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Datum Talente

Ein Land will sich wehren

Bereits heute hat Polen die meisten Soldaten in der Europäischen Union – und möchte seine Streitkräfte weiter vergrößern. Was aber tun, wenn patriotische Mythen bei den Jungen nicht mehr ziehen?

DATUM Ausgabe November 2025

Es ist ein heißer Ferientag Ende Juli. Auf einem militärischen Schießplatz bei Suwałki im Nordosten Polens, umgrenzt von den für die Gegend typischen Kiefern, stehen etwa zehn junge Männer und Frauen auf dem mit Sand aufgeschütteten Boden der Schießbahnen und halten ihre Sturmgewehre auf Papier-Zielscheiben gerichtet. Nachdem sie den Magazinwechsel mehrfach im Trockenen geübt haben, legen sie erneut an, und auf Kommando feuern sie zwei Magazine leer. Um die Ecke steht derweil ein Rettungswagen bereit. Die Sanitäter und psychologisches Personal sitzen gemütlich im Schatten auf einer Treppe und unterhalten sich – in der Hoffnung, dass es heute zu keinem Einsatz kommen wird. 

Die jungen Menschen, die meisten haben gerade die Schule abgeschlossen oder studieren, gehören zu rund 10.000 Teilnehmenden, die diesen Sommer ›Ferien bei der Armee‹ verbracht haben. So nennt das polnische Verteidigungsministerium sein Programm, das dieses Jahr landesweit bereits in seiner zweiten Ausgabe stattfand. 

Für die rund hundert Teilnehmenden in Suwałki begann der Tag bereits früh: Um 4:30 Uhr wurden sie geweckt und in Bussen von der Kaserne in Łomża hierhergebracht. Drei der insgesamt vier Wochen Militär-Bootcamp haben sie bereits hinter sich – und das heutige Schießtraining gilt als einer der Höhepunkte. ›Es geht vor allem darum, die richtige Körperhaltung zu üben und sich an die Rückstoßkraft zu gewöhnen‹, sagt Soldatin Anna Jankowska, eine der Instruktorinnen. ›In den vier Wochen wird man Schießen nicht unbedingt lernen, aber es wird einem zumindest vertraut.‹

›Ferien bei der Armee‹ ist Teil einer breiteren Kampagne, mit der Polen versucht, junge Menschen niederschwellig an seine Streitkräfte heranzuführen. Denn das Ziel ist ehrgeizig: Bis 2035 soll die Personalstärke auf 300.000 aktive Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Dabei verfügt Polen bereits heute über rund 210.000 aktive Kräfte und damit über die größten Streitkräfte innerhalb der Europäischen Union und die drittgrößten innerhalb des NATO-Bündnisses, hinter den USA und der Türkei. Parallel dazu treibt Polen die militärische Aufrüstung massiv voran: Rund 4,7 Prozent seines BIP werden in diesem Jahr in die Verteidigung fließen – ein Anteil, der sogar über dem der USA liegt.

Diese enormen Ausgaben werden von einer großen Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen. Auch politisch ist sich das zwischen Premierminister Donald Tusks liberaler Bürgerplattform (PO) und Jarosław Kaczyńskis Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) tief gespaltene Land in dieser Frage einig. In einer Studie der Berliner Allianz Foundation aus dem Jahr 2023, die die Einstellungen junger Erwachsener in fünf europäischen Ländern verglich, zeigte sich außerdem: Auch 52 Prozent der jungen Polinnen und Polen befürworten eine stärkere Armee – in den anderen Ländern waren es im Schnitt nur rund 30 Prozent.

Polen nimmt also durchaus eine Sonderrolle ein. Und es lohnt sich zu fragen, warum das – abgesehen von der geografischen Nähe zu Russland – so ist. Denn vor dem Hintergrund der europäischen Aufrüstung und der auch in Österreich zuletzt erhöhten Investitionen ins Bundesheer, lässt sich daraus eine größere Frage ableiten: Was für eine Mentalität braucht eine Bevölkerung eigentlich, um wehrfähig zu sein – beziehungsweise es rechtzeitig zu werden, bevor womöglich wie in der Ukraine der Ernstfall eintritt?

Nur wenige Wochen nach Beginn von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine reagierte Polen im März 2022 mit der Verabschiedung des ›Gesetzes über die Verteidigung des Vaterlandes‹, das grundlegende Reformen des militärischen Rekrutierungsprozesses einleitete. Die allgemeine Wehrpflicht war da bereits seit zwölf Jahren ausgesetzt. Stattdessen wurde nun der Freiwillige Grundwehrdienst eingeführt: eine 27-tägige Grundausbildung, nach deren Abschluss man entscheiden kann, entweder einfach zurück ins zivile Leben zu gehen und Teil der Reserve zu werden oder seine Ausbildung flexibel bis zu elf weitere Monate fortzusetzen. Dabei erhält man vom ersten Tag an ein attraktives Gehalt sowie volle Sozialleistungen. 

Offensichtlich haben diese Neuerungen Wirkung gezeigt: Laut der polnischen Faktencheck-Plattform konkret24 konnte der Freiwillige Grundwehrdienst 2023 und 2024 jährlich rund 43.600 Freiwillige anziehen, was fast eine Vervierfachung der Freiwilligen im Einführungsjahr 2022 darstellte. ›Die Vorschriften für Bewerber sind durch das Verteidigungsgesetz klarer und transparenter geworden‹, sagt Michał Gełej, Sprecher des mit dem Gesetz neu geschaffenen Zentralen Militärischen Rekrutierungszentrums in seinem Büro in Warschau. Generell würden Rekrutierungen heute schneller und unbürokratischer ablaufen. Auch Ort und Termine für die Grundausbildung seien für die angehenden Rekrutinnen und Rekruten heute deutlich flexibler wählbar. 

Der Staat versucht, besonders junge Menschen stärker in ihrer Lebensrealität abzuholen – und setzt dafür bereits in der Ausbildung an: Neben den regulären Militärakademien gibt es etwa spezialisierte ›Uniformklassen‹ an weiterführenden Schulen, ausgewählte Eliteschulen mit Schwerpunkt auf Cybersicherheitsausbildung, oder im Studium die ›Akademische Legion‹, die Anreize für eine weiterführende Offizierslaufbahn setzt. 

Eine Möglichkeit, um der Armee neben Beruf oder Studium zu dienen, bieten die bereits 2016 als fünfte Teilstreitkraft eingeführte Territorialverteidigungskräfte (WOT), eine Art stark in den jeweiligen Regionen verankerte Miliz, bei der man nach 16 Tagen Grundausbildung und etwa zwei Tagen im Monat Training dabei sein kann. Die Soziologin Weronika Grzebalska von der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau erklärt, dass dadurch ganz neue Personengruppen abgeholt werden: ›WOT wurde sehr positiv aufgenommen, weil die Menschen dort dienen konnten, wo sie leben, wo sie Familien, berufliche Bindungen und Freunde haben.‹ Besonders Frauen habe das angesprochen. Sie erzählt von privaten Bekannten, Menschen aus dem akademischen Bereich, die wahrscheinlich sonst niemals bei militärischen Programmen mitgemacht hätten, hier aber schon. WOT-Kommandeur Krzysztof Stańczyk berichtete bei einer Veranstaltung im vergangenen Jahr, dass rund 70 Prozent der WOT-Kräfte junge Menschen seien, manche davon sogar noch in ihrem letzten Schuljahr. Grzebalska sagt: ›Ich glaube, dieses Modell funktioniert, weil es auch ein neues Ethos bot – dass wir Bürger sind, die zugleich Soldaten sind.‹ 

Dazu passt auch, dass Premierminister Donald Tusk im März dieses Jahres ein neues Freiwilligenmodell ankündigte: Demnach soll jeder erwachsene Pole einmal im Leben ein Militärtraining absolviert haben, um langfristig eine Gesamtstärke von 500.000 Soldatinnen und Soldaten aufzubauen. Gemeint ist damit in erster Linie ein massiver Ausbau der Reserve, wofür die Regierung bis Ende des Jahres einen entsprechenden Plan vorlegen möchte. Damit vollzieht Polen eine Verschiebung, die sich schon länger abgezeichnet hat: Weg von einer reinen Berufsarmee, hin zu einer Gesamtverteidigungsstrategie, wie sie etwa in der Schweiz oder in Finnland verfolgt wird. ›In Polen gibt es nach wie vor ein starkes Vertrauen in Bündnisse, aber es wächst die Überzeugung, dass wir auch bereit sein sollten, allein zu kämpfen. Das bedeutet unter anderem, dass wir über große Reserven verfügen und eine vorbereitete Gesellschaft haben müssen‹, sagt Marcin Ogdowski vom polnischen Militärmagazin Polska Zbrojna

Zugleich knüpft dieses Konzept an ein historisches Selbstverständnis Polens an, das sich am besten verstehen lässt, wenn man sich die jährliche Feier zum Gedenktag des Warschauer Aufstandes am 1. August ansieht. Da schießen in der Hauptstadt schon in der Früh unzählige kleine Verkaufsstände wie Pilze aus dem Boden, an denen man Armbinden und Flaggen in den polnischen Nationalfarben kaufen kann. Vor 81 Jahren bündelte die polnische Heimatarmee, unter dem Eindruck der heranrückenden Roten Armee, noch einmal alle Kräfte, um Warschau selbst von den deutschen Besatzern zu befreien. Doch nach 63 Tagen wurde der Warschauer Aufstand blutig niedergeschlagen. Aus Rache setzten die Nazis die ganze Stadt in Brand und zerstörten sie fast vollständig. Was bleibt, ist ein Märtyrermythos, den in Polen jedes Kind kennt.

Menschen, die an diesem Tag aus ganz Polen in ihre Hauptstadt kommen, strömen schon in den Morgenstunden ins Zentrum, etwa zum zentral gelegenen Verkehrsknotenpunkt Rondo Romana Dmowskiego. Pünktlich um 17 Uhr beginnt die Schweigeminute. Sie läutet die sogenannte W-Stunde ein – jener Zeitpunkt, zu dem der Aufstand damals ausgebrochen sein soll. Parallel dazu steigen zwei Flieger in die Luft, die die Kotwica, das Symbol des Aufstands, in den Himmel malen. Sirenen gehen an, Böller werden gezündet. Viele Menschen haben bengalische Handfackeln hervorgeholt und strecken die roten Flammen gen Himmel. Neben dem ganzen Lärm und dem Rauch, der durch die Feuer entsteht, offenbart ein Blick in die Gesichter der vielen anwesenden Menschen tatsächlich nur eines: anteilnehmendes Schweigen. Die Polinnen und Polen zelebrieren gemeinsam eine entsetzliche historische Niederlage.

Im Warschauer Aufstand wurde zum Großteil von sehr jungen Menschen gekämpft, oft waren sie noch Kinder – was auch der Grund ist, warum relativ viele Veteraninnen und Veteranen heute noch am Leben sind und bei den Gedenkfeierlichkeiten eine aktive Rolle einnehmen. Auf den Plakaten, die die W-Stunde ankündigen und die überall in der Stadt zu sehen sind, lächelt einem auf einem historischen Foto ein etwa 13-jähriger Bub entgegen. Die Ärmel seines weißen Leinenhemds sind hochgekrempelt und von der Schulter baumelt ihm lässig ein Sturmgewehr. 

Vor dem Hintergrund dieser Historie muss man auch aktuelle Maßnahmen der Regierung betrachten, wie die Einführung von verpflichtendem Schießunterricht an polnischen Schulen. Als Teil des bereits bestehenden Fachs ›Sicherheitserziehung‹, wo grundlegende Verteidigungsmaßnahmen und Erste Hilfe am Lehrplan stehen, lernen die Schülerinnen und Schüler der 8. und 9. Schulstufe seit letztem Jahr auch, wie man schießt – wobei Simulatoren, meistens Laserpatronen, zum Einsatz kommen. 

Die Medienberichte zeigten Bilder von 14- bis 15-jährigen Jugendlichen, die im Turnsaal ihrer Schule in martialischer Optik mit Waffe posieren. Vielleicht erklärt eine Erinnerungsikonografie wie jene auf den W-Stunde-Plakaten in Warschau, warum die Ankündigung der Schießübungen, abgesehen von ressourcentechnischen Fragen, eigentlich kaum Gegenstimmen oder Irritation in der polnischen Öffentlichkeit ausgelöst hat. ›Die nationalen Mythen drehen sich vor allem um den Widerstandskampf gegen große Reiche, den Kampf ums Überleben. Deshalb verbinden wir eher positive Vorstellungen mit Militarismus, anders als etwa ein altes Imperium, das andere kolonisiert hat‹, sagt Weronika Grzebalska. Eine antimilitaristische Linke sei in Polen dementsprechend kaum existent. Die Geschichte hätte Polen gelehrt, dass man sich Pazifismus nicht leisten kann, denn der Krieg könne einen jederzeit ereilen, ob man das nun wolle oder nicht.

Doch bald werden auch die letzten Zeitzeugen tot sein. Menschen, die heute in ihren Zwanzigern sind, wurden nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in eine völlig andere Welt hineingeboren. Wie viele junge Polinnen und Polen können sich heute tatsächlich noch mit wehrhaftem Patriotismus identifizieren? 

Im Oktober 2024 veröffentlichte das Warschauer Meinungsforschungsinstitut CBOS eine repräsentative Umfrage, bei der 61 Prozent der 18- bis 24-jährigen auf die Frage, ob sie bei einem Angriff für ihr Land kämpfen würden, positiv antworteten. Eine jüngere, Ende September veröffentlichte IBRiS-Umfrage für Radio Zet kam jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis: In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen würden demnach nur 13 Prozent ›wahrscheinlich‹ ihr Land verteidigen – niemand antwortete mit ›auf jeden Fall‹. Die Soziologin Weronika Grzebalska verweist dabei auf die Redundanz der zahlreichen veröffentlichten Studien: ›Es gibt eine Menge Umfragen, aber jede stellt eine andere Frage und verwendet eine andere Methodik. Und jede Woche gerät die Presse in Panik, weil es neue Ergebnisse gibt, die keinen Sinn zu ergeben scheinen.‹

Wie in vielen anderen Branchen macht man sich auch in der Armee Gedanken über die sogenannte Generation Z, also jene Altersgruppe, die heute etwa zwischen 15 und 30 Jahre alt ist. Am Zentrum für Doktrin und Ausbildung der Polnischen Streitkräfte in Bydgoszcz hat man dazu sogar ein Forschungsprojekt angestoßen. ›Erste Ergebnisse zeigten, dass junge Menschen dazu neigen, hierarchische Strukturen abzulehnen, beruflich wenig mobil sind und großen Wert auf eine ausgewogene Work-Life-Balance legen‹, sagt Marcin Ogdowski, der Einblick in die nicht repräsentative Studie hatte, die gerade landesweit ausgeweitet wird. ›Das sind Eigenschaften, die sich nur schwer mit den Realitäten des Militärdienstes vereinbaren lassen.‹

Und dazu kommt noch das Problem der demografischen Entwicklung in Polen: Laut der polnischen Statistikbehörde GUS könnte die Bevölkerung bis 2060 von derzeit rund 37,4 Millionen auf etwa 30,4 Millionen schrumpfen – eine Folge niedriger Geburtenraten, Überalterung und zu geringer Zuwanderung. Noch laufe die Rekrutierung gut, meint Weronika Grzebalska, doch die geburtenstarken Jahrgänge der frühen 2000er würden um das Jahr 2028 herum in eine Phase eintreten, in der die Rekrutierungsbasis spürbar schrumpfe. ›Und die junge Generation ist anders, sie scheint weniger Interesse am Militär zu haben als die vor­herigen.‹ Die Generation Z beschreibt sie als ›Enigma‹: ›Denn davor hätte ich gesagt, dass trotz all der großen sozioökonomischen und politischen Veränderungen in Polen diese Widerstandstraditionen noch ziemlich lebendig waren.‹

Die Stadt Suwałki liegt etwa eine halbe Stunde Autofahrt von der nach ihr benannten sogenannten Suwałki-Lücke entfernt. Dabei handelt es sich um einen schmalen Grenzkorridor zu Litauen, der eingeklemmt ist zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und dem Putin-Verbündeten Belarus. Ein Angriff auf dieses für Russland strategisch günstig liegende Gebiet könnte für die NATO zum ersten Mal den Ernstfall bedeuten.

Im Schatten eines Unterstandes warten die Kadettinnen und Kadetten von ›Ferien bei der Armee‹ gerade darauf, dass auch sie zum Schießtraining an die Reihe kommen. Wie viele andere hier hat auch die 23-jährige Kadettin Pawelek einen militärischen Hintergrund in ihrer Familie. Das Camp dient ihr als Probe für eine mögliche spätere Verpflichtung. ›Davor wollte ich mich auch körperlich prüfen, weil ich früher mal trainiert habe, aber im Studium dann weniger Sport gemacht habe. Und ich hatte noch nie mit Schießen zu tun und wollte sehen, wie das wird.‹ 

Auch der Älteste der Gruppe, der 33-jährige Kadett Mulewski, hebt, wie einige andere, den Fitness-Aspekt hervor: ›Ich habe im Service für einen Telekommunikationsnetzbetreiber gearbeitet. Aber statt am Schreibtisch zu sitzen, wollte ich eine körperlich aktivere Arbeit, die mich einfach mehr motiviert. Deswegen wollte ich hierher.‹ Einige verweisen zwar auch auf patriotische Motive, doch insgesamt überwiegen praktische Überlegungen.

Die jungen Leute, die während des Gesprächs weiterhin ihre Sturmgewehre umgeschnallt haben, wirken sehr eingespielt und heben besonders die zusammenschweißende Gruppenerfahrung und kameradschaftliche Unterstützung hervor. Nur wenige hätten das Camp frühzeitig verlassen – aus medizinischen Gründen oder weil es anders war, als sie erwartet hatten. Wer bleibt, wird auch finanziell belohnt: rund 1.400 Euro für vier Wochen, inklusive Unterkunft und Verpflegung. Es sei schwer, sich eine Armee ohne hierarchische Strukturen und eine hohe Verfügbarkeit vorzustellen, sagt Marcin Ogdowski. Deshalb betone man in Rekrutierungsstrategien andere Stärken: Die Armee schafft eine Vielzahl moderner Waffensysteme an. Das wirkt auf junge Menschen attraktiv, die eine hohe Affinität zu technologischen Innovationen haben.

Außerdem verändere sich langsam das Führungsmodell, meint Marcin Ogdowski: ›Die Armee wird partizipativer, selbst die jüngsten Soldatinnen und Soldaten, die zwar wenig militärische Erfahrung, dafür aber oft beachtliche technische Kenntnisse mitbringen, erhalten mehr Mitspracherecht.‹ 

Wenn die alten Heldenmythen nicht mehr wirken, entsteht in puncto Wehrbereitschaft dennoch eine Lücke, die schwer zu füllen ist. Die Soziologin Weronika Grzebalska bringt in diesem Zusammenhang eine dezidiert linke Kritik vor: Die jungen Polinnen und Polen hätten den Individualismus infolge der marktwirtschaftlichen Schocktherapie und des neoliberalen Booms nach 1989 tief verinnerlicht – ein Erbe, das sich nun beim Aufbau einer umfassenden Verteidigung als Problem erweise: ›Ich glaube, dass man als Grundlage eine stärker solidarische Gemeinschaft braucht. Menschen, die daran glauben, dass sie einander etwas schulden. Dass sie dem Staat etwas schulden, weil der Staat ihnen viel gibt, und dass sie etwas zurückgeben wollen. Und dass er es deshalb wert sei, für ihn zu kämpfen.‹ 

Doch braucht es in Zeiten von Drohnen und hybrider Kriegsführung überhaupt noch große Truppenstärken? Marcin Ogdowski verweist auf die Funktion der Abschreckungsfähigkeit: ›Russland versteht nur die Sprache von Macht und Abschreckung. Sie werden uns nicht angreifen, wenn sie uns fürchten.‹ 

Zugleich betont er den Unterschied zum Putin-Regime: ›Aus tiefem Respekt vor dem Wert jedes Menschenlebens werden wir nicht Millionen von Männern in Schützengräben schicken, um sicheren Tod oder lebenslange Invalidität zu riskieren. Stattdessen bauen wir Armeen auf, die die Lufthoheit sichern, Artillerie mit größerer Reichweite und höherer Präzision einsetzen und tief in den russischen Rücken schlagen können.‹ Solche Armeen bräuchten keine Millionen an Soldaten, sondern Qualität und die richtige Ausrüstung. ›Entscheidend ist, dass sie die Mittel haben, um nach unseren Bedingungen zu kämpfen – nicht nach denen Russlands.‹ 

Und die Frage nach dem Nachwuchs? Weronika Grzebalska verweist auf das Beispiel des südöstlichen Nachbarn – denn jegliche Prognosen, jegliche Erklärungen könnten schlagartig nichtig werden: ›In der Ukraine gab es über zwei Jahrzehnte hinweg einen der niedrigsten Werte in Bezug auf die Bereitschaft zur Verteidigung. Die Leute sagten einfach »nein«. Und dann wurden sie angegriffen. Ihr Staat beschloss, Widerstand zu leisten, der Westen beschloss, sie zu unterstützen. Und all das zusammen schuf diesen Geist zu kämpfen.‹ •

Dieser Beitrag ist im Rahmen von ›eurotours 2025‹ entstanden, einem Projekt des Bundeskanzleramtes,
finanziert aus Bundesmitteln.

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