Eine laue Sommernacht. Tatsächlich? Oder verklärt die Erinnerung diesen Abend des 12. Juni 1994? Die Nacht nach der Volksabstimmung über den Beitritt Österreichs zur EU schien wie ein einziges großartiges Versprechen auf die Zukunft. Die Zustimmung von zwei Drittel der Wahlbevölkerung war der Garant. Die Bundeshauptstadt Wien war im Taumel, die Menschenmassen auf den Straßen im Regierungsviertel rund um Ballhausplatz und Burgtheater von Euphorie erfasst.
Zum ersten Mal in den zwei Jahrzehnten meiner journalistischen Arbeit bis zu diesem Zeitpunkt überkam mich etwas, das ich heute mit Glücksgefühl umschreiben würde. Professionell war es fehl am Platz, persönlich möchte ich es nicht missen. Friede, Sicherheit, Demokratie – das alles schien durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gefestigt und unzerstörbar zu sein. Mehr als ein Hauch von Freiheit lag über der Stadt.
Heute, im Juni 2024, dreißig Jahre später, versuche ich angestrengt, dieses Gefühl wieder zu beleben. Ich will mich an diese Nacht genau erinnern; will nachempfinden, wie es sich angefühlt hat, so uneingeschränkt optimistisch zu sein. Es wäre wichtig, heute, da es offenbar so wenig Grund für Zuversicht gibt.
Es gelingt nicht. Jedenfalls nicht in dieser Intensität. Bilder der Gemeinsamkeit tauchen in der Erinnerung auf; Bilder ohne Grenzen, parteipolitisch wie geografisch; Bilder einer Gemeinschaft ohne den Streit der vorhergegangenen Jahre um EU-Beitritt und Ausländerfrage. Für diese eine Nacht waren alle Kleinlichkeiten der österreichischen Politik vergessen.
Heute denke ich mit einer Mischung aus Traurigkeit und Widerspenstigkeit an diese Stunden zurück. War die Erwartung von Frieden und Freiheit in Europa, von Absicherung und Ausbau der Demokratie, von Überwindung nationalistischer Egomanie, von einem stabilen gemeinsamen Rechtssystem – war das alles nur Illusion? Oder hat sich das politische Europa im Dickicht des Gerüsts der Union verirrt? Überspannt im doppeltem Wortsinn?
In dem Europa von heute sind Friede und Freiheit nur mehr für die ältere Generation ein Wert an sich, selbst dort, wo im Osten die Unfreiheit erst vor einer Generation zu Ende ging. Für alle anderen ist Friede eine Selbstverständlichkeit, um deren Bestand man sich nicht mehr kümmern muss. So werden auch Freiheit, Sicherheit, Demokratie gesehen. Die Mehrheit der österreichischen und der europäischen Bevölkerung hat heute keinen Bezug mehr zu einem Leben ohne diese Stützen einer liberalen Gesellschaft. Sie glaubt, um der Wirtschaft und des Wohlstands willen auf alle drei verzichten zu können. Aktuell drückt sich das in der Haltung zu Russland und dem Krieg in der Ukraine sowie im Erstarken der populistischen Rechten und der Schwächung der demokratischen Institutionen aus.
So haben wir vor 30 Jahren nicht gewettet, denke ich. Das hat sich Europa, das hat sich Österreich nicht verdient. Und doch! Wir sind alle verantwortlich dafür, dass sich das Hochgefühl der Nacht vor drei Jahrzehnten verflüchtigt hat. Wir sollten uns aufraffen und gegen die Selbstverständlichkeit auftreten, bevor sie Europa ruiniert. •