Diplomatie von unten

Wie südeuropäische Städte Wege aus der Krise weisen.

DATUM Ausgabe Juli/August 2017

›Wir praktizieren hier eine neue Diplomatie von unten‹, sagt Luigi de Magistris, früher Staatsanwalt und EU-Abgeordneter, seit 2011 Bürgermeister in Neapel. ›Eine wunderbare Aufgabe – denn die Stadt gehört allen. Die Luft, die Parks, der öffentliche Verkehr‹, sagt Manuela Carmena, früher Richterin, seit 2015 Bürgermeisterin von Madrid. ›Früher standen die Leute Schlange und baten uns um Gefallen. Heute stehen sie an, um mitzuhelfen‹, sagt Renato Accorinti, früher Sportlehrer, seit 2013 Bürgermeister von Messina. ›Zwangsräumungen stoppen, Banken zur Verhandlung von Schulden zwingen, das öffentliche Gesundheitssystem verteidigen, das ist Politik!‹ sagt Ada Colau, früher Bürgeraktivistin, seit 2014 Bürgermeisterin von Barcelona.

Die vier Quereinsteiger zeigen, wie europäische Krisenlösung funktionieren kann. Noch vor kurzem, am Höhepunkt von Wirtschaftskrise und harter Sparpolitik, von Massenarbeitslosigkeit und der Ankunft Geflüchteter, schien es in den Städten Südeuropas weder nach vorne noch zurück zu gehen. Doch wie schrieb der Mittelmeer-Historiker Fernand Braudel: ›Die Städte, bewegungslose Punkte auf der Landkarte, werden durch ständige Bewegung angetrieben.‹ Die neuen Aktivisten erkannten, dass es nichts mehr zu verlieren gab. Sie verbündeten sich untereinander, stellten sich zur Wahl und fegten die alten Garden aus den Ämtern.

Europas kühne neue Bürgermeister kämpfen gegen Korruption und holen die Bürger in die Verantwortung. Sie probieren so viel Neues, dass sie für ganz Europa zukunftsweisend werden: Luigi de Magistris etwa, der ehemalige Staatsanwalt, weigerte sich, 300 Lehrer zu entlassen. Er argumentierte mit dem Verfassungsrecht auf Bildung – und setzte sich durch. Im Rathaus führte er eine Abteilung für Gemeingüter ein. Die Geschäfte des lokalen Wasserversorgers führt nun ein Bürgerrat mit. Besetzte Häuser überlässt der Bürgermeister Kulturschaffenden. Wo möglich, werden Methoden der Co-Entscheidung praktiziert.

Ähnliche Wege geht Madrid, wo das Bürgerbündnis ›Ahora Madrid‹ (Madrid jetzt) 2015 die Lokalwahlen für sich entschied und die 73-jährige Bürgermeisterin täglich mit der Tram zur Arbeit fährt. Die ›Abteilung für Bürgerbeteiligung, Transparenz und offene Regierungsführung‹ hat ein Transparenzregister und eine Online-Beteiligungsplattform initiiert. Über einen Teil des Budgets (60 Millionen Euro) entscheiden die Bürger selbst. ›Die Prinzipien sind Offenheit für alle, soziale Gerechtigkeit, partizipative Prozesse. Wir wollen die Stadt den Bürgern zurückgeben‹, sagt Victoria Anderica vom Madrider Rathaus.

In Barcelona wiederum wundert sich Bürgermeisterin Ada Colau, wenn man sie ›radikal‹ nennt. ›Was sind das für Zeiten, in denen die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten als radikal gilt?‹ Jüngst initiierte Colau ein Städtenetzwerk für Flüchtlingsrechte. Das finden auch ihre Kollegen gut. De Magistris aus Neapel etwa sagt: ›Wir glauben an Solidarität und Willkommenspolitik als bestes Gegenmittel zu Terrorismus. In Neapel ist entweder jeder oder keiner illegal. Das ist die Geschichte unserer Stadt, das ist auch unsere politische Vision.‹ Ist so einer ein Linker? Nein. Die Partei von De Magistris ordnet sich europäisch bei den Liberalen ein (Fraktion ALDE im Europäischen Parlament).

Als Sommerlektüre für diese und weitere Trendsetter in Europas Städten, Medien und Netzwerken empfiehlt sich das Buch ›Shifting Baselines of Europe – New Perspectives beyond Neoliberalism and Nationalism‹ (Hrsg.: European Alternatives, Transcript Verlag 2017).