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Ein 30-jähriger Krieg

Der bewaffnete Konflikt im Osten des Kongos nahm seinen Anfang bereits 1994. Die Lage ist unübersichtlicher denn je, die Zivilbevölkerung leidet massiv. Könnten ökonomische Interessen nun den lang ersehnten Frieden bringen?

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Illustration:
Koko Binja Benedict
DATUM Ausgabe Juni 2025

Emmanuel* ist 29 Jahre alt und Kongolese. Seit er denken kann, tobt im Osten seiner Heimat, der Demokratischen Republik Kongo, ein blutiger Konflikt, nur wenige Kilometer von der Grenze zu Ruanda entfernt. Gab es einmal Friedensperioden, waren diese durch Nachwehen der Kämpfe geprägt. Als die von Ruanda unterstützte Miliz 23 im Januar dieses Jahres in die Millionenstadt Goma vorrückte, rechneten dennoch nur wenige damit, dass der Konflikt so eskalieren würde. Es kam zu wochenlangen Kämpfen, bis schlussendlich die Stadt von der M23 gänzlich eingekesselt und eingenommen wurde. ›Es herrscht eine trügerische Ruhe. Die Stadt wirkt auf den ersten Blick sehr still, gerade deshalb, weil viele Menschen in ständiger Angst leben‹, erklärt Emmanuel. Er spricht sich seit Jahren öffentlich gegen die Besetzung durch die M23 aus, nahm regelmäßig an Protesten teil und ist Mitgründer des Vereins ›Lucha‹, der sich für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Wegen seines politischen Engagements wurde Emmanuel bedroht. Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivisten, die sich kritisch gegenüber der M23 äußern, sind oft Ziel von Gewalt, Einschüchterung und Mord. Emmanuels Freund, Delcat Idengo, hat für seinen Einsatz für die Freiheit seines Landes mit seinem Leben bezahlt. Der Künstler hatte ein Lied veröffentlicht, in dem er die M23 und andere bewaffnete Gruppen scharf kritisierte. Keine 24 Stunden später war er tot, erschossen von M23-Kämpfern. Damit Emmanuel nicht das gleiche Schicksal widerfährt, lebt er in einem anderen afrikanischen Land im Exil und versucht sich von dort aus für die Rechte von Kongolesinnen und Kongolesen einzusetzen und gegen Kriegsverbrechen zu mobilisieren. 

Während sich die M23 in den vergangenen Jahren immer besser organisierte und bewaffnete, schaffte es die Regierung nicht, Sicherheit und staatliche Kontrolle im Osten des Landes herzustellen. Die kongolesische Armee gilt als korrupt und wird immer wieder mit Plünderungen und Übergriffen in Verbindung gebracht. Das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Sicherheitskräfte ist angeschlagen. Ein Vakuum, das die M23 gezielt ausnutzt. Heute herrscht die Miliz im Ostkongo faktisch mit einer eigenen Verwaltung über Millionen von Menschen, während die Kämpfe mit Regierungstruppen weitergehen. Leidtragender dieses Krieges ist die Zivilbevölkerung. Viele Menschen haben längst die Hoffnung auf eine sichere und stabile Zukunft verloren. Mehr als 7.000 Menschen wurden allein seit dem Wiederaufflammen des Konfliktes Anfang dieses Jahres getötet. Insgesamt sind seit 1998 infolge der vielen Kämpfe mehr als 6 Millionen Menschen ums Leben gekommen. Viele davon nicht durch direkte Gewalt, sondern durch Hunger und Krankheiten. Es sind zu einem guten Teil Menschen, die gar nichts mit dem Konflikt zu tun haben möchten. Menschen wie Makena. ›Überall gibt es Gewalt. Man wacht morgens auf und hört, dass in der Nachbarschaft jemand getötet wurde‹, erzählt die sechsfache Mutter. Wie Emmanuel möchte auch Makena anonym bleiben. Sie ist bereits vor Jahren wegen der Kämpfe aus ihrem Dorf in die Stadt Goma gezogen. Eine Stadt, die für viele Binnenflüchtlinge jahrelang als Zufluchtsort galt, sich jedoch inzwischen zum Epizentrum des Krieges entwickelt hat. Als die M23 auch Goma besetzte, floh Makena zurück in ihr Dorf. Dort lebt sie seit mehreren Monaten und versucht mit ihrem Gelegenheitsjob als Gepäckträgerin ein wenig Geld zu verdienen, um ihre Familie über Wasser zu halten. Doch ihre Sorgen sind groß. Lebensmittel sind kaum noch leistbar, keine Bank hat mehr offen und immer weniger Geld ist im Umlauf. Obwohl die Menschen versuchen, ihrem Alltag nachzugehen, kann von einem normalen Leben keine Rede sein, so Makena. 

Die Wurzeln des heutigen Konflikts reichen bis in die Kolonialzeit zurück. Belgien besetzte zunächst das Gebiet des heutigen Kongo und erhielt nach dem Ersten Weltkrieg zusätzlich Ruanda und Burundi, die zuvor deutsche Kolonien gewesen waren. Zu dieser Zeit war Ruanda eine Monarchie, regiert von der Tutsi-Minderheit – einer von drei ethnischen Gruppen im Land. Die Tutsi, zu denen auch der heutige ruandische Präsident Paul Kagame zählt, bildeten gemeinsam mit den Twa die Minderheit, während die Hutu die Bevölkerungsmehrheit stellten. Trotz sozialer Hierarchien, aufgrund derer Tutsi den Großteil der Oberschicht bildeten, lebten die drei Gruppen lange Zeit weitgehend friedlich zusammen. 

In den 1930er-Jahren führte Belgien ethnisch klassifizierte Ausweisdokumente ein. Jeder Tutsi, jeder Hutu und jeder Twa wurde von nun an ganz klar durch seine ethnische Zugehörigkeit unterschieden. Das koloniale Belgien schaffte dadurch ein hierarchisches Narrativ: Tutsi galten als intelligenter und besser geeignet für Führungsrollen, Hutu wurden als einfache Bauern dargestellt. Diese ethnische Differenzierung bildete eine Grundlage für den späteren Genozid in Ruanda 1994, bei dem über 800.000 Ruandesinnen und Ruandesen, vor allem Tutsi, von militanten Hutu ermordet wurden. Während des hundert Tage anhaltenden Genozids flohen über eine Million Hutu in den Nachbarstaat Zaire, die heutige Demokratische Republik Kongo. Viele von ihnen waren Zivilistinnen und Zivilisten, die sich in Flüchtlingslagern niederließen und auf ein friedliches Leben hofften. Einige waren jedoch radikale Hutu-Rebellen, die versuchten, ihre Anti-Tutsi-Ideologie weiterzutragen. Unter Präsident Paul Kagame marschierte Ruanda in den Kongo ein, um diese Rebellen zu bekämpfen. Daraus entwickelten sich der Erste und Zweite Kongokrieg, die zu den tödlichsten Kriegen in der afrikanischen Geschichte zählen. Kagame rechtfertigte beide Interventionen damit, dass Hutu-Gruppen im Osten des Kongo weiterhin eine Gefahr für die ruandische Tutsi-Bevölkerung darstellten und dass das kongolesische Regime extremistische Hutu schütze, die nach dem Genozid ins Nachbarland geflohen waren. Seitdem entbrennen in der Region immer wieder bewaffnete Konflikte, an denen zahlreiche Milizen und auch Nachbarstaaten wie Uganda beteiligt sind. Auch nach Jahrzehnten ist immer noch kein anhaltender Friede eingekehrt. 

Anfang dieses Jahres ist der Konflikt weiter eskaliert und hat eine der schlimmsten humanitären Krisen weltweit ausgelöst. Überfälle und Mord stehen seither auf der Tagesordnung. Menschen sterben an behandelbaren Krankheiten, wie beispielsweise Malaria und Cholera, weil es an Medikamenten und Personal fehlt. Diese schrecklichen Erlebnisse brennen sich in die Psyche und in die Körper der Menschen ein, erzählt Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen. Er war von Jänner bis März Einsatzleiter der Hilfsorganisation in Bukavu, der zweitgrößten Stadt im Ostkongo, die nach der Einnahme Gomas auch unter die Besetzung der M23 gefallen ist. ›Es ist eine der brutalsten Phasen seit 1994. Unter meinen Kolleginnen und Kollegen vor Ort gab es sehr viele, die entweder unfassbare Gewalt erfahren haben oder sogar getötet wurden‹, sagt Bachmann betroffen. 

Seit Jänner, dem Monat, in dem der Konflikt eskalierte, sind über eine Million Menschen vertrieben worden und leben, zusätzlich zu den bereits 6,7 Millionen Binnenvertriebenen, unter widrigsten Umständen in Flüchtlingslagern. Die UN warnt, dass in den Provinzen Ostkongos fast zehn Millionen Menschen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, von akutem Hunger betroffen sind. Allein 2,5 Millionen kamen seit Dezember 2024 hinzu.

Vor wenigen Wochen schlug auch die UNICEF Alarm. Es gab noch nie so viele Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen wie zum jetzigen Zeitpunkt des Krieges. Laut Emmanuel eine Kriegsmethode, die nicht nur Schrecken, sondern auch Scham und Ohnmacht erzeugt: ›In unseren Traditionen gilt die Mutter als wertvoll und die Tochter als Segen. Der schwerste Angriff auf die Gesellschaft ist daher ein Angriff auf den weiblichen Körper.‹ UNICEF zufolge wird jede halbe Stunde ein Kind vergewaltigt. Alleine in der Provinz Nord-Kivu hat Ärzte ohne Grenzen über 38.000 Überlebende sexualisierter Gewalt behandeln müssen. Vergewaltigung als Kriegsstrategie werde von mehreren Konfliktparteien angewandt, sagt auch Bachmann. Denn immer mehr Akteure mischen bei dem Konflikt mit. Laut Berichten gibt es mehr als hundert verschiedene militante Gruppen, die versuchen, ihre Einflusszonen auszuweiten. Seit 2012 hat sich aber ganz klar eine Gruppe herauskristallisiert, die immer mehr Einfluss und Macht im Osten Kongos übernimmt: die M23. 

In den vergangenen Jahren hat die Miliz weitreichend in kongolesisches Gebiet expandiert, und dies mit Hilfe modernster Technologien. ›Ich habe schon oft im Ostkongo gearbeitet, doch noch nie zuvor wurden so moderne Waffensysteme verwendet. Artillerie mit großer Reichweite und der Einsatz von Drohnen sind neue Fähigkeiten der M23, die davor nicht verfügbar und nicht sichtbar waren‹, erklärt Bachmann. 

Zahlreiche Berichte, unter anderem von den Vereinten Nationen, haben bestätigt, dass die ruandische Regierung und ihre Armee die M23 stark unterstützen. Paul Kagames Reaktion auf die Anschuldigungen kam einem Achselzucken gleich. Er wisse nicht, ob seine Truppen im Nachbarland im Einsatz sind, so der Präsident gegenüber CNN im Februar. 

Die Miliz wurde bereits 2012 gegründet und behauptet, sie schütze die Interessen der kongolesischen Tutsi und anderer Minderheiten in der Region. Dies sei jedoch nur ein Vorwand, um zu expandieren und Kontrolle über die Rohstoffe und ressourcenreichen Zonen Kongos zu übernehmen, meint Emmanuel. Auch Bachmann bestätigt, dass man von keinem ethnischen Konflikt sprechen könne. Nur bei der Mobilisierung und der Rekrutierung von Kämpferinnen und Kämpfern spiele die ethnische Komponente eine Rolle, erklärt er. 

Bachmann wurde selbst Zeuge, wie Menschen verschleppt wurden. Nicht nur auf der Straße und aus ihrem eigenen Zuhause, sondern sogar an dem Ort, der für viele die letzte Hoffnung ist. ›Wir haben gesehen, wie Patientinnen und Patienten sowie Angehörige in den Krankenhäusern verhaftet wurden.‹ Auch Makena erwähnt Fälle von Jugendlichen, die von Soldaten abgeführt wurden: ›Junge Männer verschwinden einfach, ohne dass ihre Familien wissen, wo sie sind.‹ Emmanuel ist sich sicher, dass die M23 dahintersteckt und die entführten Männer in Ausbildungslager gebracht werden, unabhängige Belege gibt es dafür bislang aber nicht. Die NGO ›Save the Children‹ spricht allerdings von über 400 Minderjährigen, die alleine im Jänner und Februar dieses Jahres zwangsrekrutiert worden sein sollen. Bereits 2013 hat der UN-Sicherheitsrat gemeinsam mit den USA und einigen EU-Staaten Ruanda deswegen mit Sanktionen belegt. Zurzeit beschränken sich die Sanktionen der EU jedoch nur auf eine Handvoll hochrangiger ruandischer Offiziere und auf ein einziges Unternehmen. Anstatt auf wirtschaftliches Embargo setzt man auf finanzielle Zuwendung. So gewährte die EU Ruanda vor Kurzem laut eigenen Angaben einen Zuschuss von 20 Millionen Euro als Unterstützung für die ruandischen Streitkräfte. 

Ruanda gilt zudem auch als wirtschaftliches Positivbeispiel am afrikanischen Kontinent: Rasantes Wirtschaftswachstum, Initiativen für Gleichberechtigung und Teilnahme an Friedensmissionen der Vereinten Nationen lassen fasst vergessen, dass das Land im Kongo einen Schattenkrieg führt. 

Die EU-Kommission ging im Februar 2024 eine strategische Partnerschaft mit Präsident Kagame ein, die Europa eine nachhaltige Versorgung mit Rohstoffen wie Tantal, Wolfram und Gold aus Ruanda garantieren soll. Metalle, die unter anderem für Europas grüne Energiewende benötigt werden. Trotz der Forderung des Europäischen Parlaments gegenüber der Kommission, die ›Finanzhilfe für sowie die Entwicklungs- und Sicherheitszusammenarbeit mit Ruanda unverzüglich einzufrieren und zu überprüfen‹, blieben konkrete Maßnahmen bislang aus. Dennoch heißt es seitens der Kommission, dass ›die Transparenz und Rückverfolgbarkeit beim Import von kritischen Rohstoffen sichergestellt‹ sei. Doch kann man dieser Zusicherung wirklich trauen?

›Es gibt ein Ringen um strategische Minen, weil es darum geht, diesen teuren Konflikt weiterfinanzieren zu können‹, erklärt Bachmann seinen Blick auf die Interessen der Konfliktparteien. Im Jahr 2024 exportierte die M23 ungefähr 150 Tonnen Coltan aus besetzten Minen im Kongo nach Ruanda, ein Mineralstoff, der zur Produktion von Handys und Laptops verwendet wird. Handys, die anschließend auch in Europa verkauft werden. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen nimmt die Rebellengruppe monatlich rund 800.000 US-Dollar durch die Besteuerung von Produktion und Handel der Coltan-Erze ein. 

Auch Sophia Stanger, Friedens- und Konfliktforscherin am ›Austrian Centre for Peace‹, sieht darin ein äußerst lukratives Geschäft für die Konfliktparteien: ›Diese teils illegalen Steuereinnahmen durch die besetzten Minen sind eine enorm wichtige Einnahmequelle.‹ 

Diese ökonomischen Interessen und das Ringen um profitable Ressourcen beeinflussen nicht nur die Kriegsdauer, sondern fungieren auch als entscheidendes Druckmittel bei den aktuellen Friedensbemühungen. Seit mehreren Wochen präsentieren sich Katar und die USA als Vermittlerstaaten, wenn es um den Frieden im Ostkongo geht. Sowohl die kongolesische Regierung als auch Ruanda sind bereit, Friedensverhandlungen zu führen, was theoretisch bedeuten könnte, dass auch Emnanuel wieder in seine Heimatstadt Goma zurückkehren kann.

Viele junge Kongolesinnen und Kongolesen wollen in ihrem Land bleiben. Trotz der andauernden Gewalt möchte auch Makena versuchen, ihren Kindern vor Ort ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch ›im Moment sieht es nicht aus, als würde bald Frieden einkehren‹, sagt die junge Kongolesin.   

Obwohl Konfliktforscherin Stanger auf einen bald eintretenden Frieden in der Region hofft, macht sie darauf aufmerksam, dass hinter den Bemühungen darum knallharte nationale Interessen der Vermittlerstaaten stecken. Vor allem die USA koppeln ihre Mediationsrolle an einen Rohstoffdeal mit dem Kongo, um ihren Zugang zu strategisch wichtigen Mineralien wie Coltan und Wolfram zu sichern. Ob dieses ökonomische Kalkül den Frieden befördert oder doch nur wieder den Konflikt anheizt, werden die kommenden Monate zeigen. •

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