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Dicht an dicht

In Wien wird’s eng. Nachverdichtung schafft leistbaren Wohnraum – und verärgerte Mieter.

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Illustration:
Nicola Ferrarese

Die Anfang 60-jährige Doris ist eine ruhige Frau – oft lässt sie ihren Mann für sich antworten und steigt erst ein, wenn sie noch etwas hinzufügen will, das er vergessen hat. Heute wippt ihr Knie nervös auf und ab. Sie nippt an ihrem mittlerweile kalten Kaffee und erzählt mehr als ihr Mann. Ihr Blick schweift von der grünen Hundezone über die weit entfernte Spitze der Kirche am Kahlenberg, schräg rechts hinüber zum kleinen Fußballplatz. Am grauen Parkdeck unter ihrer Wohnung bleibt er hängen. Zweimal sechs Stockwerke schnörkellosen Wohnbaus sollen hier entstehen, eine gefühlte Armlänge von ihrem Balkon entfernt. Einverstanden ist Doris damit nicht. ›Bald koche ich den Kaffee für die Nachbarn einfach mit und reich’ ihn morgens rüber ins neue Haus‹, lacht sie bitter. Mit jedem Meter, den die neuen Bauten Richtung Himmel wachsen, verlieren Doris und Christian an Wohnqualität – Mietminderungen gibt es aber keine. Die Zeiten haben sich geändert, hier im Wiener Außenbezirk. Wohnraum ist knapp. Der Außenbezirk ist jetzt City.

Das Ringen um die Entwicklung der Stadt, es ist noch nicht entschieden. Wien wächst seit Jahren stark, der Bedarf an Wohnraum steigt. Ebenso die Mieten. Die Frage, wie im Wien der Zukunft leistbar, sozial und nachhaltig gewohnt werden kann, ist nicht endgültig geklärt. Die Suche nach der Antwort führt in die Politik, in Investmentbüros, zu Stadtplanern und Bauträgern. Und sie führt in die Wohnungen der Menschen, die von städtischen Transformationsprozessen wie Nachverdichtung betroffen sind. Durch einen langen, lichtlosen Gang in eine 2,5-Zimmer-Wohnung, im zweiten Stock eines Genossenschaftsbaus in Wien-Donaustadt; an den hellen Esstisch im Wohnzimmer von Doris und Christian. 

Im Jahr 2002 zog Doris aus einem Dorf in Niederösterreich in die Stadt. Damals hatte Wien 1,57 Millionen Einwohner. Nach den Zahlen der Statistik Austria waren es im Jahr 2018 schon rund 1,88 Millionen – und den Prognosen nach wird die Anzahl der Wiener im Laufe der nächsten Dekade auf zwei Millionen anwachsen, auf einer Fläche von 414 Quadratkilometern. In Hamburg leben annähernd so viele Einwohner auf fast doppelt so viel Fläche. Die Situation verlangt nach zusätzlichem, leistbarem Wohnraum. 

Das Ringen um die Entwicklung der Stadt ist noch nicht entschieden.

Die Wiener Mieten aber sind zwischen 2008 und 2016 um 43 Prozent gestiegen, sagt eine Studie der Wiener Arbeiterkammer. Das ist dreimal mehr, als es die durchschnittliche Inflation prognostizieren würde. Und trifft sogar Personen mit mittlerem Einkommen, vor allem aber Haushalte mit geringem Einkommen, die auf leistbares Wohnen angewiesen sind. Im preisgeschützten sozialen Wohnbau betrug die Mietsteigerung im gleichen Zeitraum nur zehn Prozent. Deshalb herrscht weiterhin hohe Nachfrage nach Gemeindewohnungen. Aber wo sollen sie entstehen? 

Eine Lösungsstrategie heißt Nachverdichtung: die nachträgliche dichtere Bebauung von Gebieten in der Stadt. Gebieten wie die Nachbarschaft von Doris und Christian. Wo die beiden leben, wird gemeinhin als ›draußen‹ bezeichnet. Im 22. Bezirk, auf der anderen Seite der Donau, zahlt das Paar 650 Euro warm für 80 Quadratmeter. Eine vergleichbare Wohnung zu einem ähnlich günstigen Preis würden sie so schnell nicht finden, da sind sie sicher. Sie stecken in einem Dilemma: Zum einen könnten sie sich eine Wohnung gleichen Standards nicht mehr leisten. Sie wohnen im geförderten Wohnbau, sie profitieren davon. Zum anderen betrifft sie das Instrument, das der Mietsteigerung entgegenwirken soll. ›Nach­verdichten? Ja klar! – Aber doch nicht hier.‹ Es ist das Floriani-Prinzip der Stadtentwicklung.

Für Menschen, die aus Städten wie München oder London nach Wien ziehen, scheint der Wiener Wohnungsmarkt immer noch wie eine Insel der Seligen. Der Mythos des perfekten Wohlfahrtsstaates der 70er-Jahre hält dem Blick von außen auch im Jahr 2019 noch stand. Dadurch, dass in Wien vergleichsweise wenig privatisiert wurde, wohnen immer noch rund 60 Prozent der Wiener Bevölkerung in einer geförderten oder Gemeindewohnung. Und der Wohnungsmarkt ist für eine Weltstadt tatsächlich überraschend entspannt. 

Aber auch in Wien ist eine problematische Entwicklung schon absehbar. Das zeigt die aktuelle Studie der Arbeiterkammer zur Wohnsituation von jungen Menschen in Wien. Darin sieht das Wiener Wohnen nicht ganz so rosig aus, wie es der Titel des Economist als ›lebenswerteste Stadt‹ suggeriert. Sechs von zehn Befragten geben nämlich an, dass es für sie schwierig war, eine Wohnung zu finden, die ihren Vorstellungen entspricht. Elf Prozent sagen, dass sie sich wegen ihrer Miete andere Dinge, die ihnen wichtig sind, kaum mehr leisten können. Und weitere 54 Prozent sagen, dass sie sich wegen ihrer Miete zumindest einschränken müssen. Zwar ist das Wohnen in Wien im Vergleich zu anderen Großstädten immer noch günstig. Aber um das in Zukunft weiterhin zu gewährleisten und dem Druck auf den Wohnungsmarkt standzuhalten, besteht dringender Handlungsbedarf.

Wenn nun bald auf dem Parkdeck gegenüber von Doris und Christian gebaut wird, dann ist ein kleiner Schritt in Richtung Umsetzung des Stadtentwicklungsplans 2025 gemacht. ›Pilotprojekte sollen den Mehrwert von Qualitätsverbesserungen und Nutzungsverdichtungen exemplarisch zeigen‹, heißt es darin zum Beispiel. Oder: ›Flächenreserven sollen konsequent genutzt werden.‹ Pläne, die leistbares Wohnen für alle auch in Zukunft sichern sollen. Leistbares Wohnen, auf das auch Doris und Christian angewiesen sind. Zu enge Bebauungen, weniger Parkplätze, Verständigungsprobleme, versperrte Blicke. Bewohner wie Doris und Christian, die an Wohnqualität verlieren, spüren die Nachteile der eigentlich nachhaltigen und sozialen Strategie Nachverdichtung. Hart aber fair?

Vielleicht, nur dass Nachverdichtung keineswegs alle Wiener Gemeindebezirke gleich trifft. In kleineren Innenstadtbezirken wie der Josefstadt sind gerade einmal 30 Prozent der Flächen frei, das heißt: Nachverdichtet wird dort im Bestand. Ausbauen, anbauen, aufstocken. Die Forschungsgruppe Attic Adapt 2050 von der Universität für Bodenkultur hat berechnet, dass 34.400 Wohnungen entstehen könnten, wenn die Dachgeschoße der Gemeindebauten aus den Jahren 1950 bis 1970 ausgebaut würden. In der Donaustadt, bei Doris und Christian, ist nur ein Viertel der Flächen verbaut und Stadtentwicklung auf noch ungenutzten Flächen möglich. Hier heißt Nachverdichtung: leerstehende Flächen nutzen. Und so wurde das Parkdeck unter Doris’ Balkon in Bauland umgewidmet. Unter der Prämisse, dass ein Teil der neu entstehenden Wohnungen für karitative Zwecke genutzt wird. Grundlage ist die neue Kategorie für Flächenwidmung ›Geförderter Wohnbau‹. Auf diesen Flächen werden zwei Drittel der Wohnungen gefördert, das hat die Stadtregierung mit der Novelle der Bauverordnung im Dezember 2018 beschlossen. Die Wiener Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál von der SPÖ sieht darin ›einen Meilenstein, um das leistbare Wohnen langfristig sicherzustellen.‹

›Zu enge Bebauungen, weniger Parkplätze, Verständigungsprobleme, versperrte Blicke. Bewohner wie Doris und Christian spüren die Nachteile der Strategie Nachverdichtung.‹

Wer mit dem Auto aus Wien hinausfährt, rollt durch ein Umland mit Einfamilienhäusern und großen, eingezäunten Gärten, Shoppingcentern in karger Landschaft und durch kaum belebte Ortskerne. Dieser Anblick hat einen Namen: Zersiedelung. Nach Zahlen des Bundesumwelt­amtes beträgt der jährliche Bodenverbrauch für Neubebauung in der EU rund 1.000 Quadratkilometer. Das ist mehr als die doppelte Fläche von Wien. In Österreich sind bereits 41 Prozent der Böden versiegelt. Täglich kommen 12,7 Hektar dazu, eine Fläche so groß wie 15 Fußballfelder. Österreich ist damit wenig stolzer Europameister der Zersiedelung. Versiegelter Boden verliert all seine biologischen Funktionen. Pflanzen und Tiere können sich in diesen zerschnittenen Landschaften schlechter ausbreiten und vermehren, das Hochwasserrisiko steigt – und Versiegelung rückgängig zu machen, ist langwierig: Die Neubildung einer Ein-Zentimeter-Schicht Humus dauert 100 bis 200 Jahre. ›Um Zersiedelung und damit auch Versiegelung zu vermeiden, muss nachverdichtet werden‹, erklärt die Wiener Architektin und Raumplanerin Freya Brandl: ›Die Nachfrage nach Wohnungen und Gebäuden ist riesig, und Wien hat kaum freie Bauplätze.‹ Ein weiteres Problem der Zersiedelung sind ihre sozialen Auswirkungen: Da kaum kulturelle Angebote, Museen, Schwimmbäder und Bibliotheken in der näheren Umgebung zu finden sind, müssen die meisten Wege mit dem Auto zurückgelegt werden. Das ist eine Belastung für die Umwelt, schließt Menschen an den Spektrumsenden der Alters­pyramide aus und geht auf Kosten finanziell schwächerer Personen, die sich eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben so nicht leisten können. Bei der Nachverdichtung überwiegen verglichen damit eindeutig die Vorteile. 

Diese Vorteile sieht auch Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál: ›Es ist bereits eine entsprechende Infrastruktur vorhanden und muss nicht erst geschaffen werden.‹ Die Stadt hält für den sozialen Wohnbau aktuell Flächenreserven im Umfang von rund 2,8 Millionen Quadratmetern. Mit großen Projekten, wie der Bebauung des früheren Nordbahnhofs im zweiten Bezirk, der Aspanggründe im dritten Bezirk, des Sonnwendviertels im zehnten Bezirk oder der ehemaligen Mautner-Markhof-Gründe im elften Bezirk, wurden in den letzten Jahren erste Schritte zur Entlastung des Wohnungsmarktes unternommen. In diesen ehemaligen Brachstätten sind mit finanzieller Unterstützung der Stadt tausende Wohnungen entstanden, auch Parks, Kindergärten, Schulen, Treffpunkte für die Bewohnerinnen und Bewohner und Arbeitsplätze. 

Wie aber erklärt man den betroffenen Personen, dass gerade sie die Nachteile von Nachverdichtung tragen müssen? Dass sie an Wohnqualität verlieren sollen, damit das Wohnen leistbar bleibt? ›Es ist wichtig, die betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner zu informieren und frühzeitig einzubinden‹, meint Stadträtin Gaál. ›Dabei stehen kompetente Ansprechpartnerinnen und -partner für Informationen, aber auch Kritik und Anregungen zur Verfügung.‹ Es sollen gemeinschaftlich Lösungen gefunden und Konflikte schon antizipiert werden, bevor sie entstehen, sagt die Stadträtin. Wenn Kathrin Gaál von Ansprechpartnern spricht, meint sie auch Sozialraumexperten wie Christoph Stoik: ›Problematisch ist, dass von Nachverdichtung eher Menschen aus ökonomisch schwächeren Milieus betroffen sind. Nachverdichtet wird ja weniger in Villengegenden, sondern in den großflächigen Bezirken, in Industriebrachen und zukünftig wahrscheinlich auch mehr auf bestehenden Grundstücken im gemeinnützigen Wohnbau‹, erklärt der Studiengangsleiter der Sozialraumorientierten Sozialen Arbeit an der FH Campus Wien in Wien Favoriten. ›Das Vermitteln zwischen dem Interesse der Stadt, leistbaren Wohnraum zu schaffen, und den Menschen, die die Nachteile zu spüren bekommen, ist ein politischer Drahtseilakt.‹ Stoik vertritt die Interessen der Menschen, deren Lobby nicht stark genug ist: ›Es findet quasi eine Umverteilung von Raum von unten nach oben statt. Während in Stadtlagen mit höheren Einkommen Wohnungen zusammengelegt werden und die Quadratmeteranzahl pro Kopf zunimmt, steigt die Dichte in Stadtlagen mit größeren Wohnhausanlagen. Dass Menschen da Widerstand leisten, ist nachvollziehbar.‹ Er meint verärgerte und ernüchterte Menschen, die nicht einfach wegziehen können, weil sie auf günstige und geförderte Wohnungen angewiesen sind – Menschen wie Doris und Christian.

›Das Vermitteln zwischen dem Interesse an leistbarem Wohnraum und den Menschen, die dessen Nachteile spüren, ist ein politischer Drahtseilakt.‹

Die beiden Donaustädter sprechen bei einer zweiten Tasse Kaffee über die Gegend, die ihr Leben in den letzten 16 Jahren geprägt hat. Abends gehen sie manchmal in ihr Lieblingsbeisl ums Eck, hier treffen sie die Leute, die über die Jahre zu Freunden geworden sind. Ruhig sei es hier, nett und günstig. Manchmal geht Christian abends zu Fuß zur Alten Donau, manchmal joggen, meistens aber trinkt er lieber ein Bier am Wasser. Auch Doris ist gern dort, sie sucht die Ruhe. Ihnen gefällt es hier. Im Wohnhaus der beiden gibt es kaum Probleme, zumindest keine, über die man sprechen müsste – die Arbeitslosigkeit ist gering, man kennt und grüßt sich. Und wer sich entschieden hat, hier draußen zu wohnen, der bleibt meist auch lange. Dass es in den angrenzenden Wohnbauten eine starke internationale Zuwanderung, eine größere Arbeitslosigkeit und eine relative Einkommensarmut gibt, spüren die beiden bisher kaum. Und so beunruhigt sie der Gedanke, dass der Gemeindebau nebenan auch für ›karitative Zwecke‹ genutzt werden soll. Die Fläche unter ihrem Balkon wurde unter der Bedingung umgewidmet, dass Teile davon sozialer Wohnbau seien. Sie haben gehört, dass in den neuen Bauten ganze Stockwerke Asylwerbern zugesprochen werden sollen. Oder einem Pflegeheim. ›Es ist alles so unsicher‹, sagt Doris. 

Wie ließe sich der Unmut von Doris und Christian schon im Vorhinein vermeiden? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Stadtplaner Ernst Gruber. Mitte 30, Architekt und Raumplaner, wirkt er wie der perfekte Repräsentant für die junge, urbane, obere Mittelschicht. In seinem Büro im achten Wiener Gemeindebezirk arbeitet er an dem Problem, das sich als Kernfrage in Nachverdichtungsprozessen entpuppt: Wie können städtische Transformationsprozesse einen gesamtgesellschaftlichen Konsens erreichen? Also: Wie lässt sich die Stadt für neue Bewohner ausbauen, ohne die alten zu vergraulen? Er hat Visionen für ein Wien, in dem Bürger in Stadtplanungsprozesse mit eingebunden werden. 

Vom runden Sitzungstisch in der Mitte seines offenen Büros blickt er sehnsuchtsvoll nach Deutschland, er schwärmt von Berlin und Hamburg. Städten, deren Wohnungsmarkt prekärer ist als der in Wien – wo dafür aber das Problembewusstsein existiert, dass es nicht selbstverständlich ist, so günstig zu wohnen, sondern harte politische Arbeit. Gruber sieht in Wien ein zivilgesellschaftliches Problem. Der Stadtplaner befürchtet, dass der Wiener Wohnungsmarkt sich in Zukunft weiter zum Schlechten entwickeln werde, wenn man nichts dagegen unternimmt. ›Dass es ein Problem mit leistbarem Wohnraum in guten Lagen gibt und dass wir es mit Gentrifizierung zu tun haben, wird in Wien geleugnet‹, sagt er. Finanzielle Vorteile habe das daraus resultierende fehlende Problembewusstsein für die, die am Wohnungsmarkt Geld verdienen – jedoch nicht für die Mieter. Ein weiteres Problem des Wiener Wohnungsmarktes sieht Gruber in leerstehendem Wohnraum. Der individuell zur Verfügung stehende Wohnraum sei in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. ›Das sind unterbelegte Wohnungen, und dieser Wohnraum muss mobilisiert werden‹, erklärt Gruber.

›Dass es ein Problem mit leistbarem Wohnraum in guten Lagen gibt, wird in Wien geleugnet‹, sagt Ernst Gruber.

Der lange Gang, der zur Haustür von Doris und Christian führt, wirkt wie eine Metapher für die demografische Entwicklung der Stadt, die ein Grund für die von Gruber beklagten unterbelegten Wohnungen ist. Doris ist die einzige am Gang, die noch berufstätig ist. ›Wir sind der Sanatoriumsgang‹, scherzt Christian, wenn er über seine Nachbarn spricht. Hinter fünf dieser Türen leben Menschen über 60 alleine in den großen Wohnungen – zwei oder drei Zimmer, Küche, Bad –, die sie früher mit Partnern und Familie bewohnt haben. ›Alle Gangnachbarn sind in Pension und leben seit den 70ern hier, seit es den Bau gibt, da sind einige gestorben und die Kinder sind aus dem Haus‹, erzählt Christian. Doch wie sagt man Menschen, dass sie aus den Wohnungen ausziehen sollen, in denen ihre Kinder aufgewachsen sind? Dass sie die Erinnerungen an ein halbes Leben zurücklassen sollen, weil ihr Wohnraum gebraucht wird, um anderen leistbares Wohnen zu ermöglichen? 

Eine utilitaristische Auslegung von Gemeinwohl wäre das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Personen. Nach diesem Prinzip wäre die Situation klar: Die Wohnung steht im Zweifel der fünfköpfigen Familie zu. Doch Baupolitik ist nicht Philosophie, und Österreich nicht die Schweiz. Dort ist die Situation schon im Vorhinein geregelt: Wer in Zürich in städtische Genossenschaften einzieht, muss sich verpflichten, in eine kleinere Wohnung umzuziehen, wenn der Haushalt eine gewisse Größe unterschreitet. Damit wird ungenutzter Wohnraum für Familien frei. 

Soll Wien weiterhin eine leistbare Stadt bleiben, dann führt an der Nutzung bisher ungenutzter Flächen, an Aufstockung und Weiterbauen kein Weg vorbei. Gruber wünscht sich parallel zu den Bauten einen Austausch zwischen Stadtpolitik und Stadtbewohnern. Wenn es ohnehin passieren muss, dann doch wenigstens als gemeinschaftliches Projekt. Beispielsweise über Bürgerbeteiligungen und Einbindung der Bürger in die Planung. Vor allem anderen wünscht er sich aber das Bewusstsein, dass städtische Veränderungen nicht immer nur schlecht sind. An dem Punkt ist er sich mit Wohnbaustadträtin Gaál ­einig: ›Weiterbauen im Bestand soll auch einen Mehrwert für die bereits ansässigen Bewohnerinnen und Bewohner bieten – von neuen Treffpunkten und Erholungszonen über die Verbesserung der Nahversorgung bis zur Erweiterung des Freizeitangebots‹, fordert sie für die stadtplanerische Zukunft Wiens. Und wenn Nachverdichtung nicht nur in Gebieten, die sowieso schon finanziell schwächer gestellt sind, passieren würde, sondern auch dort, wo der Aufschrei da­gegen als lauter wahrgenommen wird, wäre auch Sozialarbeiter Christoph Stoik zufrieden.

Wenn diese Pläne schon aufgegangen wären, würde Doris heute nicht am Fenster im Wohnzimmer stehen und besorgt in Richtung Westen blicken. Vielleicht, wer weiß, würde sie sogar gespannt auf positive Veränderungen in ihrer Nachbarschaft warten, an deren Planung und Entwicklung sie sich beteiligt fühlt. Dass ihre städtische Idylle bald verschwinden soll und sie nichts dagegen tun kann, will sie noch nicht ganz wahrhaben. Sie fühlt sich übergangen und plant, mit Christian wieder raus aus der Stadt in ihr Heimatdorf zu ziehen, wenn sie in Pension ist und nicht mehr auf die Arbeit in der Stadt angewiesen. Doris findet, es hätte auch ganz anders laufen können. •