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Der edle Wilde

Ex-Bundesgeschäftsführer Max Lercher will für die SPÖ die Stammtische und Bierzelte zurückerobern – mitunter zum Missfallen der eigenen Partei. Ein Besuch in der rot-blauen Kampfzone.

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Fotografie :
Tina Schula
DATUM Ausgabe Oktober 2021

Ein Dienstagabend im September, die Sonne scheint, Max ­Lercher spaziert mit gravitä­tischen Schritten durch den Wiener Prater. Um ihn herum werden Leute in Attraktionen wie › Black Mamba ‹ und › Space Shot ‹ in lichte Höhen geschossen, in denen die SPÖ schon lange nicht mehr verkehrte. An diesem Abend ist der Prater voller Menschen mit Fußballtrikots, im Ernst-Happel-Stadion wird Österreichs Nationalmannschaft wenig später gegen Schottland verlieren. Lercher trägt ein schwarzes Gilet, ein weißes Hemd und Bart – so kennt man ihn. Es dauert nicht lange, bis er angesprochen wird. › Ein Sozialdemokrat, das passt ‹, sagt ein junger Mann in einem Fußballtrikot. › Wir sind alle So­zialdemokraten ‹, zeigt der Mann auf seine Freunde. › Ah, hab’ ich also die letzten gefunden ‹, sagt Lercher und lächelt.

Eigentlich war der Interviewtermin im Traditionsgasthaus Schweizerhaus vereinbart, aber dort gab es wegen des Länderspiels keinen freien Tisch. Der Fußweg zum Ausweichlokal, der kleinen Pizzeria Fercos im Prater, ist für Max Lercher aber ohnehin ein willkommener Stimmungstest. Denn Fußball-Länderspiele werden von den sogenannten ganz normalen Leuten besucht, bei denen die SPÖ wieder besser ankommen will. Viele ÖFB-Fans reisen außerdem aus den Bundesländern nach Wien, also auch aus Regionen, wo Sozialdemokraten als bedrohte Spezies gelten. Lercher scheint mit der Prater-Stichprobe ganz zufrieden, als er in der Pizzeria Fercos ein Schnitzel bestellt. Er wurde immer wieder erkannt.

Lercher war Bundesgeschäftsführer unter Kanzler Christian Kern, davor steirischer Landesgeschäftsführer unter Landeshauptmann Franz Voves, heute sitzt er im Nationalrat als Regionalsprecher in der vorletzten Reihe seiner Fraktion. Karrieremäßig ist das ein Abstieg, aber Lercher fällt auch ohne Amt durch seine Auftritte und seine Rhetorik auf.

Der 35-Jährige sieht sich auf einer ehrenwerten Mission. Er will die SPÖ wieder zu einer ›Hacklerpartei‹ machen, zu einer wirtschaftspolitisch linken Partei, die sich auf ihre Gründungsideen besinnt. In Interviews sagt Lercher deshalb gerne, er sei ein › stolzer Prolet ‹. Er lud auch schon zweimal in die Obersteiermark zu einem Politischen Aschermittwoch, wo er mit Pointen, Bierkrug und Steirertracht gegen die freiheitliche und türkise Politik wetterte. Über das Pandemie-Management von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) spottete er zum Beispiel : › Es ist mir alles viel zu schwer, d’rum geh’ ich lieber zum Friseur. ‹ Zwei Jahre zuvor forderte er dort auch eine nicht näher definierte ›Arbeiterquote‹ in SPÖ-Gremien.

All dies ist Teil eines großangelegten Versuchs, möglichst viele Wähler aus der rot-blauen Kampfzone zurückzugewinnen. › Bei der intellektuellen Analyse darf es nicht bleiben, die Übersetzung der Analyse muss dann beispielsweise auch im Bierzelt funktionieren ‹, erklärt Lercher. › Sonst wären wir Sozialdemokraten ja Idioten. ‹ Vereinfacht gesagt geht es um die Frage, ob die SPÖ in erster Linie eine Partei für die Hipster in Neubau oder für die Hackler in Simmering sein will. Bobo oder Prolo. Für Lercher, Sohn eines pensionierten Busfahrers und einer Post-Angestellten, ist die Strategie klar – zurück zur historischen Kernaufgabe.

Nicht jeden seiner Auftritte kann man als geglückt bezeichnen. Ein Video vom vergangenen Winter etwa, in dem Lercher eine Rede des alten Römers Cicero gegen Catilina (› O Zeiten, o Sitten ‹) auf ÖVP-Chef Kurz ummünzte, mutete eher seltsam an. Aber im Bild des Fußballs ist Lercher ein bulliger Stürmer in einer Mannschaft, die allzu viele defensive Mittelfeldspieler hat. Der Steirer schießt vielleicht gelegentlich über das Tor, aber im Gegensatz zu vielen anderen in der SPÖ greift er wenigstens an. Er ist übrigens ein Fan des FC Liverpool, was ganz gut passt, nicht nur weil Liverpool eine Arbeiterstadt ist, sondern auch weil der deutsche Trainer Jürgen Klopp sich im Verein einst als › ganz normalen Kerl ‹ (› the normal one ‹) vorgestellt hat.

Man kann Lerchers Traum von einer proletarischen Reconquista der SPÖ freilich nicht ohne dessen schwierige Beziehung zur Bundespartei verstehen. Wenngleich Lercher beim langen Gespräch im Prater kein schlechtes Wort über Pamela Rendi-Wagner verliert, sind bereits sein Politikstil und frühere Wortmeldungen eine Kampfansage an die SPÖ-Chefin und ihre Getreuen. Man kann Lerchers Aktionismus zwar nicht als einsamen Kampf bezeichnen, denn bei der Nationalratswahl 2019 hat er in seinem Wahlkreis mehr als 7.300 Vorzugsstimmen bekommen und in der steirischen Landespartei gilt er als bestens vernetzt. In jedem Fall ist es aber ein Kampf ohne Bundespartei.

September 2018 : Christian Kern hat gerade als SPÖ-Chef hingeschmissen, die Nachfolgerin Rendi-Wagner installiert wenig später ihren Vertrauten Thomas Drozda als neuen Bundesgeschäftsführer. Lercher musste damit die Parteizentrale in der Löwelstraße verlassen. › Ich bin Pamela Rendi-Wagner nicht böse, weil das ihr gutes Recht war, Personalentscheidungen zu treffen ‹, sagt Lercher heute. Was man halt so sagt, wenn man degradiert worden ist. Dass der hemdsärmelige Lercher dem Kulturmanager und Uhrenliebhaber Drozda weichen musste, stieß der roten Basis damals sauer auf. Mittlerweile heißt der Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch, ein Mann der SPÖ Wien, der in seiner Parteikarriere eher nicht durch Mut und Visionen aufgefallen ist. Der Traiskirchner SPÖ-Bürgermeister Andreas Babler bezeichnete die Vertrauten um Rendi-Wagner kürzlich als › Leute, die sich seit den 70er-, 80er-Jahren einbunkern ‹.

Im Umfeld der Parteichefin widerspricht man auf Nachfrage entschieden, natürlich baue man Junge auf. Abgeordneter im Nationalrat zu sein, sei › eine hohe Funktion in der SPÖ, gerade in Oppositionszeiten ‹, sagt Bundesgeschäftsführer Deutsch. Mit Julia Herr, Eva Maria Holzleitner und › auch Max Lercher als Regionalsprecher ‹ habe man › viele sehr engagierte junge Abgeordnete im Parlament, die Teamaufstellung gibt es ‹.

Dass Lercher keine größere Rolle in der Bundespartei beschieden sein wird, solange Rendi-Wagner die Vorsitzende ist, weiß die Öffentlichkeit trotzdem. Spätestens seit dem Oktober 2019. Da wurde eine Falschmeldung in der Krawallzeitung Österreich  lanciert, dass Lercher als Berater eine › 20.000-Euro-Monatsgage ‹ kassiere. Wahr war hingegen, dass die Grazer Leykam Medien AG, deren Geschäftsführer Lercher ist, damals diese Summe für diverse Dienstleistungen des Unternehmens bekam. Die bösen Gerüchte wurden aus hohen SPÖ-Kreisen an den Boulevard gespielt. Zwei Jahre später will Lercher nicht mehr viel darüber sprechen. Ein anderer SPÖ-Politiker erinnert sich hingegen : › Man wollte den Max Lercher damals zerstören. ‹

Die Intrigen haben persönliche Verletzungen hinterlassen, aber Lercher hat sie überlebt. In der Steiermark hat er eine so breite Machtbasis, dass die Bundespartei ihn ohnehin nicht ganz loswerden kann. Dort ist er auf Bezirks- und Stadtparteitagen ein gern gesehener Redner. › Der Max ist bodenständig, er ist sich für nix zu schade ‹, sagt Mario Abl, SPÖ-Bürgermeister im obersteirischen Trofaiach. Er kennt Lercher schon, seit der für die Sozialistische Jugend (SJ) noch Konzerte organisierte und für Jugendtaxis in steirischen Dörfern kämpfte. › Einer wie er wird in der vordersten Reihe benötigt, auch in bun­despolitischen Fragen ‹, sagt Abl. Poli­tikberater Rudolf Fußi glaubt sogar, ­Lercher sei ›der kommende Mann in der Steiermark‹. Er sehe ihn › als künftigen steirischen Landesparteichef, mit einer ernsthaften Chance, den Landeshauptmannsessel zu erringen ‹.

Im Moment ist er freilich nur Regionalvorsitzender der Bezirke Kapfenberg, Judenburg und Murau. Auf der Homepage der SPÖ Steiermark findet man ihn außerdem als stellvertretenden Landesparteichef, neben seinem Foto auch eine Handynummer. Das ist kein Zufall, so wie Lercher in seinen Auftritten überhaupt weniger dem Zufall überlässt, als man glauben mag. Die Handynummer steht dort, weil er ansprechbar sein und wieder eine größere Rolle spielen will. Die Grundlagen für ein Comeback wären da. › Max Lercher ‹ ist eine politische Marke, die der Politiker genauso pflegt wie seine Kontakte, sein Netzwerk reicht weit über die steirischen Grenzen hinaus. Beiläufig erwähnt er, dass er sich ja nicht nur mit Hans Peter Doskozil, sondern auch auch mit Peter Kaiser und Michael Ludwig bestens verstehe, mit vielen Gewerkschaftern sowieso. Seine Wortspenden wirken vielleicht öfter einmal unbeherrscht, doch so vielfältige Bindungen wie Lercher knüpft man nicht ohne Ehrgeiz und Ernsthaftigkeit.

Einig ist man sich an der SPÖ-Basis, dass das Amt als Landes- und dann als Bundesgeschäftsführer wie maßgeschneidert für Lercher war. Er sei ein leidenschaftlicher Parteimanager gewesen und jemand, der keinem Gespräch ausweiche. Den Streit mit dem politischen Gegner scheut er ohnehin nicht – er sucht ihn vielmehr. Mancher Auftritt im Fernsehen und in den Sozialen Medien wirkt zwar ein wenig plump, aber hinter der Haudrauf-Rhetorik steckt im Grunde das Bemühen um eine neue sozialdemokratische Erzählung. So hält Lercher auch Kontakt zu linken Wissenschaftlern vom Momentum-Institut oder der parteikritischen Sektion Acht.

Seine poli­tischen Lehrjahre verbrachte er ja in der SJ, die notorisch prinzipientreu und ideologieverliebt ist. Lerchers Analyse lautet, die SPÖ muss die Kernschichten zurückerobern, statt ein paar liberalen Akademikern in Wiener Innenbezirken nachzulaufen. Lercher zielt auf traditionell denkende Wähler, ›kleine Leistungsträger‹, die er aus dem  türkis-blauen Block‹ zurückholen möchte. Lercher will daher eine neue Standort- und Wirtschaftspolitik, mehr Umverteilung und einen viel stärkeren Sozialstaat, und er scheut auch das Wort ›Systemfrage‹ nicht.

Der Volkswirt und Parteilinke Nikolaus Kowall findet den Ansatz grundsätzlich richtig : › Alles, was sich zwischen Rot, Grün und Neos an Stimmen verschiebt, ist strategisch wurscht. Interessant ist vielmehr, was zwischen Rot und Blau passiert. ‹ Die SPÖ könne in den Industriestädten mehr gewinnen, als sie in den Universitätsvierteln zu verlieren habe. Soll heißen : Wenn auch Intellektuelle die Partei wählen, wie einst unter Bruno Kreisky, ist das schön und gut, der Fokus gilt aber den diversen Abkömmlingen der früheren Arbeiterklasse. Man kann das natürlich anders sehen, viele in der SPÖ tun das auch, aber es ist zumindest mal eine Position.

Lercher weiß, dass die Genossen wirtschaftspolitisch nicht mehr allein gegen die ÖVP kämpfen. Denn das Versprechen von Aufstieg und Erfolg durch Selbstoptimierung steht nicht nur sinngemäß im ÖVP-Programm, sondern trieft aus praktisch jeder Werbung, jeder Castingshow und jedem Instagram-Profil. ›Den Menschen wird ständig vermittelt, dass sie reich werden, wenn sie sich nur genügend bemühen. Ich kämpfe gegen den größten Marketinggag der Geschichte ‹, sagt Lercher pathetisch. Dabei sind die Grenzen zwischen dem eher progressiv-wirtschaftslibe­ralen und dem links-orthodoxen Lager in der Sozialdemokratie im politischen Alltag ohnehin fließend. Max Lercher ist selbst ein Beispiel dafür, er war Bundesgeschäftsführer unter Christian Kern, dessen Reformkonzept › Plan A ‹ wenig mit der reinen sozialdemokratischen Lehre gemein hatte. Im vorigen Sommer gab Lercher mit dem burgenländischen Landeshauptmann Doskozil sogar ein harmonisches Doppelinterview in der Sonntags- Krone.

Außenstehende mag das erstaunt haben, denn Lercher forderte einst ein Wahlrecht für Ausländer auf kommunaler Ebene, während Doskozil in der Migrationspolitik den Hardliner und Türkis-Versteher gibt, der sogar nach einer präventiven Haft (›Sicherungshaft‹) für Asylwerber ruft. Lercher will an Doskozil dennoch keine Kritik üben. › Hans Peter Doskozil deckt eine Sichtweise in der Partei ab, die vor allem auch außerhalb von Wien unglaublich wichtig ist ‹, formuliert Lercher. Der burgenländische Landeshauptmann vertrete nichts anderes, als im Kaiser-Doskozil-Papier (› Integration vor Zuzug ‹) von 2018 drinsteht, meint er.

Im Doskozil-Kurs wird wohl auch der ganze Jammer der heutigen österreichischen Sozialdemokratie deutlich. Das Land hat mit der FPÖ und der türkisen ÖVP nun zwei Parteien, die jedes Politikfeld hemmungslos mit der Migrationsfrage verknüpfen. Ein Spiel, das von den großen Boulevardmedien bedient und befeuert wird. Es ist schwierig für Rote, da durchzudringen, selbst für einen Max Lercher in Lederhose.

Ein festes Erfolgsrezept gibt es für die SPÖ wohl ohnehin nicht, auch wenn die traditionelle Programmpartei es sich wünschen würde. Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer, der im Jahr 2006 einen der letzten erfolgreichen SPÖ-Wahlkämpfe bestritt, gab damals die Parole aus, alle wichtigen Themen von Asyl über Gesundheit bis Universitäten ausschließlich aus dem Blickwinkel der sozialen Frage zu diskutieren. Das klingt auch heute noch plausibel für eine SPÖ-Kampagne. Vielleicht sollte sie nicht unbedingt den Sound von Arbeiterliedern und Verstaatlichten-Nostalgie verströmen, obwohl Lercher das vermutlich anders sieht. Anfang Juli schrieb Lercher auf Facebook einen langen Aufsatz. › Niemand darf mehr normal sein.

Alles muss immer außergewöhnlich sein ‹, formulierte er. › Es ist nicht gut, wenn es nie genug ist. Es ist nicht gut, wenn du immer mehr Druck hast. Es ist nicht gut, wenn du nicht mehr normal sein darfst. ‹ Es war ein Text über die Fantasie vom Aussteigen, wie ihn auch unpolitische Menschen gerne mal verfassen und lesen. Ein Text, irgendwo zwischen Karl Marx und Buddha.

Das Posting bekam mehr als 1.400 › Gefällt-mir ‹-Angaben – mehr als die meisten Beiträge Lerchers. Er merkte, dass er eine gewisse Stimmung getroffen hatte. › Mir haben auch viele Frauen dazu geschrieben, die die ganze Last in ihrer Familie tragen ‹, erzählt Lercher. Später veröffentlichte er das Ganze so ähnlich noch mal als Gastkommentar im Standard . Titel : › Für eine neue Kultur der Normalität. ‹ Gut möglich, dass die Überschrift in ein paar Jahren auf roten Wahlplakaten stehen wird. •