Editorial Juni 2019
Liebe Leserin, lieber Leser,
lassen Sie mich Ihnen ein Geheimnis verraten. Was Menschen denken, was sie tun, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, was sie sagen, wenn sie sich unter Vertrauten wähnen, ist mit dem, was sie in der Öffentlichkeit sagen und tun, nur weitschichtig verwandt.
Wer öffentlich in Erscheinung tritt und bei Sinnen ist, überlegt sich im Vorhinein, was er sagen wird und wie. Das gilt für Politikerinnen und Unternehmer, für Gärtnerinnen und Pfleger. Das gilt für Sie wie für mich.
So offen dieses Geheimnis ist, so wichtig ist es, es einander immer wieder zu verraten. Nicht, um die Skepsis gegenüber Öffentlichkeit und Medien, gegenüber Politik und Wirtschaft zu nähren, sondern zur besseren Einordnung, zum geübteren Umgang mit Informationen.
Das Ibiza-Video und seine Konsequenzen bieten grundsätzliche Lektionen: Rechtspopulisten sind selbst ihre größten Gegner. Unser Rechtsstaat funktioniert, unsere Medien funktionieren, unsere Verfassung ist ›elegant‹. Und eben: Vor einer Kamera sprechen Menschen anders als vor einer versteckten Kamera (wobei beileibe nicht jeder über illegale Parteispenden und Staatsaufträge schwadroniert).
Als Journalistinnen, als Journalisten hören wir nach interessanten Hintergrundgesprächen ständig den Satz: ›Aber zitieren können Sie mich so nicht!‹ Ständig bestehen Menschen, die wir interviewt haben, darauf, einzelne Sätze wieder zu streichen, meist sind es die relevantesten Sager. Ständig erzählt man uns die Wahrheit, aber nicht die ganze. Menschen tun dies aus List und Argwohn. Sie tun es, um ihr Fortkommen zu gewährleisten, um sich und ihre Interessen zu schützen, sie tun es aus Angst vor den Konsequenzen.
Nehmen wir etwa Polizistinnen und Polizisten. Ihre Arbeit ist essenziell für unser Zusammenleben, sie ist spannend und ermöglicht Einblicke in Lebensrealitäten, die Sie und ich wohl nur aus der Zeitung kennen. Als Bürger haben wir mit ihnen meist nur dann zu tun, wenn wir, um es sanft auszudrücken, mit dem Gesetz in Berührung kommen. Wer keinen Polizisten in seiner Familie hat, keine Polizistin im Freundeskreis, der wird kaum je offen ins Gespräch kommen. Wer als Journalist mit einem Polizisten sprechen will, wird an die Pressestelle verwiesen, die a) sagt, dass dies nicht möglich ist, oder b) einen Vorzeigeexekutivbeamten vorzeigt, der die Botschaften des Innenministeriums auswendig kennt.
Eine andere Möglichkeit ist es, über informelle, private Kontakte und über Monate hinweg Vertrauen aufzubauen. Eben das haben wir getan. Sieben Polizisten und eine Polizistin haben uns unter Zusicherung von Anonymität aus ihrem Arbeitsalltag erzählt, von Überstundenmühsal und Respektlosigkeit, von ihren ersten Einsätzen und ihren ersten Toten. In der vorliegenden Ausgabe veröffentlichen wir einen ausgewählten Auszug aus diesen Gesprächen. Die Lektüre hat unser Bild von Polizisten und ihrer Realität verändert.
Ja, ihren Ehepartnern und Psychotherapeuten werden die acht wohl eine wahrhaftigere Version ihrer Wahrheit erzählen als uns. Die nackte Wahrheit, das haben wir in den vergangenen Wochen abermals gelernt, die gibt es eben nur vor versteckter Kamera.
Ich darf Ihnen viel Vergnügen wünschen bei der Lektüre dieser
ungeschminkten Seiten der Zeit.
Ihr Stefan Apfl
stefan.apfl@datum.at