Editorial Februar 2021
Liebe Leserinnen und Leser !
Fehlt Ihnen der Rausch ? Vermissen Sie die kollektive Ekstase, die Hemmungslosigkeit, das ausgelassene Tanzen, die Verbrüderung oder Verschwesterung mit Wildfremden an der Bar ? Sie sind damit nicht allein. Der gemeinsame Rausch ist eine Konstante des menschlichen Zusammenlebens, kaum eine Kultur konnte oder wollte seiner Verlockung widerstehen : Loslassen, den Trieben Raum geben, Grenzen ausreizen, unachtsam und unvernünftig sein – wenigstens für eine Nacht.
Seit bald einem Jahr ist das alles mehr oder weniger behördlich untersagt. Und zu keiner Zeit fällt das so sehr auf wie in den Wochen des Spätwinters, in denen die kollektive Berauschung schon seit Jahrtausenden eine ganz zentrale Rolle im Menschsein spielt. So kommt es, dass wir die Februar-Ausgabe von DATUM dem Rausch und seiner Funktion in unserer Gesellschaft, vor allem aber dem Phänomen der erzwungenen, weitestgehenden Rauschfreiheit widmen – und zwar unter der kundigen Begleitung unserer Gastkuratorin Stefanie Sargnagel, die erst im Oktober des Vorjahrs in ihrem Entwicklungsroman › Dicht ‹ ungeschönt über ihre eigenen Erfahrungen mit Rauschmitteln aller Art schrieb.
Die zentrale Substanz ist auch hier der Alkohol. Er ist der eherne Monopolist der Rauschmittel in unserer Gesellschaft, die einzig legale und daher auch die einzig breitflächig sozial akzeptierte Möglichkeit, sich zu berauschen. Sorry, liebe Jogger, das › Runner’s High ‹ oder andere selbstinduzierte Rauschzustände zählen nicht, sie dienen nämlich nicht der geselligen Ekstase, um die es uns hier geht.
Wie geradezu absurd die Alleinstellung des Alkohols ist, als wie alternativlos seine Rolle erlebt und vorgelebt wird, wie sehr er verharmlost und verniedlicht wird, sticht erst so richtig heraus, wenn man keinen mehr trinkt. Mir ging es vor eineinhalb Jahren so. Wer dem Alkohol Adieu gesagt hat, wird zunächst einmal misstrauisch beäugt : Denn entweder führt er ein zur Gänze rauschfreies Leben, was für die meisten Menschen eine atemberaubend langweilige Vorstellung ist, oder aber er bedient sich gesetzlich nicht erlaubter Rauschmittel und steht quasi regelmäßig mit einem Fuß im Kriminal. Das wird zwar durchaus toleriert, hat aber gefälligst heimlich zu passieren. Diese Asymmetrie in der gesellschaftlichen Beurteilung von Rauschmitteln – ungeachtet ihres physischen und psychischen Gefahrenpotenzials – legt offen, wie unreif, verschämt und heuchlerisch wir mit dem Rausch und seiner elementaren Bedeutung zumeist umgehen.
Um eines namens der DATUM-Redaktion unmissverständlich klarzustellen : Eine bessere Idee als die vorübergehende Verbannung des Rausches aus dem öffentlichen Raum und die Beschränkungen im privaten Umfeld haben wir auch nicht. Das Virus liebt die berauschten Menschen. Sie kommen einander viel zu nahe, verdrängen die gebotene Vorsicht, und auch mit der Hygiene nehmen sie es nicht so genau. Dennoch betrachten wir es als unsere journalistische Aufgabe, über das Leben möglichst so zu berichten, wie es ist – und auch die Realität jener Menschen nicht zu verschweigen, die den gemeinschaftlichen Rausch trotz Verbots nicht ganz sein lassen können oder wollen. Sowie darüber nachzudenken, was uns anderen inzwischen eigentlich so entgeht. Zu dieser Reflexionsübung möchten wir Sie mit dieser DATUM-Ausgabe anregen.
Ich hoffe, Sie haben viel Freude mit den Seiten der Zeit !
Ihr Sebastian Loudon
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