Eine Nacht in Teheran

Ausgelassen feiern in der Islamischen Republik ? Wenn Geld und Lebenslust zusammenkommen, wird sogar der Iran zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

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Fotografie :
Teseo La Marca
DATUM Ausgabe Oktober 2021

Ganz ehrlich, manchmal wur­de es zu viel. Jeden Tag neue Gesichter, das radebrechen­de Englisch, der stechende Geschmack des selbstgebrauten Alkohols, der Schlafmangel. Das soziale Leben im Iran kann einen durchschnitt­lichen Mitteleuropäer ganz schön aus der Reserve locken. Deshalb wollte ich an diesem Abend, nach sieben aufei­nanderfolgenden Nächten verschiedenster Einladungen, Hauspartys und Dinners, eigentlich zu Hause bleiben, endlich zu einer Uhrzeit ins Bett kommen, die in den Augen meiner gutbäuerlichen Tiroler Großeltern noch als sittlich gegolten hätte. Doch das Versprechen war zu verlockend, um zu widerstehen.

Heute sollte ich in Teheran, der Hauptstadt der islamischen Republik Iran, Alkohol zu trinken bekommen. Ich sollte Frauen singen und tanzen sehen, ohne Kopftuch. Und das alles nicht nur auf einer privaten Party, wie sonst üblich, sondern in der blanken Öffentlichkeit, in einem echten Nachtlokal.

Zur Erinnerung  : Frauen, die sich im Iran dem Kopftuch verweigern oder gar öffentlich tanzen und singen, werden nach den Scharia-Gesetzen als › Bedrohung für die moralische Sicherheit ‹ unverzüglich verhaftet. Noch schlimmer ergeht es den Trinkern. Nach Artikel 265 des iranischen Strafgesetzbuchs soll der Körper eines alkoholgenießenden Frevlers mit bis zu 80 Peitschenhieben zerfetzt werden. Bei mehrmaliger Wiederholung droht die Todesstrafe.

Das hält viele Iraner freilich nicht davon ab, den Alkohol ins Land zu schmuggeln, allein im Jahr 2016 waren es nach amtlichen Angaben zwischen 60 und 80 Millionen Liter – ein guter Liter für jeden Iraner, vom Neugeborenen bis zum Greis. Und wer ein Händchen für chemische Vorgänge hat, braut Bier und Wein einfach selbst. Das Resultat ist ein hochprozentiges Serum mit dem bezeichnenden Namen Aragh-Sagi, zu Deutsch : Hundeschweiß. Sehr ungewöhnlich und geradezu todesmutig ist es aber, Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken. Umso neugieriger war ich, diesen Ort des subver­siven Hedonismus kennenzulernen.

Die Person, die mir die Tore zum ­Teheraner Nachtleben öffnet, ist Sonia, 24 Jahre alt und BWL-Studentin. Als Kind wohlhabender Eltern wurde ihre Charakterbildung schon früh durch die hier weit verbreitete Unsitte, den eigenen Kindern keinen materiellen Wunsch zu versagen, konterkariert, wie sie selbstkritisch eingesteht. Ihr Studium erfüllt bislang vor allem den Zweck, mit dem elterlichen Taschengeld ein exzentrisches Partyleben zu finanzieren. Sonia lebt allein in einer Hundert-Quadratmeter-Wohnung im reichen Nordosten der Stadt und nutzt diese als komfortables Base Camp für ihre nächtlichen Streifzüge.

Teheran ist eine geteilte Stadt. Auf den Straßen hängen Schilder mit der Aufschrift › Teheran, a city for everyone ‹. Jeder soll hier seinen Platz finden. Die Wahrheit ist, dass diese Plätze sorgfältig voneinander getrennt sind, die Menschen leben in unterschiedlichen Welten. Im Süden hausen auch 40 Jahre nach der islamischen Revolution noch die › Mustazafin ‹, Irans darbende Arbeiter- und Arbeitslosenklasse. Sie waren einst die treibende Kraft der Revolution, angestachelt vom Groll gegen den Schah mit seinen opulenten Selbstinszenierungen und von der Aussicht auf den ewigen Lohn des Allmächtigen.

Nach der Revolution änderte sich ihr Leben vor allem in dem Punkt, dass ihre Hoffnung auf das Jenseits nun endlich auch von den Machthabern offiziell bestärkt wurde, die irdischen Lebensverhältnisse blieben indes weiterhin prekär. Ganz anders der Norden der Stadt : Hier ragen zwischen grünen Alleen und umgeben von diskreten Mauern prächtige Herrschaftshäuser mit neoklassischen Fassaden, das Straßenbild ist geprägt von protzigen SUVs und teuer gekleideten Menschen.

In einem solchen Viertel liegt auch das Einkaufszentrum, das ein Lokal mit dem unauffälligen Namen › Kaspian Café ‹ beherbergt. Im Gebäude selbst ist es dunkel, der ganze Komplex wirkt geschlossen. › Sind wir hier richtig ? ‹, fragt jemand aus der Runde. Dann findet Sonia doch das richtige Türschild, klingelt, und wie ein Sesam-öffne-dich springt die Eingangstür zur finsteren Gebäudehalle auf. Ab jetzt folgen wir nur noch der Musik, die irgendwo aus dem zweiten Stock dringt.

Es würde nur noch das Passwort fehlen. Ansonsten erinnern die versteckte Lage und der Zugang nur für Eingeweihte unweigerlich an amerikanische Filme über die Prohibition, als verschlagene Genussmenschen in den Speak­easys der New Yorker Kellergeschoße und Hinterhöfe ihren Durst stillten.

› Pur oder mit Energydrink ? ‹ Ali, der mit seinem eingesteckten weißen Hemd und den gutmütigen Pausbacken ganz und gar nicht wie ein Draufgänger wirkt, gibt die erste Runde Shots aus, den Maulbeerschnaps hat er von zu Hause mitgebracht. › Ich kenne den Besitzer hier, der ist ganz entspannt. Will einfach nur, dass die Leute Spaß haben. Ach, da drüben steht er ja. ‹ Ein untersetzter Mann in den 50ern – vielleicht auch älter, das Botox-verpumpte Gesicht lässt es nicht mehr genau erkennen – lehnt an einer Säule und nickt uns zu. Dann schickt er den Kellner, der sich mit seinen femininen Gesten und geschminktem Gesicht offen als transsexuell zu erkennen gibt.

› Bin ich hier wirklich im Iran ? ‹, frage ich Sonia. › Dadasch – Bruder ! ‹ antwortet sie, › das hier ist der echte, der freie Iran. ‹ Im Hintergrund spielt eine Band iranische Partylieder aus Schah-Zeiten, unter anderem die Lieder verbotener Sänger­innen, und es dauert nicht lange, bis die ersten Gäste sich von ihren Tischen erheben und in der Mitte des Saals zu tanzen beginnen. Es ist ein Querschnitt der Gesellschaft im Teheraner Norden : elegante Seniorenpaare mit Krawatte und Paillettenkleid, nerdige Maschinenbaustudenten und geschminkte Lebefrauen, die den obligatorischen Hidschab an ihrem Tisch liegenlassen. Nur eins sind diese Menschen mit Sicherheit nicht, denke ich bei diesem Anblick : aufrührerische Regimefeinde. Es sind Menschen, die einfach nur ihren Spaß haben wollen, ganz unpolitisch, wie überall auf der Welt.

Trotzdem : Wie sind solche Szenen überhaupt möglich ? In einem Land, in dem die Scharia mit erbarmungsloser Gewalt durchgesetzt wird ? Ich beschließe, mich mit der Frage direkt an den Barbesitzer zu wenden. Der hat sich inzwischen auf einen hüftschwingenden Tanz mit dem transsexuellen Kellner eingelassen, das Publikum feuert die beiden ekstatisch an : Huh-huuh ! Huh-huuh !

› Es ist ganz einfach ‹, erklärt mir der Besitzer nach seiner gewagten Tanzeinlage. › Wir zahlen die Polizei. Und sie lassen uns in Ruhe. So funktioniert es im Iran : Mit Geld kannst du dir alles kaufen, sogar die Freiheit. ‹ – › Habt ihr nicht Sorge, dass jemand der Gäste etwas konservativer drauf ist und einen Skandal draus macht ? ‹ – › Wir kennen unsere Gäste. Das sind keine Leute, die uns verpetzen. Die radikalen Islamisten, die gab es vor 40 Jahren, die brachen in die Ausländerhotels ein und zerschlugen Cognac-Flaschen. Das machen heute fast nur noch bezahlte Leute. ‹

Erst die Zurechtweisung durch ein Bandmitglied unterbricht die allgemeine Sorglosigkeit : › Bitte bleibt beim Tanzen in unmittelbarer Nähe zu euren Tischen ! ‹ Die Mahnung ist eine eindringliche Erinnerung an den unbarmherzigen Gottesstaat dort draußen. Für die Musiker steht viel auf dem Spiel. Erführe eine nicht bezahlte Polizeieinheit von der Veranstaltung, trügen die Bandmitglieder gemeinsam mit dem Besitzer die Verantwortung für diese antiislamische Ausschweifung. Ihre Instrumente würden konfisziert, es drohen hohe Bußgelder, Hiebe und Haftstrafen. Ein Risiko, das trotz aller Bestechungsgelder eben doch nicht ganz beseitigt werden kann. Aus demselben Grund wurden in diesem Text alle Namen, einschließlich des Cafés, geändert.

Die nächste Station ist die verrauchte Studentenbude eines Drummers namens Aria. Auch Dariusch, ein Gitarrist, der zuvor im Kaspian Café auf der Bühne stand, ist mit von der Partie. Sehr schnell stellt sich heraus, dass das keine Hausparty europäischer Prägung sein wird, in der sich die Anwesenden in heiteren Gesprächen ergehen, während aus einer JBL-Box in einer Wohnzimmerecke entspannte Indie-Klänge tönen. Neben Aria und Dariusch setzen sich noch weitere Musiker mit traditionellen iranischen Saiteninstrumenten in einer Reihe hin, dann wird es unter den Anwesenden – rund 25 Personen – leise. Aria wirft seinen Kopf nach hinten, schließt die Augen, beginnt mit mystischer Geste zu trommeln. Wie ein unerwarteter Regenschauer setzt nun auch das Crescendo der Saiteninstrumente ein. Ein echtes Live-Konzert beginnt.

Die Bude befindet sich im Zentrum der Stadt, weder im Norden noch im Süden. Die Gäste bilden hier ein vollkommen anderes Publikum als im Kaspian Café. Keine feine Nord-Teheraner Gesellschaft, sondern Künstler und Intellektuelle, Studierende und arbeitslose Hipster. › Wer im Norden lebt, wird nie in den Süden kommen – und umgekehrt ‹, erklärt mir Neda, die sich nach der ersten Musikeinlage als feministische Journalistin vorstellt. › Im Zentrum Teherans kommt alles zusammen, Arm und Reich, Intellektuelle und Arbeiter. ‹

Nicht weit von uns liegt die Enqelab Street, die Straße der Revolution, die Teheran in Nord und Süd teilt und wo die Menschenmassen mit hohen Blutopfern 1979 den Sturz des Schahs errungen haben. Heute sind hier junge Querköpfe genauso wie die geistige Elite zu Hause. › Im Norden kümmern sich die meisten Menschen nur um ihre Villa und darum, dass der SUV jederzeit makellos glänzt. Wenn sich im Iran etwas ändern soll, dann geht der Wandel wieder von hier, von der Mitte der Gesellschaft aus. Und es wird unsere Generation sein ‹, erklärt Neda mir, dem Ausländer.

Dass etwas im Wandel begriffen ist, zeigt sich in allen Gesprächen. Ein junger, hochgewachsener Mann namens Ali teilt mit mir seine Sorge, dass morgen seine Eltern bei ihm zu Besuch seien. › Ich muss irgendwie meine Fahne loswerden. Wenn meine Eltern verstehen, dass ich Alkohol trinke, ist es vorbei mit den monatlichen Mietzuschüssen. ‹ Über den Ursprung des Wohlstands seiner Familie gibt sich Ali reserviert, aber angesichts ihrer Religiosität beschleicht mich der Verdacht, dass eine gewisse Regimenähe damit zu tun haben könnte.

Ali selbst verbrachte, wie er mir nicht ohne ein verlegenes Zögern gesteht, seine Jugend bei den › Basidschis ‹, der radikalen Jugendorganisation des iranischen Regimes. Eine Studie aus dem Jahr 2005 schätzt die Zahl aktiver Vollzeit-Basidsch auf 90.000 und spricht von 300.000 Reservisten. › Die Wahrheit ist aber, dass viele da nur dabei sind, um leichteren Zugang zu Universitäten und Büroeinsätze beim Militärdienst zu erhalten. Ich selbst bin nur noch pro forma dabei, irgendwo steht mein Name auf einer Liste, das ist alles ‹, klärt Ali mich auf.

Bringt die systematische Indoktrinierung der iranischen Jugend nicht mehr die gewünschten Erfolge ? › Viele Menschen im Iran wollen so offen und frei leben wie jetzt gerade, in diesem Wohnzimmer. Sie verstehen nicht, was daran so schlimm sein soll ‹, sagt Ali und zeigt auf die tanzende Menge. Einmal singen sie lauthals mit, ein paar unverschleierte Frauen tanzen im engen Kreis, dann hören alle wieder gebannt der Live-Musik zu. Währenddessen sorgt einer dafür, dass die Gläser immer voll mit Aragh-Sagi sind und keine längeren Trinkpausen entstehen. Für die regierenden Kleriker muss dieses Wohnzimmer die Ausgeburt der Hölle sein. •