Ein Land als Tatort

Die Leichen von 1.348 Zivilisten wurden in den Vororten von Kiew bisher gefunden. Auf den ersten Blick kommen die Ermittlungen zu russischen Kriegsverbrechen rasch voran. Kritiker orten allerdings auch schwerwiegende strukturelle Probleme bei der Aufarbeitung.

DATUM Ausgabe September 2022

Bücher könnte Dmytro C. schreiben – dicke, dicke Bücher. Akten hat er vor sich liegen, Kaffee schlürft er, ein paar Blinchiki hat er sich bestellt, in einem kleinen Café in Kiew. Doch er kommt kaum dazu zu essen, blättert durch Akten, telefoniert, dann kommt ein Kollege, zeigt ihm auf dem Mobiltelefon das Foto eines russischen Soldaten in Uniform, strammstehend, starr in die Kamera blickend – und dann das eines vergnügten jungen Mannes in weißem Hemd in einem Boot sitzend, auf dem russischen sozialen Netzwerk V-Kontakte.

›Ist das dieselbe Person?‹, fragt der Kollege. Dmytro C. stellt die Tasse ab, zoomt in die Aufnahmen, vergleicht die Gesichter, wiegt den geschorenen Kopf, macht eine Pause. Dann murmelt er: ›Nein, eher nicht.‹ Und schon blättert er weiter in seinen Akten – Seite um Seite Listen mit Namen plus Einheit, Rang, anderen Details, Fakten und Verdachtsmomenten. Sein Zeigefinger fährt über die dicht beschriebenen Blätter. Die Namen und Details von 7.000 Personen finden sich in dem Ordner, den Dmytro C. vor sich auf dem Tisch liegen hat. Verdächtige. Menschen, von denen er sagt, dass sie an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sind. ›Die Zahl steigt jeden Tag.‹

Dmytro C. ist Polizist, ein Mann um die 40. Und das Gebiet, in dem er ermittelt, ist das radioaktiv verseuchte rund um den Reaktor Tschernobyl, 80 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Der Ermittlungsgegenstand: Kriegsverbrechen.

Als die russische Armee in der ersten Phase des Krieges gegen die Ukraine versucht hatte, Kiew einzukreisen, war das Gebiet um Tschernobyl die Drehscheibe des russischen Vorstoßes von Belarus aus nach Süden. Ein strategisch wichtiger Zwischenstopp auf dem Weg nach Kiew. Denn die Leitungsinfrastruktur des einstigen Kraftwerkes und die dazu gehörenden Umspannwerke sind nach wie vor eine essenzielle Schnittstelle für die Stromversorgung der gesamten Region. Vor allem aber dürften die vier stillgelegten Reaktorblöcke Tschernobyls eine Art ›Leo‹ für die Angreifer gewesen sein – einigermaßen sicher vor ukrainischem Beschuss.

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