Datum Talente

Ganz weit oben

Almwirtschaft ist ein hartes Geschäft. Drei junge Quereinsteiger zeigen vor, wie es auch in Zukunft gehen kann.

DATUM Ausgabe September 2021

Kurz vor sechs Uhr ertönt im dämmrigen Matratzenlager eine eindringliche Melodie. Ein kurzes Stöhnen, ein Körper bewegt sich und schält sich aus dem dicken Federbett. Der Klingelton wird abgedreht. In weniger als einer Minute ist Alexander Unterberger in seinem Arbeitsgewand und steigt mit schweren Schritten die schmale Holztreppe hinunter in die Küche. Vor der Türe zieht er die schwarzen Gummistiefel an und begrüßt mit hohen zarten Pfiffen seine Kühe, die auf der Weide nahe der Hütte die Nacht verbracht haben.

Es dauert nicht lange und sie antworten ihm mit kurzen Muhs. Nach ein paar weiteren Pfiffen trottet die kleine Herde langsam Richtung Stall. Kühe sind Gewohnheitstiere, sie haben es gern regelmäßig und geben so zwei Fixpunkte eines Almtages vor: Melken um sechs Uhr morgens und abends.

Hinter der Tür direkt neben dem Stall ist alles weiß, die Wände, die Fliesen, Simon Wöckl. In weißer Mütze, weißem Leibchen, weißer bodenlanger Plastikschürze und weißen Gummistiefeln richtet der Kopf des jungen Almteams in der Käsekammer die Utensilien her, um die frisch gemolkene Milch sofort weiterzuverarbeiten. Währenddessen bereitet Mirjam Weißbacher, die außerhalb der Almsaison in der Gastronomie in Wien arbeitet, das Frühstück zu. Butter, Milch, Joghurt, gebackenen Ricotta, Sauerteigbrot, Hartkäse, alles aus eigener Produktion, Marmeladen und Honig von Mama und Onkel, Porridge und Couscous-Salat vom Vortag füllen den Tisch.

In einer knappen halben Stunde besprechen sie die wichtigsten Arbeiten des Tages abseits der Routine. Simon braucht am Nachmittag Luft für Büroarbeiten. Die Eier sind am Wochenende ausgegangen, weil der Ausschank sehr gut besucht war. Jemand wird sich um den wöchentlichen Einkauf im Tal kümmern müssen, und da Montag normalerweise ein besuchsarmer Tag ist, wird Mirjam die Bewirtung der Gäste großteils alleine bewältigen. Außerdem sind zwei Bauarbeiter zu betreuen, denn die Renovierung des Almgebäudes ist noch nicht abgeschlossen. Um halb acht ist die Pause vorbei.

Die Obisellalm, die Simon Wöckl und Alexander Unterberger dieses Jahr gepachtet haben, liegt 2.160 Meter hoch über dem Passeiertal bei Meran. Sie ist nur zu Fuß erreichbar. Zweieinhalb Stunden dauert der anspruchsvolle Aufstieg, den auch die Kühe beim Auftrieb bewältigen müssen. Nur für den Transport der Waren gibt es eine Materialseilbahn. Es ist der richtige Ort für zwei Quereinsteiger, die das Extreme suchen. › Wir haben bewusst nach einer infrastrukturell schwachen Alm gesucht, wo man kreative Lösungen braucht und wir unsere Ideen einer zukunftsfähigen Almwirtschaft erproben und weiterentwickeln können ‹, erklärt Wöckl die Gründe für ihre Wahl.

Die zwei 30-Jährigen stehen kurz vor dem Abschluss ihres Studiums an der Universität für Bodenkultur in Wien. Beide waren vor dem Studium schon im Berufsleben aktiv, Simon als Bäckermeister, Alex als Landschaftsgärtnermeister. Die › Liebe zu ehrlichen Lebensmitteln ‹ und die Auseinandersetzung mit den landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen hat sie zusammengeführt. Zusammengewachsen sind sie während drei gemeinsamer Sommer auf der Fojedöra-Alm, die am Nordrand der Dolomiten in Südtirol liegt. Nach diesen Lehrjahren wussten sie: Wir sind ein Dreamteam, wir gehen auch weiterhin unserer Leidenschaft ­gemeinsam nach. › Die Arbeit auf einer Alm ist so intensiv, so komplex ‹, sagt Alex, › man ist ein bissl Mechaniker, Elektriker, Installateur. Hirte, Melker, Käser, Bäcker, Koch und Kellner sowieso. Du kannst viel gestalten, musst ständig improvisieren und entwickelst dich in allen Bereichen weiter.

Kein Tag ist wie der andere, wegen des Wetters, des Viehs, der Gäste. ‹ Die Begeisterung schimmert in seinen Augen. Fast wortgleich, nur nüchterner im Ton, beschreibt Simon, was ihn antreibt, und ergänzt: › Wenn du eine Alm betreibst, bist du täglich neu gefordert. Du brauchst auch jede Menge Softskills, für den Umgang mit den einheimischen Bauern, mit den Gästen und auch im Team. ‹

Blickt man zurück auf die Entstehungsgeschichte der Almwirtschaft, dann waren die Motive früher freilich ganz andere. Die Nutzung hochalpiner Weiden entwickelte sich in Verbindung mit dem Salz- und Kupferbergbau in der Bronzezeit, wie Forschungen in den Regionen Hallstatt, Dachstein und Hallein zeigen. Eine intensive Viehzucht war notwendig für die Ernährung der im Bergbau tätigen Menschen. Die Täler waren damals noch weglos, versumpft und verwachsen, und so nicht nutzbar für den Ackerbau. Ebenso zeugt der jährliche Schaftrieb aus dem Vinschgau ins Ötztal von einer jahrtausendealten Hirtenkultur, um durch reichhaltiges Weideland mehr und bessere Nahrungsmittel zu erzeugen.

Im Lauf des Mittelalters begann der Auf- und Ausbau der Almwirtschaft, wie wir sie heute noch kennen. Um noch mehr kräuterreiche Weiden zu erhalten, wurden Wälder abgeholzt und so in einem Prozess von Hunderten von Jahren die Baumgrenze dauerhaft um zwei- bis dreihundert Meter gesenkt. Die Alm, wie wir sie heute kennen, ist eine einzigartige, vom Menschen geschaffene Kulturlandschaft. So schufen die Hirten und Bauern, als Nebeneffekt sozusagen, neue Lebensräume für Pflanzen und Kleintiere. Magerrasen, Hochstaudenfluren, Niedermoore, Felstrockenrasen, Feuchtbiotope, Dolinen, Quellfluren. Die seltsam anmutenden Fachbegriffe beschreiben die Grundlage dessen, was wir auf einer Alm so sehr lieben: bunte prächtige Blumenwiesen, hohe Vielfalt auf engstem Raum.

Dieser Artenreichtum ist in Gefahr, warnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Umweltschutzorganisationen. Almen werden heute oft so intensiv bewirtschaftet, dass die Böden leiden. Die höhere Milchleistung der Kühe hat ihren Preis. Sie werden von den viel gerühmten Almkräutern nicht satt und brauchen zusätzliches Futter, das vom Tal auf die Alm gekarrt wird. Kraftfutter bedeutet mehr Gülle, mehr Gülle führt zu Überdüngung und Verunkrautung. › Aus artenreichen Almweiden und -wiesen werden monotone, blütenarme, spinatgrüne Grasbestände ‹, klagt Luise Schratt-Ehrendorfer vom ­Department für Botanik und Biodiver­sitätsforschung der Universität Wien, die sich für den Erhalt der Biodiversität einsetzt. › Viele Arten, darunter Orchideen, Enziane oder Arnika verschwinden aus den überdüngten Almwiesen und finden nur mehr in weniger intensiv genutzten, höheren Lagen einen eingegrenzten Lebensraum. Der Verlust der Vielfalt ist auf den Almen zwar gegenwärtig noch nicht so schlimm wie auf den Talwiesen, doch die Verarmung ist eine Tatsache ‹, fügt sie hinzu.

Überweidung der gut erreichbaren Almbereiche auf der einen Seite, Unterweidung auf der anderen. Während heute gutes Almpersonal Mangelware ist, sorgten früher Hirten dafür, dass die Tiere auch auf entlegenen und schwer zugänglichen Wiesen grasen. Auch der Beruf des › Almputzers ‹, der von Alm zu Alm zog und aufkommende Büsche und Bäume entfernte, ist ausgestorben. Verbuschung und Verwaldung sind die Folge.

› Wenn du dich in der Almbewirtschaftung auf die Probleme konzentrierst, wirst du nicht mehr fertig ‹, kommentiert Simon Wöckl diese Spirale, › mich interessieren Lösungen ‹. Eine Alm zukunftsfähig bewirtschaften, heißt für ihn, sich zurückzubesinnen auf ihren Ursprung als einen Ort der Lebensmittelproduktion: › Lebensmittel wie Brot und Käse haben etwas zutiefst Emotionales. Sie verbinden uns mit unseren Vorfahren. Es ist ein uraltes Wissen, wie du aus Mehl und Wasser ein Brot bäckst. Oder denk an die Jäger, die bei erlegten Jungtieren entdeckt haben, wenn sie den Bauch aufgeschnitten haben, dass in ihrem Magen die Milch fest geworden ist. Das war der Schlüssel zum Haltbarmachen, um die Ernährung zu bereichern. ‹

Eine abgelegene Hochalm ist nun nicht gerade der idealtypische Ort für eine Sennerei. Doch genau diese Herausforderung sucht Wöckl, der sich selbst einen › Lebens-Mittler ‹ nennt. Er will zeigen, dass man auch unter wid­rigen Umständen Qualitätsprodukte ­erzeugen kann. Dafür brauche es zuvorderst erstklassige, unpasteurisierte Rohmilch, wie sie nur Kühe geben können, die sich wohl fühlen auf der Alm, die sich am Almgras satt fressen und keine Zufütterung nötig haben, wie die hochgezüchteten Milchmaschinen.

› Seit ihr da oben Käse machts, machen die Kühe wieder Sinn ‹, sagte letztes Jahr ein Bauer, der ihnen für den Almsommer auf der Fojedöra drei seiner Milchkühe anvertraut hat. Die Zusammenarbeit basierte auf einem Tauschgeschäft. Gibt eine Kuh in der Saison 750 Liter Milch, erzeugt Simon daraus circa 75 Kilogramm Käse, die Hälfte davon kriegt der Leihgeber. Der freut sich über die Produkte, die die Spinner aus Wien daraus erzeugt haben, und ist stolz auf sein Vieh. Diesen Mehrwert kann ihm keine Förderprämie der Welt ersetzen.

Die Tradition des Käsemachens auf der Alm ist selten geworden. Für DI Johann Jenewein, im Amt der Tiroler Landesregierung zuständig für Almwirtschaft, sind die Sennalmen nach wie vor die Königsklasse. › Wenn der Gast auf die Alm geht, erwartet er sich eigentlich ein Glas Milch, noch besser ein Stück Käse, und optimal ist es natürlich, wenn der Käse auf der Alm selber hergestellt und nicht von irgendwo hergekarrt wird. Der Weiterbestand der Sennalmen ist sehr wünschenswert, deshalb unterstützt sie das Land Tirol auch entsprechend ‹, fügt er erklärend hinzu. Doch allzu begehrt scheint diese Auszeichnung nicht zu sein, denn ihre Zahl ist stark zurückgegangen, und das trotz Förderungen. Zum Beispiel wird in Tirol nur mehr auf 60 von 2.000 bewirtschafteten Almen Käse erzeugt, vor zehn Jahren war das immerhin noch auf rund 200 der Fall. Auch Melkalmen, von denen die Milch ins Tal geliefert und dort in den Sennereien zu pasteurisiertem Almkäse transformiert wird, gibt es nur mehr 265 Stück.

Den Grund für diesen Rückgang ortet Markus Schermer, Professor für Agrar- und Regionalsoziologie an der Universität Innsbruck, im rasanten Strukturwandel der Landwirtschaft insgesamt. In günstigen Tallagen wird die Bewirtschaftung intensiviert, während sie auf der Alm verringert wird. › Die Behirtung wird auf ein Minimum reduziert und häufig durch regelmäßige Besuche vom Talbetrieb aus organisiert. Fehlendes Wei­demanagement und reduzierte Alm­pflege führen zu unregelmäßiger Beweidung der Almflächen und zur sogenannten Legerflora: Das ist die Verunkrautung infolge von Stickstoffüberschuss rund um das Alpgebäude ‹, schreibt er in der Zeitschrift Wege für eine Bäuerliche Zukunft von Via Campesina, eine Vereinigung österreichischer Berg- und Kleinbäuerinnen und -bauern, die sich für eine faire, umweltverträgliche und zukunftsfähige Landwirtschaft einsetzt.

Ein kluges Weidemanagement ist auch für den Hirten und studierten Agrarpädagogen Alexander Unterberger besonders wichtig. Er koppelt die Weiden, das heißt, er zäunt für eine gewisse Zeitspanne eine Fläche ein, um das Abgrasen zu steuern. So lässt sich aus den Almwiesen nachhaltig das Beste herausholen und gleichzeitig der Artenreichtum fördern. Doch möglich sei das nur mit standortgerechten Rassen wie dem Tiroler Grauvieh oder den Pinzgauern, sagt Unterberger. Diese hätten viele Vorteile: bessere Klauen, sie sind geländegängig und insgesamt widerstandsfähiger. Das Almleben ist für die Kühe eine enorme Umstellung. Sie müssen selber Futter suchen, sich orientieren, sind 24 Stunden Wind und Wetter ausgesetzt. Nur fürs Melken kommen sie in den Stall. ›

Hochgezüchtete Kühe passen nicht auf die Alm ‹, entrüstet sich der leidenschaftliche Viehhalter, › sie können ihren Energiebedarf nicht mehr über das Gras decken. Früher konnte ein Bauer ein Drittel mehr Vieh haben, wenn er sie auf die Alm aufgetrieben hat, weil er dadurch so viel Futter dazugewonnen hat. Und heute? Es kann doch nicht sein, dass man Kraftfutter aus Brasilien tonnenweise auf die Almen führt! ‹

Es ist Mittag auf der Obisellalm. Die ersten Wanderer machen Rast, es sind mehr Gäste als gedacht an diesem Montag, Simon muss in der Küche aushelfen. Die weiße Kleidung für die Käsekammer hat er mit seinem liebsten Almgewand getauscht. In einem schwarzen T-Shirt mit dem Aufdruck › Scheiß di nid au ‹ und einer speckigen kurzen Lederhose steht er hinter dem Gasherd und backt eine Portion Kaiserschmarrn. Die Speisekarte ist klein und auf Traditionelles und Selbstgemachtes konzentriert: Kas­pressknödel in der Suppe oder mit Salat, eine kalte Platte mit Brot, Butter, gebackenem Ricotta, Grau- und Almkäse, alles auf der Alm erzeugt. Fleisch gibt es nur am Wochenende, wenn der Backofen eingeheizt wird und der Braten in der Restwärme schmoren kann.

› Ohne Brotbackofen geht es gar nicht ‹, erklärt Simon interessierten Gästen und lacht, › überall wo ich bin und sein werde, wird einer stehen. Das sind meine Wurzeln. ‹ Neben der Almhütte hat er im Juni den Ofen konstruiert. Das Fundament besteht aus Steinen, die sie auf den Wiesen gesammelt haben. Darauf haben sie einen Metallrahmen gesetzt, der mit Schamott ausgekleidet ist. 50 Kilogramm Brot kann in einem › Schuss ‹ darin gebacken werden. Der Funke springt auf die Besucher über, viele kehren mit einem schwereren Rucksack ins Tal zurück.

Die Gastronomie ist für die jungen Obiseller der dritte wichtige Pfeiler im Konzept der zukunftsfähigen Almwirtschaft, neben einer guten Tierhaltung und der Milchverarbeitung. › Wir wollen die Leute auf die Alm holen und begeistern. Denn tierfreundliche, dezentrale Formen der Produktion sind möglich. Wenn wir den Käse emotional und gedanklich aus dem Plastikpackerl im Supermarkt herauslösen, wird sich der Umgang der Menschen mit anderen Lebewesen verändern ‹, ist der leidenschaftliche Käser Wöckl überzeugt. › Natürlich wäre es leichter, was Veganes zu machen oder dich in der Stadt in Vertical Farming oder Schwammerlzucht zu versuchen, aber unser Ding ist die Hochalm, und dort hochwertige tierische Produkte herstellen. ‹ Und finanziell geht sich das aus? › Du gehst ja nicht auf die Alm, um reich zu werden, du gehst auf die Alm, weil du davon fasziniert bist ‹, sagt Wöckl.

Doch Begeisterung allein ist natürlich nicht alles. Für ein dauerhaftes Konzept müssen auch die Finanzen stimmen. Die Aufteilung der Einnahmen zwischen den Dreien erfolgt durch mündliche Absprachen. Ein Teil davon bleibt im Projekttopf für kleine Investitionen und Reparaturen. Den Rest zahlen sie sich je nach Anzahl der Almtage aus. Zwei bis drei Monate werde jeder von ihnen davon leben können, schätzt Simon Wöckl und hofft auf einen sonnigen September, denn im verregneten Juli blieb der Umsatz unter den Erwartungen. Über den Daumen gepeilt könne man sagen: Wer drei Monate auf der Alm arbeitet, kann weitere drei Monate davon leben. Diese Rechnung steht und fällt mit dem Almausschank und dem Direktverkauf der selbst erzeugten Produkte. Ein zweites Standbein für den Rest des Jahres brauchen also alle drei. Wöckl wird im Winter auf seinen Ursprungsberuf zurückgreifen und Bäckereien in Österreich in punkto Nachhaltigkeit beraten.

Gegen 17 Uhr sind die letzten Gäste weg. Mirjam bereitet auf der Terrasse vor der Hütte den abendlichen Abwasch vor. Während des Schankbetriebs war keine Zeit dafür. Das schmutzige Geschirr des ganzen Tages ist in zehn Wasserwannen eingeweicht. Fürs Spülen holt sie Wasser aus der Küche, das sie auf dem Holzherd heiß gemacht hat. Alex ist rechtzeitig fürs abendliche Melken vom Einkauf zurück. Simon wirft sich ins Käsergewand. Mirjam ist neu im Almgeschäft. Wie ihre Kollegen sagt sie auf die Frage der Arbeitsteilung: › Jeder hat seine Schwerpunkte, aber alle machen alles. ‹ Sie schätzt diese Vielseitigkeit, die das Almleben verlangt. Das Ziegenmelken geht ihr schon gut von der Hand, zudem sind Hühner und zwei Schweine zu betreuen. Letztere haben Simon und Alex einem Mastbetrieb abgekauft, um sie auf der Alm aufzufüttern. Nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung laufen sie mittlerweile vergnügt auf den weiten Wiesen auf und ab. Im Herbst werden sie geschlachtet, um daraus Kaminwurzen und Speck machen. Dann gibt es nächstes Jahr noch mehr Selbstgemachtes.

Drei Leute, die täglich zwölf bis 15 Stunden arbeiten, auch an Sonn- und Feiertagen. Ist das zukunftsfähig? Kann die Begeisterung für die Alm so groß sein? Die harten Arbeitsbedingungen stellen alle Bewirtschafter vor große Probleme. › Insbesondere fachkundiges Personal ist schwierig zu finden ‹, bestätigt Johann Jenewein. Es gibt eine Website mit einer Almstellenbörse, unter den Bewerbern seien allerdings oft Romantiker, die nach ein bis zwei Wochen das Handtuch werfen würden. Trotzdem sähe es insgesamt nicht schlecht aus, so Jenewein. Denn auf kleinen Almen mit nur 15 bis 20 Stück Jungvieh sei eine ständige Präsenz von Hirtenpersonal nicht notwendig. Zudem sei Personal der Hauptkostenfaktor. Seiner Ansicht nach genügt es, wenn alle zwei Tage jemand nachschaut, ob alles in Ordnung ist. Nur circa 40 Prozent der Almen in Österreich werden mit Behirtung betrieben.

Für den Tiroler Landesumweltanwalt Johannes Kostenzer ist hingegen Per­sonal vor Ort wesentlicher Bestandteil einer zukunftsfähigen Almwirtschaft. Nicht nur wegen der akut gewordenen Wolfsthematik, sondern aus Gründen des Tierwohls, des Erhalts der Artenvielfalt und notwendiger Almpflegemaßnahmen. › Die Schweiz hat schon vor vielen Jahren einen ganz anderen Weg eingeschlagen und ein Anreizsystem für den Almberuf geschaffen. Es gibt so viele junge Menschen, die nicht mehr diesen Nine-to-Five-Job wollen und andere, erfüllendere Perspektiven suchen. Die Arbeit auf der Alm ist eine harte, aber schöne. Da lässt man Chancen liegen, wenn man das seitens der Landwirtschaft nicht nutzt ‹, ist Kostenzer überzeugt.

Der Ruf nach mehr Innovation ist Wasser auf die Mühlen des Teams rund um Simon Wöckl. Es ist ein extremer Einschnitt, für vier Monate auf eine Alm zu gehen. › Du fällst jeden Abend todmüde ins Bett, du bist von deinen sozialen Kontakten abgeschnitten, Freunde haben geheiratet oder ihren Job gewechselt, und du hast nichts mitgekriegt ‹, weiß er aus eigener Erfahrung. Im Herbst werden sie einen Almverein gründen, der Erfahrene und Neulinge, Alte und Junge mit derselben Vision vereint. Dieses Netzwerk soll mehr Freiheiten ermöglichen. Auch Leute, die in einem › normalen ‹ Berufsleben stehen, könnten so für kürzere Zeit auf der Alm arbeiten. › Wir wollen einfach eine Alternative zum traditionellen Bewirtschaftungssystem – entweder du gehst die ganze Saison auf die Alm oder gar nicht – schaffen ‹, ergänzt Alex.

Derzeit ist so eine Flexibilität Zukunftsmusik. Trotz verheißungsvoller Ideen ist das tägliche Arbeitspensum auf der Obisellalm enorm. Aber nicht nur. Fürs Finale der Fußball-EM etwa beendeten Simon und Alex ihr Tagwerk ausnahmsweise einmal pünktlich um 18:30, zogen sich um, stiegen hinunter ins Tal und fuhren zum Public Viewing nach Meran. Die Nacht war kurz, um sechs Uhr morgens waren sie wieder da, der eine im Stall, der andere in der Käsekammer. › Wir wollten einfach etwas Normalität erleben ‹, sagt Simon, › dabei interessiert uns Fußball gar nicht ‹.

Alex ist der Erste, der in die sogenannte Normalität zurückkehrt. Anfang September beginnt er seinen neuen Job als Fachlehrer an einer landwirtschaftlichen Lehranstalt. › Seine ‹ Kühe steigen je nach Witterung in der ersten Septemberhälfte ab, wofür Alex noch einmal auf die Alm zurückkehrt. Mirjam nimmt ihre Arbeit in der Wiener Gastronomie wieder auf und setzt ihr sozialpädagogisches Studium fort. Für Simon sind die letzten Almwochen eine Zeit zum Genießen und Reflektieren. Der streng getaktete Tagesablauf mit Melken und Käsen ist vorbei. Und trotzdem ist von wirklicher Ruhe keine Spur, denn der Ausschank läuft im Wandermonat par excellence auf Hochtouren. Mit Unterstützung von drei zukünftigen Mitgliedern des Almvereins kann er die › volle Käsevielfalt ‹ anbieten, darunter den ersten echten Obiseller Almkas sowie, neu im Programm, einen auf 2.160 Meter Höhe gereiften Blauschimmelkäse.

Wenn er dann Ende September die Hütte zusperrt, kehrt er mit den restlichen Käselaiben zurück in sein › Basislager ‹ in Oberösterreich, wo sie bis zur nächsten Saison in einem Weinkeller lagern und gedeihen werden. Dort wird er über den Winter die Erfahrungen der Almsaison theoretisch vertiefen, in seinem Labor mit verschiedenen Reifemethoden experimentieren, eigene Käsekulturen herstellen und neue Ideen spinnen. Vielleicht können sie nächstes Jahr auf der Alm sogar eine Höhle für die Reifung des Blauschimmelkäses verwenden, schwärmt Wöckl. Denn nach der Alm ist vor der Alm. •