Schenken Sie ein Jahr Lesefreude! Mit dem DATUM-Weihnachtsabo.

Der Sog der Hoffnung

Drei Brüder aus dem Senegal machen sich auf den Weg nach Europa. Einer stirbt, zwei werden zurückgeschickt. Beide wollen es wieder versuchen. Warum?

·
Fotografie:
Christian Bobst
DATUM Ausgabe September 2024

Als Mame das Containerschiff auf halbem Weg zum Horizont erblickt, stemmt er sich von den Brettern der Piroge hoch, die mitten im Antlantik treibt. Wochen, vielleicht einen Monat ist es her, dass er und die anderen in der Nacht etwas außerhalb ihres Fischerdorfes einstiegen, so genau weiß das keiner mehr. Wer auf den Tod wartet, schert sich nicht um Wochentage. ›Ich komme hier raus, ich komme hier raus‹, ruft er und stolpert zur Bordwand. Sein Bruder Ibrahim öffnet mühsam die Augen und dreht den Kopf. ›Zu weit‹, flüstert er. Doch Mame springt. Erst sieht Ibrahim ihn kraulen, dann hört er ihn schreien. Und dann ist da nichts mehr als Stille. 

Es war nicht das erste Schiff, das vorbeidampfte. Aber es war Mames letzte Hoffnung. Eigentlich sollten sie fünf, sechs Tage, nachdem sie das Fischerdorf Fass Boye im Senegal verlassen hatten, auf den Kanarischen Inseln ankommen, dem anderen Ende des Ozeans, dem Tor nach Europa. Doch erst blies der Wind sie vom Kurs, dann versagte der Motor, und nun trieben die Wellen sie immer weiter ab. Statt spanischer Orangen aßen sie die Sandkörner, die sie zwischen den Brettern noch fanden. 

Erst nach 36 Tagen erspähte ein Deckarbeiter eines Fischerboots sie mit dem Fernglas, die Wellen hatten sie wieder in den Süden geschwemmt, die Piroge trieb ungefähr zwischen dem Senegal und den Kapverden, den letzten ­Inseln vor dem Nichts, das Westafrika von der Karibik trennt. Für 38 Männer und Burschen war es die Rettung. Für 63 andere war es zu spät.

Wohl über keine andere Piroge, die auf dem Atlantik verschollen war, ist auf der ganzen Welt so intensiv berichtet worden. Und doch endet der Albtraum, den die Männer vergangenen Sommer durchlebt haben, oft ohne jeden Überlebenden. Von den dutzenden Pirogen, die jedes Jahr auf dem Weg von Afrika nach Europa verloren gehen, werden meist nur noch Wrackteile an Land gespült. 

Trotzdem, sagt Ibrahim, der seinen Bruder sterben sah und vor dem inneren Auge auch sich selbst, würde er sofort wieder einsteigen, würde noch heute eine Piroge ablegen.

Auch sein anderer Bruder Mamour werde gehen, sobald er das Geld dafür habe, sagt er. Jeder der drei Brüder hat sich schon ein Mal auf den Weg nach Europa gemacht, keiner kam dort an. Die beiden, die noch leben, sagen: Wir versuchen es so lange, bis wir es schaffen. Im Senegal gibt es viele wie sie. Sie verkaufen Kaffee oder Handys, ernten Erdnüsse oder studieren Literatur, es sind Männer und Frauen mit Kindern und Babys. Vor allem in den Fischerorten hält es viele nur noch, bis sie sich die 400.000 CFA-Franc für einen Platz in der Piroge nach Spanien zusammengespart haben, etwas mehr als 600 Euro. Sie hoffen auf ein besseres Leben am anderen Ufer, wie alle Fliehenden. Der Weg der Senegalesen aber ist besonders.

Buch Icon

Wörter: 4730

Uhr Icon

Lesezeit: ~ 25 Minuten

Diesen Artikel können Sie um € 1,50 komplett lesen

Wenn Sie bereits Printabonnentin oder Printabonnent unseres Magazins sind, können wir Ihnen gerne ein PDF dieses Artikels senden. Einfach ein kurzes Mail an office@datum.at schicken.

Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:

Diese Ausgabe als ePaper für € 6,00 kaufen

Genießen Sie die Vorteile eines DATUM-Printabos
und wählen Sie aus unseren Abo-Angeboten! Und Sie erhalten DATUM zehn Mal im Jahr druckfrisch zugesandt.