Schenken Sie ein Jahr Lesefreude! Mit dem DATUM-Weihnachtsabo.

Freie Bahn nach Europa

Wie sich Österreichs Rolle in der EU ausbauen lässt.

·
Fotografie:
shutterstock.com/Dusan Momcilovic

Die allgemeine Wahrnehmung: Ibiza und die Folgen haben Österreichs Einfluss in der nächsten Legislaturperiode der EU zunichte gemacht, weil sich eine Übergangsregierung im Brüsseler Personalkarussell dieser Wochen hinten anstellen wird müssen. 

Tatsächlich überbewertet diese Lesart die Rolle und den Ruf Österreichs in der EU. Österreich war aktuell für die Besetzung der fünf EU-Spitzenposten auch schon vor dem Ibiza-Gamechanger in der zweiten Reihe. Klar, in Zeiten von Türkis-Blau hätte Karoline Edtstadler unter einem eventuellen EU-Kommissionspräsidenten Weber gute Chancen auf eine Spitzenposition in der Kommission gehabt; gegenwärtig bleibt nur Ewald Nowotny als möglicher Kompromisskandidat in der Nachfolge des Deutschen Jens Weidmann an der Spitze der Europäischen Zentralbank. Doch Österreich zeigt schon lange nicht mehr auf in der EU: Laut der Studie ›Coalition Explorer‹ des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR), einer wiederkehrenden Studie zur Gruppendynamik innerhalb aller EU-Regierungen, stand Österreich zuletzt an blamabler 21. Stelle bei der Frage, ob unser Land sich für die ›Vertiefung der EU‹ oder ›mehr EU‹ einsetze. ›Österreichs geografische Lage in der Mitte Europas kontrastiert mit seinem politischen Platz am Rand‹, erklärt dazu Studienautor Josef Janning.

Das Versäumnis, das Österreich von den übrigen Regierungen in den vergangenen Jahren attestiert wurde, ist aus­gerechnet das geringe Engagement Richtung Mittel- und Osteuropa sowie gegenüber den Balkanstaaten. Die kroatische, slowenische und bulgarische Regierung etwa, aber auch Ungarn und Tschechien klopfen laut ECFR regelmäßig in Wien an, um sich frühzeitig oder vertieft über EU-Themen auszutauschen. Österreich jedoch richtet seinen innereuropäischen Blick lieber nach Deutschland, in die Niederlande und nach Italien. 

Die Vorgänge in Österreich zu diesem Zeitpunkt haben den Nebeneffekt, dass das bisherige Entsende- und Gestaltungsmonopol von ÖVP und SPÖ Richtung EU gesprengt worden ist. Erstmals seit dem EU-Beitritt spielt der EU-Hauptausschuss im Nationalrat eine wesentliche Rolle im Entsendeprozess nach Brüssel: Ein Übergangskanzler kann in Brüssel nur Personen vorschlagen, die die Mehrheit im Hauptausschuss hinter sich wissen. Es eröffnen sich also Chancen für europäische und international qualifizierte Vertreterinnen der ›Generation Erasmus‹, die vielleicht gar nicht Mitglieder einer politischen Partei in Österreich sind. Kombiniert mit einer guten Gesprächs- und Vertrauensbasis mit der Ständigen Vertretung Österreichs in ­Brüssel (die dort in diesen Wochen wesentlichen Einfluss hat), könnten hier neue Persönlichkeiten zumindest vorgestellt werden.   

Derzeit kann Österreich europapolitisch nur gewinnen. Es wäre eine Chance auch für Österreichs Zivilgesellschaft, jetzt mit konkreten Initiativen die Verbindungen zu den Gesellschaften am Westbalkan und in Zentral- und Ost­europa zeitgemäß und zukunftsorientiert zu stärken. Parlament und Zivilgesellschaft sollten diese Gelegenheit nicht ungenutzt ­lassen. •