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Europas Abschreckungsterror

... und warum er weiterhin nicht funktionieren wird.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Oktober 2023

Es war eine dieser Nachrichten, die man ganz weit von sich wegstoßen möchte: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch veröffentlichte im Sommer einen Bericht darüber, was Saudi-Arabien unter Migrationspolitik versteht. Seit Anfang 2022 haben Grenzbeamte hunderte Äthiopier, manche mutmaßen Tausende, die über Jemen nach Saudi-Arabien fliehen wollten, erschossen. Einfach erschossen. Laut Geheimdienstmitarbeitern kam der Befehl von Prinz Mohammed bin Salman persönlich. Jeder, egal ob Mann, Frau oder Kind, sollte getötet werden, wenn er sich der saudischen Grenze nähert. So kann Grenzschutz also aussehen. Nun werden viele sagen: Was soll man sich von dieser Diktatur, die schon einmal die eigenen Journalisten ermordet, auch anderes erwarten. Warum sollte sie bei Geflüchteten human verfahren?

In Europa wäre es unmöglich, Migrationspolitik so umzusetzen.

Wirklich?

Ist das saudische Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht in Wahrheit nur die transparente und rasche Umsetzung dessen, was sich in Europa einige insgeheim wünschen und wessen sie sich indirekt sogar längst schuldig gemacht haben? 

›Es wäre ehrlicher zu sagen, die Grenzen sind dicht. (…) und jeder, der versucht rüberzukommen, auf den schießen wir‹, sagt der griechische Anwalt Dimitris Choulis, der auf der Insel Samos gestrandete Flüchtlinge vertritt, in einem Gespräch mit der Journalistin Franziska Grillmeier.

In ihrem Buch ›Die Insel‹ dokumentiert sie, wie nah Europas Grenzschutz an die saudische Realität kommt. Wenn Geflohene auf europäischem Boden von maskierten Männern im Auftrag europäischer Staaten entführt werden, in Vans verfrachtet, auf Schlauchboote gezerrt, aufs offene Meer gezogen und dort ohne Trinkwasser ausgesetzt werden. Einzig der Gnade der patrouillierenden Küstenwache der nicht-europäischen Nachbarländer ausgeliefert, die sie retten kann – oder eben auch nicht. Grillmeier berichtet über Flüchtlingslager, die Gefängnissen gleichen, in denen Menschen wie Tiere zur Fütterung zusammengetrieben werden, ohne medizinische Versorgung Kinder zur Welt bringen, mancherorts einfach verbluten, weil es keinen Aufschrei mehr gibt – oder je gab –, wenn einer der ihren stirbt. Ein Problem weniger, lautet da nur die menschenverachtende Logik, die in nichts jener des saudischen Prinzen nachsteht. Und auch nicht jener des autoritären Staatschefs Tunesiens, Kais Saied, der Geflüchtete ohne Trinkwasser in der Wüste zur libyschen Grenze aussetzen lässt. Mit ihm hat die EU im Juli ein Migrationspaket geschlossen, das unter anderem eine Soforthilfe von 105 Millionen Euro ›zur Stärkung des Grenzschutzes‹ vorsieht. Nun zweifeln immer mehr in Europa an dem Deal, nicht wegen des ›Wie‹ von Saieds Abschirmungspolitik, sondern, weil er bislang nicht geliefert hat. Italien hat auf der Insel Lampedusa den Notstand ausgerufen, nachdem Anfang September in nur einer Woche mehr als 7.000 Menschen in wackligen Booten aus Tunesien angekommen sind.

 All die Jahre der Abschreckung und des Terrors haben sie nicht davon abbringen können, in diese Boote zu steigen. Wer ehemals Geflüchtete fragt, ob sie es wieder wagen würden, in dieses Europa zu kommen, wissend um die Zustände in den Flüchtlingslagern, die Existenz der maskierten Männer, das Aussetzen auf dem Meer, bekommt als Antwort: Ja, weil es immer auch die andere Erzählung gibt. Von jenen, die nicht ertrunken sind, die nicht über die Grenze von Hunden gejagt wurden, die nicht getötet wurden. Von denen, die es geschafft haben. Diese Erzählung wird es immer geben. Überall und egal, wie oft man sie zu verdrängen versucht. •

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