten in einem Excel-Sheet. Jeder Zweite der 600 sei ­zumindest theoretisch bereit, den ­Verkehr zu blockieren. Gut 160 Personen hätten schon das Aktionstraining absolviert, sagt der dafür zuständige Arbeitsgruppenleiter Dietmar, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. Zum Vergleich: Im Februar klebten insgesamt 60 verschiedene Aktivisten an Österreichs Straßen. ›Jetzt haben wir endlich die Chance, den Morgenverkehr in einigen Städten nicht nur zu stören, sondern lahmzulegen‹, freut sich Krumpeck.

Regelmäßig treffen sich die Aktivisten in Ortsgruppen. Der Wiener Ableger organisiert seine Treffen in Wohnungen der Mitglieder oder im Kost-nix-Laden ›Die Schenke‹ in der Josefstadt. An diesem Montag nehmen insgesamt elf Leute teil. Krumpeck kommt, nach der Aktion am Getreidemarkt, direkt aus dem Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände. Mittlerweile servieren die Beamten dort veganes Essen für die Aktivisten. Krumpeck versucht im Gefängnis vor allem Schlaf nachzuholen, den sie die Nächte davor in die Planung der Aktionen investiert hat. ›Die Zeit in Gewahrsam ist wie Urlaub‹, sagt sie.

Lorenz Trattner (hält Vorträge und wirbt Neueinsteiger für die Bewegung an)

Krumpeck und die restlichen Mitglieder besprechen an diesem Abend den weiteren Rekrutierungsprozess. Mehr Leute müssen her, es soll noch mehr mobilisiert und noch mehr Flyer sollen verteilt werden. Krumpeck drückt aufs Tempo. Die Neuen könnten überall mitarbeiten, sagt sie, außer in der Protestkoordination. Das sei Sache der erfahrenen Aktivisten des Kernteams. In den dutzenden Signal-Gruppen der Aktivisten werden nur die Eckpunkte der Aktionen gepostet. Man weiß, dass Staatsschützer und Journalisten mitlesen. Immer wieder gehen ›Grüße‹ an Beamte raus. Die größte dieser Signal-Gruppen zählt aktuell 500 Mitglieder. Sie alle zum Mitmachen zu bewegen, ist eine andere Sache.

Wer ins Kernteam der ›Letzten Generation‹ will, von dem verlangt Martha Krumpeck vor allem eines: die Entschlossenheit, wie sie sagt, ›echten‹ zivilen Widerstand zu praktizieren. Straßenblockaden und Klebeaktionen, mit denen eine Situation geschaffen werden soll, ›wo uns niemand mehr ignorieren kann‹, sind der Schlüssel, sagt sie. Krumpeck ist der festen Überzeugung, dass sie besser als die breite Klimabewegung weiß, was zu tun ist – und welche Strategien zum Erfolg führen. 

Der innerste Kreis der ›Letzten Generation‹, sagt Krumpeck, werde ›bewusst klein gehalten‹. Das habe mit ihren Erfahrungen in der breiteren Klimabewegung zu tun. ›Ich habe sehr schlechte Erfahrungen mit Entscheidungen, die von einem Plenum kommen‹, sagt sie. Strategische Beschlüsse könnten dort nicht getroffen werden: Die Definition von Dummheit sei, ›etwas zehnmal zu versuchen, zu scheitern und zu erwarten, dass es beim elften Mal funktioniert‹. Sie selbst gibt zu, dass sie in ihrer bisherigen Aktivistinnen-Karriere überall, wo sie sich engagiert hatte, im Unfrieden gegangen ist. 

Diesen roten Faden in ihrer Biografie, das starke Ego und die Überzeugung, Recht zu haben und allein den Weg zu kennen, hat Martha Krumpeck mit dem Engländer Roger Hallam, dem Mitgründer von ›Extinction Rebellion UK‹, gemein. Auch Hallam ist inzwischen nicht mehr bei ›Extinction Rebellion‹ aktiv, er gründete neue Bewegungen wie ›Just Stop Oil‹ oder ›Insulate Britain‹, die als erstes auf die Idee gekommen sind, sich auf Straßen festzukleben. 

Der Rückzug – oder Rauswurf – Hallams bei ›Extinction Rebellion‹ hat auch mit Interviews zu tun, in denen der ehemalige Biobauer den Holocaust relativierte. Nur ›ein weiterer Scheiß in der Menschheitsgeschichte‹ sei dieser gewesen, sagte er gegenüber der Zeit. Sein deutscher Verlag stoppte daraufhin die Veröffentlichung seines Buches, nach massiver Kritik entschuldigte sich Hallam schließlich. Die Worte, die er benutzt habe, würden ihm leid tun, sagte er – nur um gegenüber dem Spiegel nachzulegen. ›Nie wieder‹ hätten sich die Europäer nach dem Holocaust geschworen, nun aber tue man nichts dagegen, dass riesige Regionen zur Klima-Todeszone würden. Der Klimawandel sei ›nur das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt‹.

›Es ist ein bisschen kompliziert mit Roger‹, sagt Krumpeck im Gespräch mit DATUM. Er sei einerseits wohl einer der Menschen mit der größten Fachkompetenz, was zivilen Widerstand angehe: ›Er hat das Ganze beforscht, mit dem Hintergedanken, das selbst aufzuziehen.‹ Aber er sei auch ›grob‹. Und Hallam habe ›eine Neigung dazu, Dinge auszusprechen, die zwar prinzipiell so nicht falsch sind, aber die Leute dann zu hundert Prozent missverstehen‹. Und das laufe dem Ziel diametral entgegen. 

Krumpeck distanziert sich von Hallams Holocaust-Vergleich – nur um gleich darauf Folgendes zu sagen: ›Das eine ist das Abschlachten von Menschen, das Ziel, Menschen industrialisiert zu vernichten. Das andere ist das gezielte Sterbenlassen von Menschen durch Menschen. Wo es auch darum geht, die Menschen Afrikas auszulöschen.‹ Die Aktivistin hält kurz inne. Dann sagt sie: ›Ich sehe einen ähnlichen Vergleich, aus einer ähnlichen Periode, aber nicht den Holocaust. Ich sehe den Hungerplan der Nazis als einen guten Vergleich. Nämlich den Plan, Russland so auszubeuten, dass die Bevölkerung dort einfach draufgeht.‹ Das sei der Plan der Nazis gewesen, für die eroberten Sowjetgebiete: möglichst viele Menschen verhungern zu lassen. ›So ähnlich dürfte der Plan sein, von unseren Eliten für die Teile der Welt, die am massivsten von der Klimakatastrophe betroffen sind.‹ 

Europäische ›Eliten‹, die dem drohenden Tod von Millionen nicht nur gleichgültig gegenüberstehen, sondern deren Vernichtung aktiv in Kauf nehmen, ja sogar vorantreiben? Das klingt nach einer Verschwörungserzählung. ›Grievance Narratives‹ – ›Beschwerdeerzählungen‹ – so nennt die Sozialforschung jene Grundannahmen, die Bewegungen und Gruppierungen vorbringen, um damit ihr Handeln zu rechtfertigen. Die Regierung und der Staat seien in Wirklichkeit gesteuert von dunklen Mächten, von einem ›tiefen Staat‹, der Unheil über das wahre Volk bringen würde: so die antisemitische Erzählung von Souveränisten, Staatsverweigerern und Reichsbürgern. Der Staat wolle einen ›Bevölkerungsaustausch‹ lautet jene von Rechtsextremisten und Neonazis. Dschihadisten denken ähnlich: Die ›Ungläubigen‹ hätten es auf Knechtung, ja Vernichtung des Islams abgesehen. Beschwerdeerzählungen können, müssen aber nicht verschwörungsideologisch sein. 

Verbreitet Martha Krumpeck extremistisches Gedankengut? Sie geht mit ihrer Aussage zum angeblichen Plan der ›Eliten‹ jedenfalls weit über den Konsens in der ›Letzten Generation‹ hinaus. Die bisher öffentlich geäußerten Argumente und Forderungen der Organisation sind – im Gegensatz zum Gedankengut von Rechtsextremisten oder Dschihadisten – wissenschaftlich fundiert. Zahlreiche renommierte Forscher stellen sich inzwischen gemeinsam mit den Aktivisten auf die Straße. Auf der Webseite der Organisation gibt es keinerlei Verweise auf sinistre Mächte, die im Hintergrund die Fäden ziehen. So verwundert es nicht, dass der deutsche Verfassungsschutz jüngst entschieden hat, den deutschen Ableger der ›Letzten Generation‹ nicht als extremistisch einzustufen. Ob Krumpeck mit ihren Aussagen über die ›Eliten‹, deren angeblicher Plan es sei, Afrika verhungern zu lassen, bewusst provozieren will oder ob sie persönlich doch einem geschlossenen verschwörungsideologischen Weltbild anhängt, bleibt offen. 

Der Fatalismus, der Krumpeck und andere Aktivisten wie Hallam oder dessen ehemalige Mitstreiterin Gail Bradbrook, ebenfalls ›Extinction-Rebellion‹-Mitbegründerin, antreibt, ist jedenfalls augenscheinlich. Tempo 100 – wenn nicht einmal diese ›Pimperlforderung‹ durchzusetzen sei, ›wie sollen wir dann eine Chance haben, die Klimakatastrophe zu überleben?‹ fragt Krumpeck. Immer wieder beschwört die Aktivistin im Gespräch das apokalyptische Zukunftsszenario und weist auf die Ergebnisse der Klimaforschung hin. Sie schwankt zwischen Verzweiflung, Resignation und der Bestimmtheit und Überzeugung, dass es eine Chance gäbe – wenn man nur strategisch die richtigen Entscheidungen treffe. Immer wieder wirkt sie kämpferisch, wild entschlossen, manchmal heult ihre Stimme wie eine Sirene, die alle um sich warnen möchte. 

›Wir gewinnen, oder wir gehen alle drauf‹, sagt sie. Oder: ›Der Ökofaschismus ist die zwingende Konsequenz der Klimakatastrophe.‹ Ökofaschismus –damit meint Krumpeck nicht etwa die Kombination von faschistischem und ökologischem Gedankengut, sondern zukünftige autoritäre Regime in der westlichen Welt, die in der Klimakatastrophe rücksichtslos alle noch vorhandenen Ressourcen an sich reißen würden: ›Das ist so ungefähr das, worauf wir zurasen, nämlich, dass ganze Kontinente und Subkontinente halb unbewohnbar werden, dass es dort so heiß und trocken wird, dass bei uns dann auch das Essen ausgeht.‹ 

Eine, der diese Rhetorik nicht zusagt, ist Merle. ›Mir war bei der Letzten Generation der strenge Fokus auf Katastrophenvergegenwärtigung und Aufopferung der Aktivisten zu einseitig‹, erinnert sie sich heute. Sie selbst brauche einen positiven Gegenpol – bunte und  teilweise auch fröhliche Aktionen –, um sich motiviert und beständig engagieren zu können. Gerade deshalb bewundere sie jedoch Krumpeck und ihre Mitstreiter dafür, an dieser harten und in ihren Augen effektiven Strategie festzuhalten und nicht auszubrennen. Wie Krumpeck war auch Merle Teil der ›Lobau bleibt‹-Bewegung und verbrachte viel Zeit auf der besetzten Baustelle. Nach der Räumung durch die Stadt Wien war auch sie bei der Gründung der ›Letzten Generation‹ dabei und so verschob sich auch ihr Protest von der Baustelle auf die Straße.

Nach ein paar Monaten verließ Merle die Bewegung und entschied sich, ihre Kapazitäten wieder auf ›Extinction Rebellion‹ – ihre ursprüngliche Heimat-Organisation – zu konzentrieren. Der einst radikale Vorläufer der ›Letzten Generation‹ geht nun einen anderen Weg, für sein Anliegen zu mobilisieren. Mit dem ›Projekt 3,5‹ will ›XR‹ an Türen klopfen, Menschen anrufen und breitere Schichten für Aktionen und zivilen Widerstand mobilisieren. Dem Projekt liegt die Annahme zugrunde, dass dreieinhalb Prozent der Bevölkerung reichen, um einen Systemwandel auszulösen. ›XR‹ beruft sich dabei auf eine Studie, die mehrere Widerstandsbewegungen und ihre Erfolge analysierte. Krumpeck wiederum glaubt, so viele brauche es gar nicht. Es gäbe Beispiele, bei denen schon 500 Menschen im zivilen Ungehorsam einen Unterschied machen konnten. Bei ›XR‹ sollen dabei nicht Angst und Weltuntergangsstimmung die Motivatoren sein, sondern positive Erfahrungen von Gemeinschaft und Selbstermächtigung. Verdrängen wolle Merle die Klimakatastrophe deswegen nicht, betont sie. Es gehe um gesunde Abgrenzung und realistische Einschätzung der eigenen Kapazitäten: ›Wenn es uns Aktivisten nicht gut geht, dann können wir auch nichts Gutes voranbringen‹, sagt Merle. ›Es ist ja nicht nachhaltig, wenn wir in Depressionen verfallen oder aus den Organisationen mittelfristig wegbrechen.‹

Die Begeisterung innerhalb der breiteren Klimabewegung für die ›Letzte Generation‹ und für die Person Krumpeck hält sich in Grenzen – und das beruht auf Gegenseitigkeit. ›Pseudo-ziviler Ungehorsam‹ nennt Krumpeck die Sitzblockade von ›Fridays for Future‹ am Tag der Kanzlerrede zur Zukunft Österreichs vor der Wiener Eventlocation ›Thirty Five‹. Solche Aktionen würden sich für die Klimaschützer anfühlen wie Aktivismus und auch so aussehen – aber nichts bewirken. ›Die Fridays sind Meister in diesem Pseudo-Widerstand‹, sagt Krumpeck. Ihre Kritik intern anzubringen, habe sie erfolglos versucht. Man habe nicht auf sie hören wollen. Da bleibe ihr nichts anderes übrig, als öffentlich zu kritisieren. ›Aber ich freue mich, dass auch Fridays langsam draufkommt, was zu tun ist.‹ 

Solche Querschüsse von Krumpeck ist man bei ›Fridays for Future‹ mittlerweile gewöhnt. Paula Dorten, eines der prominentesten Gesichter der Bewegung, will deshalb nicht direkt auf Krumpecks Aussagen eingehen. Sie verstehe aber, warum die ›Letzte Generation‹ über Protestformen diskutieren möchte. Das wolle auch sie, es sei wichtig. ›Aber Fridays for Future und die Letzte Generation ständig auf die Protestform zu reduzieren, lenkt von der viel wichtigeren Frage der Inhalte ab‹, sagt Dorten. ›Immerhin kämpfen wir alle für Klimagerechtigkeit.‹ 

Lena Schilling vom Jugendrat Österreich findet deutlichere Worte. ›Die Letzte Generation ist zum Teil frustriert von unserer Geduld‹, sagt Schilling. Meinungsverschiedenheiten langsam und gemeinsam zu klären, das sei mühsam, ›aber in meinen Augen der einzig gangbare Weg‹. Schilling versteht die Wut der Organisation trotzdem. ›Gleichzeitig sehe ich die Aktionsform der Letzten Generation in Verbindung mit ihren Zielen auch ein bisschen kontraproduktiv‹, sagt Schilling. Es mache wenig Sinn, die Grünen bei Tempo 100 festnageln zu wollen, wenn es doch die ÖVP sei, die in der Regierung bremse. Die Resonanz der ›Letzten Generation‹ in den Medien aber mache deutlich: Offenbar funktioniert etwas an ihrem Ansatz. ›Und das diskutieren wir auch innerhalb der Klimabewegung.‹ 

Schilling und ihre Mitstreiter könnten aber auch davon profitieren, dass am äußeren Rand der Klimabewegung eine radikale Flanke für Veränderung kämpft. Denn eine kleine Gruppe extremer Aktivisten kann positive Auswirkungen auf den Erfolg der gemäßigten Teile einer Bewegung haben, wenn sie für dieselbe Sache eintreten – so zeigt die Geschichte. In den 80ern erhielten gemäßigte schwarze Bürgerrechtler in den USA mit dem Aufkommen eines radikalen Flügels etwa mehr Spenden. Plötzlich wirkten ihre Forderungen vergleichsweise moderat auf einstige Kritiker. Das Phänomen wiederholte sich immer wieder – auch in der Klimabewegung.

Wie lange das Konzept, sich auf die Fahrbahn zu kleben, noch wirkungsvoll sein wird, kann Krumpeck nicht beantworten. ›Kampagnen haben ein Ablaufdatum‹, sagt sie. Solange etwas funktioniert, würde man es durchziehen, ›trial and error‹. ›Es gibt ein altes chinesisches Sprichwort: Den Fluss überqueren, indem man die Steine fühlt‹, sagt Krumpeck, ›auch wir probieren Dinge aus, und das, was funktioniert, wenden wir an. Was nicht funktioniert, das begraben wir relativ schnell.‹ So würde die ›Letzte Generation‹ ihre Strategien weiterentwickeln. In Zukunft wollen sie Veranstaltungen stören, Gebäude neu einfärben – oder Zapfsäulen sabotieren, um ›die fossile Industrie in ihren Abläufen zu stören‹, wie Florian Wagner, der Pressesprecher der ›Letzten Generation‹, bereits im Februar in einer ORF-Doku angekündigt hat.

Krumpeck betont jedoch immer wieder im Gespräch, dass es eine rote Linie gebe, und die sei dann erreicht, wenn Menschen Schaden nehmen. Würde sich die Bewegung in diese Richtung entwickeln, würde auch sie sich abwenden. Dabei rechnet Krumpeck selbst mit einer Radikalisierung von Teilen der Bewegung: ›Wenn die Klimakatastrophe so weit eskaliert und die völlige Inkompetenz beziehungsweise der bewusste Genozid von denen, die davon profitieren, sich so weit verschärft, und dann Leute irgendwann Gewaltfreiheit aufgeben, wäre das der schwerste strategische Fehler. Weil unsere Chancen dann nicht mehr nahe null sind, sondern genau null‹, sagt sie. Verantwortung für ein mögliches Eskalationsszenario weist die Aktivistin jedoch im Voraus zurück: ›Das ist die Verantwortung von denen, die das herbeigeführt haben.‹ Diejenigen, die zu Gewalt greifen, hätten dann ›alles andere versucht‹. So könne sie solch ein Handeln zumindest verstehen, auch wenn sie es ablehne. Wie weit würde Krumpeck selbst gehen? ›Sachbeschädigung werde ich persönlich nicht ausschließen, solange sichergestellt ist, dass sie keine Menschen trifft.‹ 

Die Androhung von härteren Strafen gegen ›Klima-Kleber‹, wie sie die ÖVP ins Spiel gebracht hatte, ›zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind‹, sagt sie. Krumpeck wertet die Vorschläge, Klebe-Aktionen härter zu bestrafen, als Beweis dafür, dass die Bewegung inzwischen im Stande ist, den ersehnten Druck auf die Politik auszuüben. Bis die Regierung umdenkt, gelte es, weiter ›die Gesellschaft zu polarisieren, Menschen zu einer Entscheidung zu zwingen.‹

Umgekehrt sieht die Aktivistin erste direkte Kontakte mit der Politik als ­Erfolg: Mittlerweile hat sich der Bre­genzer Bürgermeister hinter ihre Forderungen gestellt – weitere Gespräche ­würden laufen. Auch mit den Grünen habe es inoffizielle Gespräche gegeben. Unlängst habe man eine Gesprächsrunde mit dem ÖVP-nahen Cartell­verband geführt. ›Diese Leute mögen konservativ eingestellt sein. Reden kann man mit ihnen trotzdem, weil sie sich Sorgen um die Zukunft der eigenen Kinder machen.‹ Eines der nahen Ziele sei jedenfalls, noch mehr an die Politik direkt heranzukommen. ›Es geht jetzt darum, Einfluss auf die Entscheidungsstrukturen zu nehmen‹, sagt Krumpeck. Partei solle es explizit keine geben. In Deutschland hat Krumpecks Schwesterorganisation bereits in einigen Städten ihren Protest gegen das Versprechen eines inhaltlichen Entgegenkommens eingestellt. Ob das mittelfristig zu Reformen führt oder damit auch die mediale Wirkungskraft der Bewegung schwindet, werden die nächsten Monate zeigen.

Wie würde die Aktivistin reagieren, wenn der Staat sich gegen die ›Letzte Generation‹ wenden sollte? Etwa, wenn von einer zukünftigen rechten Regierung tatsächlich neue Gesetze erlassen werden, mit dem Ziel, die ›Letzte Generation‹ strafrechtlich zu verfolgen? ›Es gibt verschiedene Optionen: Mich einsperren lassen. Mich von einem Pferd niedertrampeln lassen, wenn Herr Kickl das wollen sollte. Mich niederknüppeln lassen.‹ Sie sei bereit, vor Gericht den Wahrheitsbeweis ihrer Aussagen anzutreten. Dann könne sie wenigstens sagen, sie habe alles probiert. Was aber, wenn trotz aller Mobilisierung, trotz aller Energie, die in die Proteste gesteckt wird, keine ausreichenden politischen Veränderungen eintreten? Plötzlich wirkt Krumpeck wieder resigniert. ›Wenn die Mehrheit wirklich aussterben will, werde ich das nicht verhindern können‹, sagt sie. ›Vielleicht würde ich dann versuchen, mich in einen Teil der Welt zurückzuziehen, der noch etwas länger bewohnbar bleibt, aber man entkommt der Klimakatastrophe nicht.‹ Zurück in einen Alltag, der nichts mehr mit dem Klimaaktivismus zu tun hat? Die Aktivistin schüttelt den Kopf. Ihre Stimme ist nach dem zweistündigen Gespräch etwas heiser geworden. ›Ein normales Leben ist für mich nicht mehr möglich‹, sagt sie. 

Ein paar Tage später, kurz nach dem Fototermin für DATUM, stehen die Aktivisten der ›Letzten Generation‹ im Kreis und beraten, ob sie noch gemeinsam einen Kaffee trinken wollen. Krumpeck verneint. Sie müsse jetzt nach Hause, weiterarbeiten und schreiben. Die anderen ziehen weiter in die Wohnung eines Aktivisten. Sie sitzen in einem Wohnzimmer voller Pflanzen, trinken Kaffee aus der French Press, sprechen über Jazz – und darüber, ob sie einmal Kinder bekommen wollen. Das Leben, sagt eine von ihnen, sei immer lebenswert. Klimakatastrophe hin oder her. •

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