Ganz schlechtes Timing
Wladimir Putin wollte seine Macht mittels Verfassungsreferendum zementieren. Doch Corona hat seine Pläne durchkreuzt.
Wladimir Putin streift sich den gelben Anzug über, die blauen Gummihandschuhe, die große, schwarze Maske mit Vollvisier. Die Entourage an Ärzten, die ihn später durch die Covid-19-Station des Moskauer Spitals › Kommunarka ‹ führt, ist in weiße Schutzanzüge gehüllt, nur Putin sticht mit seiner raschelnden, knallgelben Montur heraus. Medienwirksam für die vielen Kamerateams, die ihn begleiten.
Kein anderer Staatsmann hat in der Coronakrise für derart spektakuläre Bilder gesorgt wie Wladimir Putin. Doch Bilder können auch täuschen. Der russische Präsident ist in der Coronakrise bisher nicht als der star-ke Mann aufgetreten, als der er sich gerne inszeniert. Keine pathetische Rede an die Nation, um den Zusammenhalt zu bemühen. Kein dramatischer Appell an die Russen, zu Hause zu bleiben. In einer müden, kurzen Rede hat Putin zuletzt angekündigt, die › arbeitsfreien Tage ‹ im Land zu verlängern. Die Verkündung der Maßnahmen, wie die › Quarantäne ‹ oder den › Lockdown ‹, überlässt er diesmal anderen. Gerade jetzt, in der Coronakrise, duckt sich der starke Mann im Kreml weg. › As Covid-19 spreads, Putin is invisible ‹, schrieb zuletzt The Economist.
Eigentlich folgte der Auftritt in der › Kommunarka ‹ ganz der Choreografie des Kremls, in der Putin oben ohne durch die Steppe reitet, seine Gegner im Judo auf die Matte wirft oder griechische Vasen aus dem Meer herauftaucht. Doch für 2020 war ein anderes Drehbuch vorgesehen. Heuer hätte das Jahr werden sollen, in dem die Weichen für die Zeit nach 2024 gestellt werden. Dann endet Putins vierte und verfassungsgemäß letzte Amtszeit. Doch mit einer zuletzt angekündigten Verfassungsreform sollte Putin auch nach 2024 zur Wahl antreten können, indem die bisherigen Amtszeiten einfach auf null gesetzt werden. Am 22. April hätten die Russen über die Änderungen in der Verfassung, die Putin den Machterhalt bis 2036 sichern, abstimmen sollen. Doch dann kam Corona.
Deshalb hat der Kreml lange gezögert, bei Corona hart durchzugreifen. Die ersten Maßnahmen hat Moskau zwar schon im Januar gesetzt, als die 4.700 Kilometer lange Grenzen zu China geschlossen, ankommende Reisende in eine 14-tägige Quarantäne geschickt und in der Moskauer Metro in einer fragwürdigen Aktion nach › chinesischen Personen ‹ gefahndet wurde. Doch als schon halb Europa im Lockdown lebte, lief das öffentliche Leben in Moskau, mit zwölf Millionen Einwohnern immerhin die größte europäische Stadt, noch recht normal weiter. Bis Putin, unter dem Eindruck steigender Corona-Fallzahlen, doch noch die Reißleine zog und das Referendum auf unbestimmte Zeit verschob. › Die Politik wurde lange über die Pandemie gestellt ‹, schreibt Foreign Policy dazu in einem Kommentar.
Warum dieses Referendum so wichtig ist? Russland ist eine Autokratie, keine Diktatur. Auch wenn die Urnengänge in Russland keineswegs unter freien und fairen Bedingungen stattfinden, wie in einer Demokratie, bezieht das System daraus seine Legitimität, um sich seines autokratischen Kurses zu versichern, nach innen und nach außen. › Competitive authoritarianism ‹ haben es die Politologen Steven Levitsky und Lucan Way getauft. Völlig offen ist derweil, wann das Referendum nun nachgeholt werden soll. Wenn Corona über das flächenmäßig größte Land der Welt hinweggefegt ist? Das Gesundheitssystem an seine Grenzen gekommen ist? Die Wirtschaft am Boden, der Lebensstandard gesunken, die Staatskassen leer sind? Erst kürzlich ist die russische Wirtschaft im Ölpreis-Streit mit Saudi-Arabien massiv unter Druck geraten. Für ein Referendum könnte es wohl kaum einen schlechteren Zeitpunkt geben als nach der Coronakrise.
Putin hat es vorgezogen, die Entscheidungen den Gouverneuren zu überlassen und andere Krisenmanager vorzuschicken, wie den farblosen Ministerpräsidenten Michail Mischustin oder den Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, der als erster im Land strenge Ausgangsbeschränkungen verhängte. Auf dem Papier ist Russland zwar eine Föderation, aber Putin hat seine Amtszeiten bisher vor allem dazu genutzt, die Rechte der Regionen zu beschneiden, sowohl politisch als auch finanziell. Es erscheint ironisch, dass die Gouverneure nun ausgerechnet in Russlands wohl bisher größter Krise seit dem Ende der Sowjetunion zu Akteuren werden sollen. Doch dahinter steckt mehr als nur Putins Wunsch, nicht mit unpopulären Maßnahmen assoziiert zu werden, glaubt die Politologin Tatjana Stanowaja: › Putin sieht die Bedrohung durch eine Epidemie schlichtweg nicht als einen Teil seiner präsidialen Agenda. ‹ Es ist bekannt, dass sich Putin lieber um die große Geopolitik kümmert als um das Klein-Klein des politischen Tagesgeschäftes.
Das aber könnte sich rächen. Wladimir Putin hat in den vergangenen 20 Jahren nicht nur die Regionen entmachtet, sondern auch die sogenannte › Vertikale der Macht ‹ aufgebaut. Dass das nicht nur für den Umgang mit Regimegegnern, sondern mitunter auch für das Gesundheitssystem gilt, zeigt ein Beispiel aus 2015, das Putin zum Jahr des Kampfes gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen auserkoren hatte. Das habe dazu geführt, dass die Krankenhäuser umgehend weniger Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen gemeldet hätten, während andere Todesursachen in der Statistik zunahmen. Kein Wunder, dass auch die offiziellen Covid-19-Zahlen zuletzt immer wieder angezweifelt worden sind. In der Vertikale wird die Agenda von oben nach unten durchdekliniert. Von unten nach oben wird dann gemeldet, was gerade opportun ist.
Wenn ein Problem real wird, das nicht manipuliert werden kann, wird die Machtvertikale zum Fluch. Umso mehr, wenn die Spitze klare Vorgaben vermissen lässt. › Die aktuelle Situation hat gezeigt, dass die Machtvertikale ohne Befehle von der Spitze nicht funktionieren kann ‹, sagt die russische Politologin Lilija Schewzowa. › Jeder wartet auf einen Wink des Präsidenten, während Putin die Angewohnheit hat, in Krisen abzutauchen und keine Verantwortung zu übernehmen. ‹ Es ist das Paradox der russischen Politik: Ein System, das für seine Einschränkungen der Bürgerrechte bekannt ist, tut sich in dieser Krise mit der Einschränkung der Bürgerrechte besonders schwer. › Impotente Omnipotenz ‹ nennt es Schewzowa.
Je länger Corona die Welt in Atem hält, desto weniger findet Putin die richtigen Worte. In einer Videobotschaft stellte er das Virus zuletzt in eine Reihe mit den › Petschengen ‹ und den › Kumanen ‹, turkstämmige Reiternomaden, gegen die Russland im Mittelalter kämpfte. › Auch damit ist Russland fertig geworden ‹, sagt Putin. › Wir werden auch dieses Coronavirus besiegen. ‹ Der bizarre Vergleich hat allerdings weniger zu einem nationalen Schulterschluss als vielmehr zu einer Flut an spöttischen Kommentaren in den sozialen Medien geführt. Laut dem renommierten Umfrageinstitut Lewada-Zentrum unterstützen inzwischen nur noch 48 Prozent der Russen die Idee, dass Putin auch nach 2024 weiter an der Macht bleiben soll, 47 Prozent sind dagegen. Das deutet freilich noch lange nicht darauf hin, dass das System Putin zu Ende geht. Doch Covid-19 hat Putins Pläne so gründlich durchkreuzt, wie es in den 20 Jahren seiner Macht weder Kriege, Sanktionen noch Regimegegner taten. •