Der Topograf des Nazismus
Martin Pollacks Familie gehörte zur Elite der österreichischen Nationalsozialisten. Die Familiengeschichte des Journalisten, Slawisten, Übersetzers und Bestseller-Autors ist die Geschichte eines scheinbar vorgezeichneten Weges in den Hass und zeigt, dass es Nazis in Österreich gab, lange bevor man die Nationalsozialisten kannte.
Eitelkeit ist seine Sache nicht. Große Komplimente zu seiner Arbeit scheinen ihm nicht sonderlich zu schmeicheln. Besonnen, fast etwas abgeklärt wirkt der Autor, als wir ihn im vergangenen Frühjahr in seinem südburgenländischen Bauernhaus besuchen. Seine Adresse ist schwer zu finden. Die Gegend ist das, was man als „strukturschwache Region“ bezeichnet. Er brauche das Alleinsein, sagt Martin Pollack. Nicht nur Ruhe, sondern Stille, ohne könnte er nicht arbeiten.
Im Hof des Bauernhauses hat er sich von einem Architekten in Holzbauweise einen Kubus errichten lassen, eine Bibliothek, es ist der einzige Zubau. In Socken sitzen wir uns gegenüber. Von seinem Arbeitsplatz aus bietet sich ein Rundblick in die südburgenländische Landschaft. Auf dem Fensterbrett steht ein Fernglas. Er sei ein passionierter Beobachter, lächelt er verschmitzt.
Beobachten – und sich darin selbst zurücknehmen. Mit den bekannten Historikern, die den Österreichern in TV-Dokus und Schwerpunkten die Zeitgeschichte und die Geschichte des Nationalsozialismus näherbringen, wird Pollack selten in einem Zug genannt. Seine Bücher – vor allem „Der Tote im Bunker“, in dem er die Geschichte seines Vaters aufrollt, machte ihn im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt – nennt er „Berichte“.
Das ist ebenso treffend wie untertrieben. Sie sind nicht Sachbuch und nicht Recherche, sie sind nicht Autobiografie und nicht wissenschaftliche Aufarbeitung, sie sind nicht Kriminalistik und nicht Sinnsuche und Bilanz. So richtig passen sie in keine Kategorie, sie haben gleichsam ihre eigene erschaffen. In seinen Büchern macht Pollack die teils kaum verheilten Wunden sichtbar, die das 19. und 20. Jahrhundert in den Landschaften der ehemaligen Donaumonarchie wie auch in Mittel- und Osteuropa hinterlassen hat. Er sucht nach den Spuren von Terror, Verfolgung und Vertreibung, wo andere nichts mehr zu erkennen vermögen.
Pollack eröffnet in seinen Arbeiten eine Betrachtungsweise auf die österreichische Zeitgeschichte, wie sie kein Historiker, kein Journalist und kein Zeitzeuge liefern kann. Anhand der Geschichte seiner Familie, mit der er bis heute in schmerzhafter wie ambivalenter Weise verbunden ist, zeigt der akribisch Suchende vor allem eines: die Wurzeln der österreichischen Nationalsozialisten, des Nazismus. Wo andere auf „Hitlers Wien“ oder die Jugend des „Führers“ fokussieren, leistet Pollack seine eigene Art von Grundlagenarbeit. Seine Bücher zeigen, dass Antislawismus für die Genese des österreichischen Nazismus eine mindestens so große Bedeutung hatte, wie sie dem Antisemitismus in der Donau-Metropole Wien zukommt. Seine „Berichte“ führen uns eindrucksvoll und dabei leise, scharfsinnig und dabei distanziert vor Augen, dass es in Österreich Nazis gab, lange bevor der Begriff Nationalsozialisten bekannt wurde.
Martin Pollack ist Ende der fünfziger Jahre ungefähr 14, als er von seiner Mutter zum ersten Mal hört, wer sein leiblicher Vater war. Dass er bei der SS war und bei der Gestapo, recht viel mehr vermochte seine Mutter nicht zu erzählen, aber Pollack war damals alt genug, um zumindest eine Ahnung davon zu haben, was das bedeutete. Was genau sein Vater getan hatte, fand er erst im Laufe der Jahre heraus. Der Mann, über den seine über alles geliebten Großeltern im niederösterreichischen Amstetten, alle Verwandten und Freunde der Familie nur in den höchsten Tönen sprachen. Der „schneidig“ war und „immer ehrenhaft und anständig“, wie die Großmutter betonte, der es zu etwas gebracht habe. Dr. Gerhard Bast, SS-Sturmbannführer und Chef der Linzer Gestapo, später Leiter eines Sonderkommandos einer Einsatzgruppe im Osten, ein Mörder, ein international gesuchter Kriegsverbrecher. Die Leiche seines Vaters fand sich im April 1947 in einem Bunker am Brenner. Der NS-Offizier war beim Versuch, von Italien aus über die Grenze Richtung Innsbruck zu gelangen, von seinem Fluchthelfer ermordet worden.
Es beginnt mit Lächerlichkeiten
Das slowenische Laško, zu Deutsch Tüffer, ein beschaulicher kleiner Marktflecken zwölf Kilometer südlich der Stadt Celje/Cilli, heute kennt man den Ort vor allem wegen der gleichnamigen Brauerei. Dorthin verschlägt es gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Rheinländer Paul Bast, dort heiratet er die Tochter eines angesehenen Bürgers, eröffnet eine Gerberei und kauft am Marktplatz ein großes Haus, das manchen Alten im Ort noch heute als Bastova hiša, Bast-Haus, bekannt ist. Es wird zum Ausgangspunkt einer Geschichte der Radikalisierung, eines Weges in die Gewalt.
In der Untersteiermark, heute Štajerska, leben mehrheitlich Slowenen, in vielen Sprachinseln und Orten wie auch in Tüffer bilden aber die Deutschsprachigen die Mehrheit. Fast das gesamte gesellschaftliche Leben verläuft getrennt, es gibt deutsche und slowenische Gasthäuser, Sparkassen und getrennte Gottesdienste in den Kirchen. Vereine spielen auf beiden Seiten eine wichtige Rolle, Radfahrer, Gesangsrunden oder Turnvereine. Das Klima um die Jahrhundertwende beginnt sich im erstarkenden Nationalismus aufzuheizen, die Slowenen nehmen sich vor allem an den selbstbewussten Tschechen, die sich national in der Habsburgermonarchie stark emanzipieren, ein Vorbild. Es sind zuerst Kleinigkeiten, die Deutsche und Slowenen aneinandergeraten lassen – und doch sind es die ersten Schritte in eine unversöhnliche Spirale der Abneigung, des Antagonismus, des Hasses. Deutsche Radfahrer, die im nahen Celje/Cilli einen Verein gegründet hatten, werden bei demonstrativen Ausfahrten mit Steinwürfen von slowenischer Seite bedacht; ein übermütiges „živio!“ (Hoch! oder Prost!) eines betrunkenen Jugendlichen beim Kirchweihfest reicht den Deutschen als Provokation, und schon fliegen Fäuste oder Bierkrüge. Die Deutsche Wacht verzeichnet, getreu ihrem Namen, jeden dieser Zusammenstöße genauestens. Schuld an den Eskalationen sind im Hauptorgan der Deutschsprachigen natürlich immer die Slowenen.
Bei den Schlägereien langen auch gebildete Bürger zu, deren Kinder in Celje/Cilli das deutsche Gymnasium besuchen. Zu diesen privilegierten Bürgerkindern gehören vier der acht Kinder des Ehepaars Bast, allen voran die Brüder Rudolf und Ernst. In einem Zeitungsartikel werden die beiden erwähnt, als sie am Bahnhof in Laško/Tüffer Streit suchen und Parolen brüllen: „Hier wird Deutsch gesprochen!“
Das Ciller Gymnasium spielt eine maßgebliche Rolle für den Weg der Gebrüder Bast. Dort erlangen sie nicht nur die Bildung, die ihnen den Status der bürgerlich-deutschen Elite in ihrer Heimat verleiht, dort tauchen sie vor allem tiefer in das deutschnationale, völkische Gedankengut ein. „Grenzlanddeutsche“ nennt man sich, man sieht sich als „Bollwerk gegen die slawische Flut“. Um das Cillier Gymnasium entbrennt in jener Zeit, als auch Pollacks Großvater Rudolf Bast es besucht, ein Streit, der wie kaum ein anderes Ereignis für den unversöhnlichen Nationalismus dieser Zeit steht. Die deutschen Schüler („die feuchtohrigen Nachkommen einstiger rothaariger Germanen“), so schreiben slowenische Zeitungen, würden auf Versammlungen dem deutschen Kaiser Wilhelm und Otto von Bismarck huldigen und Österreich-feindliche Lieder singen. Die Slowenen, die ihre Kinder ebenfalls auf das deutsche Gymnasium schickten, verlangen die Einrichtung von Parallelklassen. Nach Monaten des Streits, der die gesamte Monarchie beschäftigt, wird ein Untergymnasium eingerichtet. Der „Cillier Schulstreit“ führt in Wien schlussendlich zum Sturz einer Koalitionsregierung.
Auf dem Gymnasium war 1885 die Ferialverbindung Deutscher Hochschüler in der Untersteiermark „Germania“ gegründet worden. Es ist die Vorläuferverbindung der schlagenden, deutschnationalen Burschenschaft Germania zu Graz. Rudolf und Ernst Bast treten beide der Burschenschaft bei, als sie später in Graz Jus studieren, ebenso wie Rudolfs Sohn Gerhard, Pollacks Vater. Als Kind, sagt Martin Pollack, habe er geglaubt, Schmisse gehörten zu einem Männergesicht wie der Bartwuchs.
Als Pollack begann, über seinen Vater zu recherchieren, ließ er seine Frau, die einen anderen Namen trägt, bei den „Germanen“ in Graz anrufen. Ob es einen Bundesbruder mit Namen Bast gebe? „Was heißt einen, vier!“ Zum Beweis schickten die Burschenschafter Pollacks Frau eine Fotokopie eines gerahmten Bildes, darauf zu sehen Pollacks Vaters Gerhard Bast, in SS-Uniform. Ob das gerahmte Bild seines Vaters in Nazi-Uniform auch heute noch in den Räumlichkeiten der Grazer Germanen hängt, weiß Martin Pollack nicht.
„Ohne Juda, ohne Rom / wird gebaut Germaniens Dom“
Von den Habsburgern in Wien fühlen sich die „Grenzlanddeutschen“ verraten, verhöhnt und in ihrem „heroischen Abwehrkampf“ im Stich gelassen. Franz-Joseph, der katholische Kaiser, halte es mit den Slawen und mit den „windischen Hetz-Pfaffen“, ist die Meinung im Bast-Haus in Tüffer. Auch wenn die Deutschsprachigen mehrheitlich katholisch bleiben: Die Pfarrer spielen ihre Rolle im wachsenden Selbstbewusstsein der Slowenen – und ziehen den Hass der Deutschen auf sich.
Wie so viele Vertreter der deutschsprachigen, bürgerlichen Oberschicht wenden sich auch die Bastischen von Habsburg ab und dem Protestantismus zu, dem „natürlichen deutschen Glauben“. Im Wohnzimmer hängt statt des Habsburgers das Bild des preußischen Kaisers, bei Ausflügen wird die „Wacht am Rhein“ gesungen, am Revers findet sich das Symbol der Völkisch-Deutschnationalen, die blaue Kornblume.
Als Gerhard Bast 1911 in Gottschee geboren wird, ist dessen Vater Rudolf bereits zu den Protestanten übergetreten. In der deutschen Sprachinsel Gottschee arbeitet Rudolf Bast als Konzipient in einer Rechtsanwaltskanzlei, im Zentrum seines politischen Denkens steht nun die „Alldeutsche Bewegung“ des Antisemiten Georg von Schönerer. „Ohne Juda, ohne Rom / wird gebaut Germaniens Dom“, lautet der Leitspruch. Der bei jeder Gelegenheit vor sich hergetragene Antisemitismus und radikale Antislawismus findet im Privaten oft keine Entsprechung. Bei seinen ausgedehnten Jagdaufenthalten im Gottscheer Hornwald, wo Rudolf Bast eine kleine Blockhütte gepachtet hat, begleiten ihn auch befreundete Slowenen, die seine Jagdleidenschaft teilen. Guido Prister beispielsweise ist der Sohn eines jüdischen Holzhändlers und der Schwester von Rudolf und Ernst Bast, Josefine. Obwohl Prister in der Nazi-Diktion Halbjude ist, gehört er zum engsten Kreis der Familie. Ein Foto von zeigt Prister in bester Laune zwischen Rudolf und „Gusti“ Schmidinger, dem Schwager von Ernst Bast, ebenfalls „Germane“, auf einer Wanderung in der Untersteiermark. Die beiden Burschenschafter tragen „Steirerg‘wand“, Lederhosen und weiße Stutzen, die den Slowenen verhasste Tracht der Völkisch-Deutschnationalen. Prister ist „einer der Unsrigen“. „Die Unsrigen“, das ist in der Lesart der Bast-Familie die Verdichtung der Ambivalenz ihres radikalen Deutschnationalismus und Antisemitismus und der privaten Realität in der Untersteiermark. Sie verdeutlicht, dass die politische Religion, der sich die Bastischen fortan und bis zu ihrem Lebensende verpflichtet fühlten, nicht notwendiger Weise bis in die letzte Konsequenz verfolgt werden musste. Mit Guido, dem „Halbjuden“, sitzt Gerhard Bast auch nach 1938 gerne in Laško/Tüffer zusammen, als er bereits zwei Jahre lang in der Grazer Gestapo und dem Sicherheitsdienst der SS „Dienst versehen“ hatte. Es wird viel getrunken und Nussstrudel gegessen, für den der Mann seiner Tante Pauline, ein Slowene namens Drolc, Nüsse gesammelt hatte.
Rudolf Bast übersiedelt, zusammen mit seiner Frau und Sohn Gerhard, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Amstetten. In der niederösterreichischen Kleinstadt knüpft der Anwalt mühelos im dortigen deutschnationalen Milieu neue Bande. Er tritt der Deutschnationalen Volkspartei bei und engagiert sich in der lokalen Gruppe des Schulvereins „Südmark“, der später in der Untersteiermark verboten wird. Die Verbitterung, die eine ganze Generation von „Deutschdenkenden“ nach dem Waffenstillstand vom Winter 1918 erlebt, erfasst auch Rudolf Bast. Im August 1931 tritt er in die NSDAP ein, sein Sohn Gerhard, seit 1929 Just-Student in Graz und begeisterter „Germane“ wie sein Vater, folgt im Oktober 1931. Ein Jahr später schließt Gerhard Bast sich in Graz der SS an.
Alles ehemals deutsche Gebiete
Die Geschichte des Weges der Familie Bast in den Nazismus ist beispielhaft. Es ist ein geradezu prototypischer Werdegang für zahlreiche Vertreter der späteren Elite der österreichischen Nazis: Deutsche aus gemischtsprachlichen Grenzgebieten mit ihrem chauvinistischen Nationalismus, Hass auf das katholische Wien der Habsburger, Protestantismus, radikaler Deutschnationalismus der Schönerer-Bewegung und Burschenschaften. Vom besonders radikalen steirischen Heimatschutz wechselten sie, sobald klar war, dass Hitler die extreme Rechte einigen werde, in die Nazi-Partei. Die „Alten Kämpfer“ Rudolf und sein Sohn Gerhard Bast saßen als illegale Nazis in den Lagern des Austrofaschismus, trotz aller Repression setzten sie sich bis zum sogenannten „Anschluss“, der besonders in Graz einer Machtergreifung gleichkam, vehement für ihre Ideologie ein.
Besonders der Weg von Pollacks Vater scheint vorgezeichnet, bestimmt durch die Familie und den Bildungsweg. Eine Frage aber kann sich Martin Pollack, trotz all der intensiven Recherchen, auch heute nicht beantworten. Wieso wählt sein Vater, von all den Möglichkeiten, die sich dem „alten Kämpfer“ und Akademiker nach 1938 eröffnet haben, ausgerechnet eine Karriere in der Gestapo? Vom ersten Moment an war Gerhard Bast am Terror des NS-Regimes an zentraler Stelle beteiligt. Es muss ihm lange vor seinem Eintritt klar gewesen sein, wofür die Gestapo steht, dass die Arbeit der elitären Geheimpolizei Himmlers und Hitlers Deportation, Mord, Vernichtung bedeutet.
Diese Frage, sagt Pollack, begleite ihn seit Jahren „wie ein dunkler Schatten“. Und er wisse, dass er ihn nie abschütteln könne. „Dein Vater war ein Idealist“, erwiderte Pollacks Großmutter auf seine Fragen.
Dass Martin Pollack sich als Jugendlicher aus dem Nazi-Milieu seiner Familie lösen konnte, verdankt er vor allem einer Entscheidung seines Stiefvaters. Der Bankbeamte und Kunstmaler Hans Pollack, selbst überzeugter Nationalsozialist, war von allem Handwerklichen fasziniert: Etwas selbst herstellen oder reparieren zu können, war für ihn ein hoher Wert. Pollack entschied deshalb, seine beiden Söhne in ein Internat nach Salzburg zu geben. Das Realgymnasium Werkschulheim Felbertal war in den 50er-Jahren so etwas wie ein Pilotprojekt, in dem man sowohl einen Lehrabschluss als auch die Matura ablegen konnte. Die Schule beschreibt Martin Pollack als „Hort des Fortschritts und der Toleranz“, Schüler und Lehrer gestalteten das Leben und Lernen im Internat beinahe basisdemokratisch. Die Schule immunisierte Pollack gegen das zu Hause in Linz und Amstetten gepflegte Gedankengut. Versuche der Großeltern, ihn in Richtung einer Burschenschaft zu drängen, gab es immer wieder. Das Salzburger Internat aber sorgte für räumliche Trennung, die Lehrer und die Schulkameraden für eine Persönlichkeitsbildung, die Voraussetzung für den Bruch mit dem Nazi-Umfeld seiner Familie war.
Für Pollacks leiblichen Vater Gerhard suchte Großvater Rudolf Bast eine ganz andere Schule aus. Von allen Gymnasien, die für den Anwalts-Spross zur Auswahl standen, musste es das Schauer-Gymnasium in Wels sein. In deutschnationalen Kreisen genoss die Schule einen ausgezeichneten Ruf. Dort unterrichtete Moritz Etzold, Leiter des „österreichischen Turnerbundes“. „Frisch, fromm, fröhlich frei“ – die vier „F“ aus dem Leitspruch waren wie bei einem Hakenkreuz angeordnet. Das Symbol trugen nach 1934 die illegalen Nationalsozialisten als Erkennungszeichen. Etzold stieg später zum NSDAP-Kreisschulungsleiter auf und starb 1959.
1951 feiert das BRG Wels sein fünfzigjähriges Bestehen mit einem Festakt. „Freitag, 28. September: 19:30 Uhr: Fackelzug“, ist im Programm zu lesen. Am nächsten Tag, 8:00 Uhr: „Kranzniederlegung an der Ehrentafel der Gefallenen in der Aula“. Die Festschrift würdigt die gefallenen ehemaligen Schüler und Lehrer namentlich: „Im Zweiten Weltkrieg opferten ihr Leben“, steht über der Liste. Darunter: Bast, Dr. Gerhard – der 1947 am Brenner erschossene, SS-Sturmbannführer, Gestapo-Chef in Linz und gesuchter Kriegsverbrecher.
Noch in den frühen 1960er-Jahren herrschte im Bundesgymnasium in der Welser Schauerstraße der autoritäre Geist der NS-Zeit. Ehemalige Schüler erzählen vom cholerischen Direktor, der gefürchtet war und den man in den Gängen der Schule brüllen hörte, von einer Stimmung der Angst und von herrschsüchtigen Professoren. Wer bei Geografie-Professor Ferdinand Kührer unvorbereitet zur Prüfung erschien, der erklärte diesem einfach auf der Wandkarte, was alles „ehemals deutsche Gebiete“ gewesen waren, das brachte zumindest eine positive Note ein. „Heil dem Führer, Ferdinand Kührer“, ging das Wort unter den Schülern.
Auch „Onkel Nesti“, wie Pollack den Bruder seines Großvaters, Ernst Bast, nannte, hatte einen Sohn. Gunther Bast studierte ebenfalls Jus, in Wien schloss er sich der Burschenschaft Olympia an, pflegte Kontakt zu Rudolf Burger, dem rechtsextremen FPÖ-Politiker und Gründer der „Nationaldemokratischen Partei“, die 1988 nach dem Verbotsgesetz behördlich aufgelöst wurde. Regelmäßig pilgerte Gunther in der Nachkriegszeit nach Braunau, zum Geburtshaus Adolf Hitlers. Er verstarb 2014, Kontakt zu Pollack lehnte Gunther Bast bis an sein Lebensende ab. In Pollacks Archiv findet sich eine Zeichnung, die Gunther seinem Vater Ernst 1934 als Sechsjähriger zu Weihnachten geschenkt hatte. Es zeigt den 1914 vor den Falkland-Inseln von den Engländern versenkten Panzerkreuzer „Scharnhorst“, übersät mit kindlich-gekritzelten, spiegelverkehrten Hakenkreuzen.
„Hey Babariba, die Nazi kommen wieder …“
Die Männer der Familie Bast behielten ihr Selbstbild als Elite der „nationalen Bewegung“ auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus der Verantwortung stahlen sie sich aber wie abertausende andere österreichische Nazis heraus. Pollacks Großvater Rudolf versuchte, seine NSDAP-Mitgliedschaft auf das Jahr 1938, als hunderttausende in die Partei eintreten wollten, vorzudatieren. Kurz befand sich der ehrenhalber in die SS aufgenommene Jurist nach Kriegsende zwar in Haft, wurde sogar nach Nürnberg überstellt, gelangte aber nach kurzer Zeit wieder ins Lager der „Ehemaligen“ in Glasenbach zurück. Seinem Bruder Ernst, vorsichtiger und besser vernetzt als sein Bruder, geschah gar nichts.
In Linz blieben Pollacks Mutter und sein Stiefvater ihrer Gesinnung ebenfalls treu – wenn auch in nicht in so virulenter Form wie die Verwandtschaft in Amstetten. Wo andere sich bereits den neuen Verhältnissen angepasst hatten, blieb die Mutter, in einer Art von elitärem Bewusstsein oder einfach Hartnäckigkeit, beim Bekenntnis „Gottgläubig“, ein eindeutiges Statement der unverbesserlichen Nazis, das der Familie manchen Nachteil brachte. Des Öfteren empfingen die Pollacks in Linz auch Besuch von Gesinnungsgenossen, aus Deutschland kam etwa ein groß gewachsener Herr, der als Peter Langer vorgestellt wurde. Er arbeitete in einem Schulbuchverlag, brachte den Kindern Bücher mit. Es dauerte Jahre, bis Martin Pollack erfuhr, dass der schlaksige Mann in Wirklichkeit Viktor Nageler hieß. Der SS-Obersturmbannführer war ein Freund seines leiblichen Vaters und hatte mit ihm in der Slowakei zusammengearbeitet, als Verbindungsmann zwischen SS und der faschistischen Hlinka-Garde. In der Slowakei stand er auf den Fahndungslisten, ihm drohte die Todesstrafe. Öfter zu Besuch war auch Joseph Hieß, seit 1933 NSDAP-Mitglied und hoher Funktionär im „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“. In den frühen 60er-Jahren gründete Hieß den „Verein Dichterstein Offenhausen“, der erst in den 90ern wegen NS-Wiederbetätigung aufgelöst wurde.
Ein Moment aus jener Zeit ist Pollack besonders klar in Erinnerung: Seine Mutter stand im Garten des Linzers Hauses und begann aus heiterem Himmel zu singen: „Hey Babariba, die Nazi kommen wieder …“. Empfindet es Martin Pollack als Pflicht, die Geschichte seiner Familie zu erzählen? Er habe das immer abgewehrt, sagt er. Doch als er im Rahmen seines Slawistik-Studiums nach Polen reiste, da habe etwas in ihm zu arbeiten begonnen. Bald danach kam es auch zum Bruch mit seinen Großeltern. Wenn er jemals eine Polin oder eine Jüdin heiraten würde, würde sie ihm das nie verzeihen, dann sei es aus, schrieb ihm damals seine Großmutter. Pollack schickte der Großmutter einen „pathetischen Brief“ zurück, es war der endgültige Bruch.
Heute blicke er darauf mit einer Mischung aus Scham und Wehmut zurück. Nicht er sei es gewesen, der seine Familie verlassen habe. Viel eher empfindet Pollack bis heute das Gefühl einer schmerzhaften Trennung, wenn er über seine Familie spricht. Die Entfremdung, die sein eigener Weg, weg von Amstetten und Linz, über das Salzburger Internat und das Studium in Wien und Warschau und schließlich die Aufarbeitung des Nazismus seiner Großeltern und Verwandten mit sich gebracht hatte, habe ihn in seiner Familie zu einem Ausgestoßenen gemacht. Wie alle anderen Details legt er als Beobachter auch diese intime Innensicht bereitwillig und offen dar. Ist diese Offenheit, wenn nicht Pflicht, dann Bedürfnis? Martin Pollack denkt lange nach, dann lächelt er. „Man kann alle Geschichten erzählen. Vielleicht muss man das auch.“ •