Editorial April 2022

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe April 2022

Im Sturm der Geschichte

Es sei wie bei einem Gewitter, schreibt der ukrainische Journalist Illia Ponomarenko in der vierten Woche des Krieges in einem Tweet. ›Es kommt dem Ort, an dem Sie sich befinden, immer näher. Donnerschläge krachen, über Stunden und Tage. Aber der Regen setzt nicht ein. So fühlt es sich derzeit an, in Kiew zu leben.‹

Die russischen Luftangriffe haben zu diesem Zeitpunkt laut Angaben des Kiewer Bürgermeisters Witali Klitschko bereits 65 Zivilisten das ­Leben gekostet, und weder Klitschko noch Ponomarenko wissen, wie der blutige Kampf um die Hauptstadt ausgehen wird. Ob Wladimir Putins Invasion am entschlossenen Widerstand der ­Ukrainer scheitern wird – oder ob sein Terror gegen die Zivilbevölkerung doch noch eine Kapitulation der Regierung von Wolodymyr Selenskyj erzwingen kann.

Fest steht aber schon, dass es in der Ukraine um mehr geht als um die Zukunft eines einzelnen Landes. Viele der klügsten Köpfe unserer Zeit sind sich einig, dass die Bedeutung dieses neuen heißen Kriegs in Europa kaum überschätzt werden kann. Dass zwischen Luhansk und Uschgorod entschieden wird, ob die regelbasierte liberale Weltordnung auch den frontalen Angriffen einer militärischen Großmacht standhalten kann. Oder ob es Wladimir Putin – möglicherweise mit chinesischer Unterstützung – gelingt, eine ethnisch-imperialistische Alternative aufzubauen.

›Wir waren in einer Nachkriegswelt, nun sind wir in einer Vorkriegswelt‹, konstatierte der bulgarische Politologe Ivan Krastev vor kurzem im ›Spiegel‹. Das ist ein beunruhigender Satz, zumal wir laut Putins Biografin Fiona Hill nicht davon ausgehen können, dass der Despot im Kreml blufft, wenn er mit nuklearer Eskalation droht. ›Wer denkt, dass Putin etwas nicht nutzen würde, das er hat, nur weil es unüblich oder grausam ist, der sollte noch mal nachdenken‹, sagte Hill dem Magazin ›Politico‹. Die ehemalige us-Regierungsberaterin warnte aber davor, uns von Angst lähmen zu lassen. Stattdessen sollten wir uns lieber auf alle ›Eventualitäten‹ vorbereiten – und uns überlegen, wie wir sie abwenden können.

›Die Geschichte ist keine Maschine, die mittels Autopilot in eine bestimmte Richtung läuft, sondern das Ergebnis menschlicher Entscheidungen.‹ Daran erinnert dieser Tage ausgerechnet Francis Fukuyama – also jener Mann, der sie im Titel eines 1992 veröffentlichten Buches für beendet erklärt hatte. Er sieht uns an einer historischen Gabelung: Sollte es der Ukraine und ihren Unterstützern gelingen, Putin zum Rückzug zu zwingen, könnte das ›dem Geist von 1989 einen neuen Schub‹ verleihen.
In China scheint man derweil auf das gegenteilige Szenario zu setzen. Laut ›Economist‹ prognostizieren chinesische Regierungsbeamte ausländischen Diplomaten, dass die westliche Einheit gegenüber Russland bröckeln werde, wenn der Krieg länger dauere und die Belastungen für westliche Wähler zunähmen. China versuche bereits jetzt, einen Keil zwischen Europa und die usa zu treiben, indem es behaupte, die usa würden ihre Macht auf Kosten der Europäer ausbauen, die nun hohe Energiepreise, größere Armeen und die Aufnahme von drei Millionen Flüchtlingen bezahlen müssten.

Der Nebel des Krieges mag noch tief hängen, aber eines zeichnet sich schon ab: Wenn unsere Demokratien den aktuellen Sturm überstehen wollen, werden sie einen langen Atem und eine dicke Haut brauchen. •

 

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen!

Ihre Elisalex Henckel
elisalex.henckel@datum.at

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