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Die Musterschüler von der Sonnen­terrasse

Das Skigebiet Serfaus-Fiss-Ladis hat eine Mini-U-Bahn gebaut, um den Verkehr zu reduzieren, und den › Zauberteppich ‹ entwickelt, um Kindern das Skifahren zu erleichtern. Auch im Umgang mit dem Coronavirus geht die Region eigene Wege. Taugt sie als Vorbild für die Branche ?

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Fotografie:
Christian Waldegger
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Illustration:
Alexandra Turban
DATUM Ausgabe Dezember 2020

Mit erhobener Hand winkt Berta – gelb und rund und groß – in die Ferne. Ein Gitter grenzt sie von zwei Männern ab, die auf einem Hang einen Lift testen. Im Idealfall wird dieser bald hunderte Kinder auf den höchsten Punkt der Piste transportieren. Berta ist eine etwa zwei Meter große Plastikkuh und das Maskottchen des Familienskiorts Fiss. Dort, auf rund 1.500 Metern Seehöhe, laufen die Vorbereitungen für eine Saison, die viele für unmöglich halten. Schon am dritten Dezember sollen hier wieder erste Gäste eintreffen und auf den schneebedeckten Hängen die ersten Schwünge ziehen. Haben die Bewohner ein Rezept gefunden, wie Ski­urlaub auch in Pandemie-Zeiten funk­tionieren kann ?

Als es in Ischgl, das nur ein Tal weiter westlich im Paznauntal liegt, Anfang März zu chaotischen Szenen kommt, passiert hier erst einmal wenig. Am 13. März erklärt Sebastian Kurz, dass eine Quarantäne über das Paznauntal ­verhängt wird. In Ischgl führt das dazu, dass Gäste panisch aufbrechen. Ausgeliehene Skier werden in Geschäfte geschmissen, noch in Skischuhen rennen manche zu ihren Autos, Gebirgstäler werden zur Schleuse. Als man ein Tal weiter von der Infektionsquelle in Ischgl hört, kommen die wichtigsten Vertreter der drei Nachbargemeinden Serfaus, Fiss und Ladis zusammen. Veranstaltungen am Berg werden sofort ab­­gesagt, Mitarbeiter von Bergbahn und Hotellerie sensibilisiert, die wichtigsten Infos an Vermieter ausgegeben. Am 19. März wird die Quarantäne auf alle 279 Tiroler Gemeinden ausgeweitet. Jetzt ändert sich die Priorität : Mit­arbeiter müssen in ihre Heimatländer – etwa nach Deutschland oder die Slowakei – gebracht werden. Die Gäste absolvieren ihren letzten Skitag und fahren daraufhin nach Hause, so eine Mitarbeiterin des lokalen Hotel Bär. Kaum Covid-19-Fälle, keine Panik. 

Knapp 2.500 Menschen wohnen hier auf der sogenannten Sonnenterrasse, die ihrem Ruf bei 16 Grad im November gerecht wird. Lärchenwälder, die langsam beginnen, die Farbe zu wechseln, zieren die steile Straße in den Ort. Wer Fiss sagt, muss eigentlich Serfaus Fiss Ladis sagen. › Serfaus ist ein nettes Ski­gebiet. Fiss ist ein nettes Skigebiet. Aber einzeln ist das zu wenig ‹, sagt Simon Schwendinger und lüftet den Raum zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde. Schwendinger – Anfang 30, lachendes Gesicht – ist Vizebürgermeister von Fiss, Sprecher der drei Gemeinden und wie so oft in Tirol bei den lokalen Bergbahnen angestellt. › Wir haben gemerkt, dass wir viel stärker sind, wenn wir ­gemeinsam arbeiten. ‹ 1999 werden die drei Orte zusammengeschlossen. Am ersten gemeinsamen Skitag ist der Ansturm so groß, dass die ausgegebenen Würstel noch vor Mittag aufgegessen sind. Seither gibt es zwei Bergbahngesellschaften, drei Gemeinden, aber eine Strategie : We are Family – das Motto des Gebiets. Anstatt auf Après-Ski wird auf Kuh-Maskottchen gesetzt. Schulklassen planen ihre Skiwoche hier, Familien aus Deutschland, den Niederlanden oder der Schweiz kommen zum Entspannen und schicken ihre Kinder in den Skikurs. Nur 15 Prozent von ihnen sind Tagesgäste, die meisten bleiben eine ganze Woche und wollen mehr als nur eine Piste abfahren. Ein Grund mehr, wieso die Orte verbunden und das Angebot so auf mehr als 200 Pistenkilometer ausgeweitet wurde, die von 1,7 Millionen Menschen pro Saison befahren werden. 

Bald nach dem ersten Virus-Ausbruch ruft der Tourismusverein eine Taskforce ins Leben. 18 Vertreter von Gemeinde, Seilbahnen, Hotellerie, Ärzteschaft, Handel und den wichtigsten Vereinen treffen sich ab sofort regelmäßig, um die Umsetzung der bundesweiten Maßnahmen zu besprechen. › Uns war klar, dass wir 150 Prozent geben müssen, wenn wir eine Sommersaison und irgendwann eine Wintersaison wollen ‹, sagt Schwendinger. 150 Prozent wird wort­wörtlich genommen. Man beschließt, dass die Richtlinien vor Ort über die bundesweiten hinausgehen sollen. Es sind kleine Fußnoten, die dasGesamtwerk effizienter und sicherer machen sollen : Das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes gilt trotz Lockerungen im Rest des Landes weiterhin sowohl im Innenbereich als auch in den Ansteh­bereichen der Seilbahnen. Eigens ausgebildete Mitarbeiter führen Durchsagen und Kontrollen durch. Die Gondeln werden mit sogenannten Kaltverne­belungsanlagen nach jeder Fahrt desinfiziert. Einsteigen geht nur als Familie oder gemeinsamer Haushalt. Und auch für den Winter werden bereits Entscheidungen getroffen : Die Skischulen beschließen, die Anfangszeiten für ihre Kurse zu versetzen und das Geschehen somit zu staffeln. Sportgeschäfte sollen länger offen bleiben, damit nicht alle ihre Skier gleichzeitig abgeben. Hans-Peter Hutter, Umweltmediziner an der Medizinischen Universität Wien, stellt Maßnahmen, wie sie in SFL ergriffen wurden, ein gutes Zeugnis aus : › Maskenpflicht muss es geben – im Anstellbereich und in den Gondeln. Ratsam ist auch eine Verlängerung der Betriebszeiten. Und ohne Strukturvorgaben wie Absperrbänder, die man vom Flughafen kennt, geht es nicht. Das hat man auch bei der Öffnung der Gletscher-Skigebiete gesehen. ‹ Die Rede ist von Bildern aus Kaprun oder Hintertux, auf denen sich Menschen Anfang Oktober in die Gondeln drängeln. › Familienskigebiete haben hier selbstverständlich einen gewissen Vorteil, weil sie zum Beispiel Familiengondeln machen können. ‹ 

Zu Saisonstart im Juni wird in SFL außerdem eine eigene Hotline eingerichtet, die parallel zur bekannten › 1450 ‹ besteht und den Gästen und Einheimischen sieben Tage die Woche bis spätabends zur Verfügung steht. Am Ende dieser Leitung sitzt neben einem Arzt in Serfaus auch Klaudia Stengg. Seit 1998 führt sie die private Arztpraxis › Fiss Med ‹. Stengg wirkt selbstbewusst, schließlich sprechen die vergangenen Monate für sie. Schon Ende Jänner, als sie das erste Mal von dem Virus hört, beginnt sie ausreichend Schutzkleidung für ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu kaufen. › Eine Hotline für acht Millionen Menschen ist problematisch. Da hat sich unser Modell sehr bewährt ‹, sagt sie heute. Der Tourismusverein organisiert ein Taxi, mit dem die Tests schnellstmöglich ins nächstgelegene Labor in Zams gebracht werden. Nach vereinzelten Fällen im Frühling gibt es den ganzen Sommer über keinen ­positiven Coronafall in SFL. Dann hört Stengg von einem Antigentest, der in nur 15 Minuten ein Ergebnis liefern kann und setzt alle Hebel in Bewegung, um diesen zu bekommen. Anfang September kommt eine Patientin mit Covid-19-Symptomen zu ihr – noch einen Tag vor dem offiziellen Termin für die übliche PCR-Testung. Sie wird positiv getestet, ihre Arbeitskollegen sogleich isoliert. › Wir konnten uns so einige Tage Vorsprung verschaffen ‹, sagt Stengg. Nach diesem Vorfall bestellt die Ärztin ein paar Tausend Antigen-Tests – genug, um über den Winter zu kommen. Sie ist eine der wenigen Ärzte und Ärztinnen in Österreich, die bereits mit einem solchen Test arbeiten. Strenge Kontrollen, eigene Hotline, niedrige Infektionszahlen – sind das Indizien, dass es hier besser als in anderen Skiorten läuft und man den Wintertourismus auch in Jahren wie diesem nicht per se abschreiben soll ? 

Oliver Fritz, Tourismusexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), hat die Vorbereitung verschiedener Skiorte und die Einstellung potentieller Gäste beobachtet. › Es ist zu begrüßen, wenn Tourismusorte ein eigenes Infektions-Management haben. Damit können sie sich vom sehr viel kleineren Kuchen, den wir diesen Winter haben werden, ein größeres Stück abschneiden. ‹ Bisher kenne er wenige Orte, die solche Pläne ausgearbeitet haben. Sollten die Reisewarnungen nicht aufgehoben ­werden, müssen die inländischen Des­tinationen um eine zusätzlich eingeschränkte Anzahl an Besuchern konkurrieren. 

Am Tag vor dem zweiten Lockdown sind die Straßen von Fiss leer. Fünf positive Fälle sind im Moment bekannt. An manchen Apartments hängen die › Zimmer frei ‹-Schilder noch aus. Fast alle Hotels und Apartments in SFL sind in regionaler Hand. Die Häuser, die nicht vermieten, könne man laut Schwendinger an einer Hand abzählen. Indirekt lebe sowieso jeder vom Tou­rismus. Trotzdem gibt es hier manche Dinge, die man nicht mit klassischen Skiorten assoziieren würde. Da sind die vielen E-Bikes, mit denen die Einwohner die steilen Straßen bewältigen. Oder die › U-Bahn ‹-Schilder, die im Zentrum von Serfaus wie selbstverständlich neben dem Pfarramt stehen. › Neben Wien haben wir hier die einzige U-Bahn Österreichs ‹, sagt Andrea Pfeifer-Scherl, Mitarbeiterin der Bergbahnen in Serfaus. Auf einer Strecke von 1,3 Kilometern fährt die Dorf-U-Bahn durch den Ort. Fahrerlos – etwas, wovon in Wien noch geträumt wird. 440 Menschen in einem Intervall von acht Minuten transportiert die drittkleinste U-Bahn der Welt. Endstation ist der Skilift am Ende des langgezogenen Ortes. Nur eine schmale Stra­ße führt dorthin. Schon in den 1980er-Jahren suchte man deshalb nach einer Lösung, um die Autos aus dem Dorf zu verbannen. › Als die Pläne für die U-Bahn verkündet wurden, erklärte man uns für verrückt ‹, sagt Pfeifer-Scherl. Heute könne sich den Ort niemand mehr ohne U-Bahn vorstellen. Das Projekt ist ein Beispiel für eine Mentalität der Problemlösung, die hier gerne betont wird. Auch der Zauberteppich, das Fließband für Skineulinge, wurde von Skilehrern vor Ort erfunden. Zu diesen atypischen Entscheidungen hätten einige mutige Charaktere beigetragen, so Josef Schirgi, Geschäftsführer des Tourismusverbandes. Andrea Pfeifer-Scherl erklärt sich diese Innovationsfreude mit der Abgelegenheit des Ortes sowie damit, dass man schon früh gelernt habe, sich selbst zu organisieren, vorzusorgen und Ressourcen entsprechend einzusetzen. Erklärungsansätze, die auch für die Handhabung der Pandemie taugen. › Wir sind im Hochgebirge. Wir sind es gewohnt, mit widrigen Umständen umzugehen ‹, sagt auch Ärztin Stengg. 

Während sich eine halbe oder eingeschränkte Saison für andere Skigebiete nicht rentiert, stellt sich die Frage › Öffnen oder nicht ? ‹ in SFL gar nicht erst. Zu verwoben ist der Alltag der paar tausend Einwohner mit den zusätzlichen Millionen, die jährlich die Bergstraßen hinaufströmen. Erste Ergebnisse einer Studie des Wifo deuten allerdings darauf hin, dass für heuer mit einem größeren Tourismus-Einbruch gerechnet werden muss, als bisher gedacht. Jeweils ein Fünftel gaben an, aus Angst vor den Risiken, finanziellen Gründen sowie aus Bedenken, dass das Urlaubserlebnis ein anderes sein würde, heuer keinen Winterurlaub zu planen. Ein weiteres Fünftel hat sich noch nicht entschieden. Auch Bilder aus Ischgl haben abgeschreckt. › Ich kann mir aber vorstellen, dass kleinere, familiärere Skigebiete wie SFL begünstigt sind. Für manche Betriebe kann das auch über das Über­leben entscheiden ‹, so Studienleiter ­Oliver Fritz. › Dass alle vom Tourismus leben, erleichtert die Sache auch ‹, so Josef Schirgi. › Die Bahnen, die den Gemeinden gehören, erfüllen den Auftrag, für das Dorf da zu sein, und nicht irgendwelche Dividenden auszuschütten. ‹ Auch Reiseanbieter fehlen, stattdessen setzen die Betriebe auf direktes Anwerben von Stammgästen. › Wir wollen nicht in die Masse gehen, sondern in Qualität investieren ‹, sagt auch Schwendinger. Eine Art magische Formel, auf die sich die Wortführer vor Ort geeinigt haben. 

Auch wenn die Sonne bereits in einem tieferen Winkel zum Hang steht, sind die Wiesen noch braun. Sollten die Maßnahmen des Lockdowns greifen, werden die Schneekanonen bald angeworfen und Lifte, Hotels und Restaurants in wenigen Wochen wieder öffnen. Es sind die Erfahrungswerte aus dem Sommer, in dem immerhin 60 Prozent der Gäste kamen, die die Einwohner zuversichtlich stimmen. Schon jetzt gebe es viele Anfragen für den Winter, so die Mitarbeiterin des Hotel Bär. › Die Gäste kommen teilweise aus Regionen, wo sie drei Monate keine Sonne sehen. Sobald sie dürfen, setzen die sich ins Auto und fahren zu uns ‹, sagt Touristiker Schirgi. Man ist hier nicht nur überzeugt vom Saisonstart, sondern auch davon, dass dieser bedenkenlos durchgeführt werden kann und soll. › Isolierung ist gut und recht, aber man kann zusätzlich auch andere Dinge zur Vorsorge tun – etwa das Immunsystem stärken ‹, sagt Ärztin Stengg. › Und für die Leute ist der Berg einfach gut. ‹ Gerade arbeitet sie mit der Gemeinde an der Möglichkeit, infizierte Gäste aus dem Ausland mit eigens ausgestatteten ­Rettungswägen direkt nach Hause zu bringen. Auch Umweltmediziner Hutter spricht davon, dass man den Skiurlaub nicht prinzipiell abschreiben müsse, insofern es einen gewissen Zusammenhalt gibt : › Die Eigenverantwortung hat bisher leider oft versagt. Aber wenn man sieht, dass sich Liftbetreiber oder Veranstalter bemühen, müssen die Gäste auch zeigen, dass sie mitmachen. Es sind ein paar Dinge, die wir berücksichtigen müssen – und das ist wirklich nicht viel verlangt. ‹ 

Der Tourismus, der hier wie Blut durch die Venen der kleinen Orte fließt, hat viel ermöglicht. Doch ­­gleichzeitig wissen alle, was das Ausfallen einer Wintersaison bedeuten könnte. › Uns ist bewusst, was für eine große Verantwortung wir haben. Da geht es um Existenzen, um Mitarbeiter, die sonst kei-
ne ­Arbeit haben ‹, sagt Simon Schwendinger. 

Vielleicht hat Serfaus Fiss Ladis nichts besser gemacht und als Familiengebiet einfach nur einen Strukturvorteil. Vielleicht ist die große Stärke der drei Orte aber auch, dass keiner von ihnen alleine steht. Ob sie diese Stärke heuer ausspielen dürfen, wird wohl nicht auf der Sonnenterrasse entschieden. •