Ein frommer Wunsch für 2024

Warum wir die Demokratie nicht nur am Wahltag aktiv gestalten sollten.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Dezember 2023/Jänner 2024

Baustellen zählen nicht unbedingt zu empfehlenswerten Sehenswürdigkeiten. Eher zu Ärgernissen. Aber es gibt eine Baustelle in Wien, an der es sich vorbeizugehen lohnt. Beim Ballhausplatz vor der Präsidentschaftskanzlei. In roten Lettern steht dort groß auf der Baustellenverkleidung der Spruch: ›Demokratie muss jeden Tag erneuert werden.‹ Daneben ein Wandbild des Künstlers David Leitner, mit Bildern von Frauen mit Megafonen, aus denen Blumen sprießen, Kindern, die Seifenblasen pusten und einer Friedenstaube im Hintergrund. Ein schönes Miteinander. Inspirierend. 

Auf den ersten Blick. Mahnend auf den zweiten. Ruft es doch in Erinnerung, dass Demokratie mehr ist als eine Pflichtübung, die es alle paar Jahre an der Wahlurne zu wiederholen genügt, um sich ihrer sicher zu sein. Demokratie ist harte Arbeit. Eine Baustelle. Oder um es gemäß dem Zeitgeist martialisch zu formulieren: ein Verteidigungskampf. Und 2024 wird sich einmal mehr weisen, wie sehr jene, die sich demokratischen Werten verpflichtet fühlen, die Stellung halten können. 

Überall wird gewählt: in der EU, in den USA, in Österreich. Und überall ist die Sorge, dass einmal mehr jene Parteien und Personen Zuspruch ernten oder gar Siege einfahren, die es nicht so ernst meinen mit der Demokratie, die kein Interesse an diesem idyllischen Miteinander haben. In Deutschland, wo im Herbst 2024 die drei Bundesländer Sachsen, Thüringen und Brandenburg neue Landtage wählen, bezweifelt niemand massive Zugewinne der AfD. Spätestens seit den Wahlen in Bayern und Hessen hat man sich von der Haltung verabschiedet, dass autoritäre Rechtspopulistinnen – und ihre Kollegen, die man legal als Faschisten bezeichnen darf – lediglich ein Phänomen des Ostens seien, weil der ›Osten‹ nun einmal Demokratie einfach nicht kann. Nach dem 8. Oktober 2023 haben auch die arrogantesten Analysten begriffen: Der Westen kann es offenbar auch nicht, wenn es die AfD auf Platz zwei in der Wählergunst schafft – wie in Hessen. Ähnliches wird auch kommenden Herbst befürchtet.

Tipps im Umgang mit dieser Entwicklung können die Deutschen aus Österreich nicht erwarten. Trotz der langjährigen Erfahrung hat man hierzulande nur eines kultivieren können: die Angstlust, die sich in einer übermenschlichen Dämonisierung einzelner Akteure ausdrückt. Fast so, als könnte man es nicht erwarten, wann der nächste Demagoge wieder an der Macht ist. 

So erneuert sich keine Demokratie. ›Alle Demokratien, die es auf der Welt gibt, sind relativ schwache Demokratien mit niedrigem Energieverbrauch‹, diagnostiziert der brasilianische Philosoph Roberto Mangabeira Unger. Diese ›Low-Energy-Democracies‹ würden Wandel nur von Krisen abhängig machen, sich nur angesichts von Traumata transformieren. Nicht unbedingt gewinnend als politisches Projekt. ›Demokratie ist eine Form des kollektiven Experimentierens und Entdeckens, die es den Lebenden ermöglicht, die Struktur neu zu denken, neu zu gestalten und sich über sie zu erheben‹, ­plädiert Mangabeira Unger. Es gilt, aus diesen schwachen Demokratien mit niedrigem Energieverbrauch ›High-Energy-Democracies‹ zu machen, also politische Projekte anzu­stoßen, deren Entwicklung nicht nur von Krisen abhängt.

Angesichts der Weltlage mag das nach einem frommen Wunsch für das neue Jahr klingen. Stapeln wir vielleicht etwas tiefer: Hoffentlich raffen sich in den kommenden Monaten Millionen Menschen für den Minimalaufwand auf, die Demokratie an der Wahlurne zu erneuern. Und geben jenen ihre Stimme, die zumindest an dieses Projekt wirklich glauben und es nicht in den Abgrund stürzen wollen. •

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