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Geliehene Arme und Beine

Rund 2.000 Menschen in Österreich nehmen aufgrund einer Behinderung persönliche Assistenz in Anspruch. Während der Bund beruflich notwendige Assistenz finanziert, ist sie im Privaten nur unter prekären Konditionen möglich. Das macht allen Beteiligten das Leben schwer.

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Fotografie:
Guilherme Silva da Rosa
DATUM Ausgabe November 2020

Wenn Gabriela Obermeir morgens aufwacht, bleibt sie erstmal liegen. Dann blickt sie auf die gelb gestrichene Decke über sich, auf die Uhr zu ihrer linken Seite oder zu den Bildern, die am anderen Ende des Raumes hängen. An manchen Tagen vergeht die Zeit schnell. An anderen denkt sie sich Wortketten aus, um die Zeit zu vertreiben. Gabriela Obermeir wäre bettlägerig – würde sie nicht Tag für Tag von ihren Persönlichen Assistenten unterstützt.

Als sie sich vergangenes Jahr selbst aus dem Bett in den Rollstuhl hieven wollte, brach sie sich das Bein. Der Sturz auf den Parkettboden war in Kombination mit ihrer Autoimmunerkrankung fatal. Knapp ein Jahr verbrachte sie anschließend im Krankenhaus. Weil auf das eine das andere folgte, Behandlungen weitere Behandlungen nach sich zogen und sich ihre Entlassung immer weiter verzögerte. Seitdem bleibt sie morgens lieber liegen und wartet auf den Dienstbeginn ihres Assistenten. Gabriela Obermeir ist seit 2011 Persönliche Assistenznehmerin – › die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können ‹, wie sie sagt. Das bedeutet, dass sie Arbeitgeberin für fünf Menschen ist, die in wechselnden Diensten all die Dinge tun, die sie selbst wegen ihrer krankheitsbedingten Bewegungseinschränkungen nicht mehr tun kann. › Eine Art Verlängerung der Arme und Beine ‹, wie ihr Assistent In-Ja Ackermann hinzufügt.

Solcherart › verlängerte Arme und Beine ‹ haben in Österreich 2.000 Menschen, so eine Schätzung der Organisation BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Wien. In der österreichischen Hauptstadt sollen laut BIZEPS rund 400 Menschen Persönliche Assistenz in Anspruch nehmen, auch in Tirol besteht ein hohes Unterstützungsausmaß. In anderen Bundesländern sind die Zahlen weitaus geringer. Genau lässt sich das allerdings nicht sagen, denn je nach Assistenzform sind unterschied­liche Instanzen für die Verwaltung zuständig.

Persönliche Assistenz ist ein Modell, das Menschen mit körperlichen Behinderungen eine höhere Lebensqualität ermöglicht – im Sinne des selbstbestimmten Lebens. Dadurch unterscheidet es sich von der Pflege. Allerdings funktioniert das Modell nur mit finanzieller Unterstützung, die in vielen Fällen nicht ausreicht. Persönliche Assistenten im Berufsalltag sind bei den jeweiligen Assistenznehmern angestellt – und damit sozial abgesichert, weil der Bund dafür die vollen Kosten übernimmt. Für die genauso notwendige Assistenz im Privatleben hingegen gelten in jedem Bundesland andere Konditionen. In Wien sind Assistenten freie Dienstnehmer, die von der Stadt gefördert werden. In Summe bleiben für die Assistenten stündlich oft nicht mehr als elf Euro netto übrig. Weil nicht nur der Stundensatz, sondern auch die Berechnung des alltäglichen Stundenbedarfs und somit die gesamte Fördersumme oft gering ausfällt, entsteht für Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, ein problematischer Alltag. Sie geraten in finanzielle Schwierigkeiten, in riskante Situationen oder rutschen in die Isolation. Dabei liegen seitens des Arbeits- und Sozialgerichts längst Urteile darüber vor, dass Persönliche Assistenten aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht über ein Anstellungsverhältnis verfügen sollten : Weil sie weisungsgebunden und nach Dienstplan arbeiten und dabei keineswegs über Freiheiten verfügen, die im freien Dienstvertrag üblich sind. 

› Wenn niemand da ist, ist das für mich lebensgefährlich ‹, erzählt Thomas Stix. Er sitzt in der Mitte des großen, beinahe leer wirkenden Raumes seines Büros. Durch das geöffnete Fenster sind vergnügte Schreie vom nahegelegenen Spielplatz zu hören. › Mir muss nur die Hand von der Armlehne rutschen und ich erreiche im Notfall nicht mal mehr das Handy ‹, fährt er fort. 

› Wenn ich beim Atmen Unterstützung brauche, wenn ich mich verschlucke und nicht selber aushusten kann, dann wird es existenziell lebensbedrohlich ‹, erklärt auch Dorothea Brożek. Aber auch in weniger drastischen Situationen ist das Einsparen von Stunden wegen zu geringer Fördersummen unangenehm. Und entwürdigend, wie die Assistenznehmerin hinzufügt. › Wenn ich Unterstützung brauche, um auf die Toilette zu gehen. Wenn sich ein Insekt auf mich setzt und mich sticht. Das klingt banal, aber in der Praxis sind das Scheißsituationen. ‹ Dorothea Brożeks Stimme bebt. 

Oft bedeuten die fehlenden Stunden auch schlichtweg Einbußen in der Lebensqualität, um die es ja ganz grundsätzlich im Assistenzmodell geht. › Wenn ich mir keine längeren Abenddienste leisten kann, muss ich das Treffen mit meiner Freundin absagen ‹, bemerkt Marlies Neumüller. Dann sitzt man abends eben alleine zu Hause, verzichtet auf soziale Bedürfnisse und erlebt Einsamkeit.

In Wien besteht die Möglichkeit zur Persönlichen Assistenz im Privatbereich seit 2008. Das bedeutet, dass Menschen, die nach medizinischer Beurteilung ei­ne fortgeschrittene Pflegestufe aufweisen, die Chance haben, alltägliche Unterstützung zu erhalten, ohne in ein Heim übersiedeln zu müssen. Das heißt, selbst entscheiden zu können, auf welche Art gewaschene Kleidung gefaltet wird, wann es Abendessen gibt und vor allem auch, mit wem sie wann ihre Zeit verbringen. So verfügen Menschen auch dann über Freiheit, Autonomie und ein selbstbestimmtes Leben, wenn ihre Körper anders funktionieren als die der meisten. › Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. ‹ Das sagt Artikel 1 der Allgemeinen Menschenrechtskonvention. Die UN-Behindertenrechtskonvention ergänzt dazu das Recht auf Persönliche Assistenz, sofern diese von den jeweiligen Menschen gewünscht wird.

Damit Menschen mit Assistenzbedarf auch ihre Würde nicht abgesprochen wird, sind sie im Arbeitgebermodell der Persönlichen Assistenz die Vorgesetzten ihrer Assistenten. Das bedeutet, dass Persönliche Assistenz kein Pflegesystem ist, in dem Pflegekräfte nach eigener Einschätzung oder allgemeinen Vor­gaben das Beste für ihre Klienten tun. Viel mehr machen Assistenten das, was die jeweiligen assistenznehmenden Menschen ganz individuell benötigen. Das macht ihr Aufgabengebiet vielfältig.

› Wenn ich mit Bekannten oder Freunden spreche, dann sagen alle : »Boah, das was du arbeitest, das könnte ich nie arbeiten« ‹, sagt die 26-jährige Teresa Wöhrer. Als Persönliche Assistentin hat sie zu arbeiten begonnen, um sich das Studium zu finanzieren. Das ist fünf Jah­re her. Heute ist sie studierte Biotech­nologin und arbeitet immer noch als Persönliche Assistentin bei Unternehmensberaterin und Coach Dorothea Brożek. Sie leistet rund 20 Stunden in der Woche, wodurch sie sich ein zweites Studium finanziert. Auch Anna Schiller ist in ihren 20ern und finanziert sich durch den Beruf die Ausbildung. › Die Leute tun, als würde ich täglich sowas Schlimmes miterleben. Als wäre das so furchtbar, nur weil das Wort Behinderung vorkommt ‹, lacht die zarte Frau und schüttelt ihren Kopf.

 › Die Essenz ist, dass ich meine Muskelkraft herborge ‹, erzählt Anna, die ebenfalls Dorothea Brożek unterstützt. Das bedeutet etwa, das Frühstück zu machen, beim Zähneputzen oder Anziehen zu assistieren, den Müll hinunterzutragen oder die Katze zu füttern. Ganz banale Alltagssachen eben, sagt Teresa. Und dann sind da noch die spezielle­ren Dinge, manchmal ganz kleine : Die Hände der Chefin auf die Tastatur zu legen, um ihr das tägliche Arbeiten zu ermöglichen. Ihren Körper im Bett in eine angenehme Liegeposition zu bewegen. Bei auswärtigen Terminen Rampen aus dem Auto zu legen, manchmal auch auf Dienstreisen im Ausland. › Da geht es dann teilweise um Millimeterarbeit ‹, erklärt Anna. › Wenn ich sitze und meine Strumpfhose zwickt, dann zieh ich sie einfach zurecht. Wenn meine Chefin die Strumpfhose zwickt, muss sie erkennen, dass es zwickt, wo es zwickt und welchen Handgriff es auf welche Weise braucht. Sie muss Worte dafür finden, und ich muss die Handlung dementsprechend ausführen. Da muss die Kommunikation passen, damit letztendlich auch die Lebensqualität passt. ‹

Bei einer so körpernahen Arbeit wird es schnell intim. › Dann muss man die Balance finden zwischen Intimität und respektvollem Abstand ‹, sagt Teresa, und das falle vielen oft schwer. Am Schluss ist die Chefin nämlich immer noch die Chefin. Auch wenn bei all der Empathie und Feinfühligkeit die Grenzen zwischen Freundschaft und Professionalität manchmal zu verschwimmen drohen. Gerade, wenn es um emotionale Situationen geht, kann der Abstand zur Herausforderung werden. Supervision oder eine andere Form der psychologischen Begleitung ihrer Tätigkeit ist dabei nicht vorgesehen. Warum machen die Assistenten dennoch diesen anspruchsvollen Job ?

 › Ich finde den Beruf an sich recht angenehm. Man kann sich seine Zeiten flexibel einteilen, und es ist weniger hierarchisch als in anderen Jobs ‹, sagt In-Ja. In einer durchschnittlichen Woche hat er fünf Dienste zu je fünf Stunden täglich. Für Anna und Teresa ist es vor allem die Sinnstiftung, die sie zu ihrer aktuellen Tätigkeit bewegt. › Ich mache einen Job, ohne den nicht alle Menschen gut leben könnten ‹, erzählt Anna, die zuvor im Fitnessstudio gearbeitet hat, und das sieht auch Teresa, die studierte Biotechnologin, so : › Die Menschen, die Persönliche Assistenz in Anspruch nehmen, können dann ja auch wieder einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Die können ihrer Arbeit nachgehen, sich um ihre Angehörigen oder andere Menschen kümmern. Die sind ja auch ein ganz wesentlicher Baustein dieser Gesellschaft, und das ist nur durch unsere Arbeit möglich. ‹

Vor allem steht das Modell der Persönlichen Assistenz auch für einen Paradigmenwechsel. Statt Menschen mit Behinderungen, wie so lange, als beeinträchtigte Menschen mit Hilfsbedarf zu sehen, sind sie Arbeitgeber für viele vor allem junge Menschen, die sich so ihr Leben finanzieren. › Das ist wieder das Thema von Betreuung und Unterstützung ‹, sagt Teresa. › Wir betreuen nicht. Wir passen auf niemanden auf. Man ­ermöglicht einer Person ein selbstbestimmtes Leben ‹, fasst sie zusammen. › Man muss es aushalten können, dass man acht Stunden einfach für jemand anderen da ist. Da kann man sich selbst nicht zu viel Raum nehmen ‹, ergänzt Anna.

Dass Erfahrungen wie diese die Möglichkeit erfordern, sich in seiner Freizeit zurückzuziehen, sich zu erholen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen, ist klar. Bei so viel Nähe ist man auch dann dabei, wenn die Vorgesetzte mal einen schlechten Tag hat und sich im Ton vergreift.  Wenn sie von psychischen Belastungen gequält wird und die Assistenz als Freundin oder gar als Therapeutin herhalten muss. Wenn persönliche Differenzen zu Konflikten zwischen As­sistenz und Assistenznehmer führen. Oder auch, wenn es zu besorgniserregenden Situationen, wie ernstzunehmenden Krankheiten, kommt und man tagelang mit der Angst im Bauch aufwacht, dass heute ein negativer Anruf aus dem Krankenhaus kommen wird. Dann kann sich die Sorge auch in psychosomatischen Symptomen zeigen, in einer stress­­bedingten Gastritis etwa, wie eine der Assistentinnen am eigenen Leib erfuhr. Hart wird es, wenn der erforderliche Krankenstand dann die eigene finanzielle Existenz bedroht.

› Ein Fleckerlteppich der Finanzierung und der Verantwortlichkeit ‹ sei die Persönliche Assistenz, merkt Assistenznehmerin Dorothea Brożek an. Für die Assistenz im Privatleben mangele es schlicht an öffentlicher Finanzierung. Da gibt es kein Urlaubsgeld, keine Absicherung und auch kein volles Gehalt im Krankheitsfall, bei dem die Hälfte des im Vormonat Geleisteten bezahlt wird – und das auch erst ab dem vierten Tag im Krankenstand. Schwierig, wenn man etwa in Zeiten von Covid bei ersten Krankheitssymptomen zu Hause bleiben soll, insbesondere im Arbeitsalltag mit einer der Hochrisikogruppen.

› Durch die jahrelange Unterdotierung im Budget der Stadt Wien haben viele von uns Schulden ‹, sagt Dorothea Brożek. Das betont auch Niki Kunrath, Behindertensprecher der Wiener Grünen : › Die Umstände sind ja der Wahnsinn ‹, kritisiert er. › Die Leute kommen in eine Armutsfalle und sind gleichzeitig auch noch in einer diskriminierten Situation. ‹ Und das, obwohl Assistenznehmerinnen und Assistenznehmer auch in Zeiten wie diesen Arbeitsplätze schaffen und den Staat auf diese Weise noch einiges weniger kosten würden als ein ständiges Bett im Pflegeheim, wie Thomas Stix betont. Deshalb steht die Forderung nach einer Überarbeitung des Persönlichen Assistenzsystems und eine bundesweite Vereinheitlichung eigentlich auch im Regierungsübereinkommen zwischen Grünen und ÖVP. Nur die Umsetzung des Plans lässt auf sich warten.

Die Stadt Wien hatte wenige Tage vor der Gemeinderatswahl im Oktober zwar angekündigt, den Stundensatz ab 2021 um zwei Euro anzuheben. Doch bewirkt diese Maßnahme überhaupt etwas ? Kaum, wenn man Niki Kunrath oder Dorothea Brożek fragt. › Das ist ein Schritt in die richtige Richtung ‹, sagt die Assistenznehmerin, ermögliche aber auch keine Perspektiven. › Mit 18 Euro pro Stunde kann man niemanden anstel­len, dafür sind die Abgaben zu hoch. Das sorgt für weitergehende prekäre Arbeitssituationen in einem Herbst, in dem die Covid-Infektionen wieder zu steigen drohen. ‹ Auch Inflationsanpassungen sind in der Maßnahme nicht angekündigt. Und das war es eigentlich, worum es Thomas Stix in seiner Initiative #Assistenzprotest ging. Eine Erhöhung um 20 Prozent hat er sich gewünscht. Nun folgt eine um 12,5 Prozent.

Ist seitens der Wiener Politik noch mehr geplant ? › Zum jetzigen Zeitpunkt nicht ‹, antwortet der Mediensprecher von Sozial- und Gesundheitsstadtrat Peter Hacker. 

› Leider gibt es immer wieder die Ausrede, dass im Land nichts gemacht werden muss, wenn auf Bundesebene eine Vereinheitlichung kommt ‹, merkt Kunrath dazu an.

So bleibt also erstmal beinahe alles so, wie es ist : mit niedrigen Löhnen und einem zweigeteilten Assistenzsystem. › Die Menschen glauben, das sind zwei Assistenzformen, aber das ist ein Blödsinn, das ist einfach Assistenz ‹, sagt Dorothea Brożek, die mit perfekt geschminkten Lippen auf der Terrasse ihrer Wiener Wohnung sitzt. Denn nur, weil man zu der einen Zeit am Schreibtisch sitzt und zur anderen Zeit im Wohnzimmer, hat man noch lange nicht getrennte Bedürfnisse. Gerade in einer Welt, in der die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmen – im neu entdeckten Homeoffice etwa oder ganz einfach in der Selbstständigkeit. › Da bräuchte ich für das Frühstück die Assistenz im Privatbereich und für den Arbeitsweg die Berufsassistenz. Keine Assistenz würde einfach nur für eine Stunde Frühstück machen und dann wieder gehen ‹, erzählt Marlies Neumüller, die Assistenznehmerin und Trainerin im Bereich Erwachsenenbildung ist.

Bis sich im System etwas ändert, bleibt der Job als Persönliche Assistenz für In-Ja, Anna und Teresa ein Studentenjob. Für die Assistenznehmer besteht weiterhin Grund zu kämpfen : für Sozialleistungen, für höhere Löhne und für mehr finanzierte Unterstützungsstunden. Und weil sie von traditionellen ­Medien so oft ungehört bleiben, kämpfen sie eben auf ihre Weise : selbstbestimmt. In schriftlichen Social-Media-Kampagnen wie #Assistenzprotest oder mittels umfangreicher Videos, wie in der von Neumüller initiierten Youtube-Kampagne › Ich will die Wahl haben ‹. › Wir haben mit wenigen Aktionen schon so viel erreicht ‹, lächelt Dorothea Brożek. Die Einführung des Pflegegeldes für Menschen mit Behinderungen etwa oder eben die Förderung der Persön­lichen Assistenz. › Was würden wir nur erreichen, wenn wir alle zusammenhalten ? ‹