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Gewissenhafte Jäger

Fabian Grimm isst Tiere – aber nur, wenn er sie selbst getötet hat. Er ist › Jeganer ‹ und damit Anhänger einer neuen Jagdethik, die aus dem Jagen wieder einen ganzheitlichen und naturverbundenen Akt machen will.

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Fotografie :
Fabian Grimm
DATUM Ausgabe April 2021

Es ist Mittag an einem frühen Jännertag, das letzte Wochenende vor der Schonzeit, und in den Wäldern bei Bayreuth steht der Schnee knöchelhoch. Fabian Grimms hohe Stiefel knirschen und wühlen ab und zu Blätter und Waldboden unter der weißen Schicht auf. Der 32-Jährige hat festgestellt, dass genau ein Reh noch in seinen Kühlschrank passt, der eigens für Wildbret im Keller steht. Dieses eine Reh möchte er sich jetzt holen, kurz vor Ende der Jagdsaison.

In seinen frühen 20ern wohnte Grimm in einem hippen Viertel in Berlin und verzichtete konsequent auf Fleisch. Anstelle von Grillwürstchen gab es mit ­Olivenöl bepinselte Zucchini, statt des Weihnachtsbratens Gemüse­lasagne. Er sei einer von der Sorte gewesen, die mit ihrem Ernährungsstil Leuten auf den Keks gehen, ohne das nötige Fachwissen über Tierhaltung zu besitzen, wie er sich rückblickend selbst beschreibt. Zehn Jahre später steht er im Wald, schießt selbst Tiere tot und macht daraus, was immer ihm schmeckt. Wie kam es zu die­ser Verwandlung ? Ist sie ein Zu­kunfts­modell, das Fleischkonsum und Kritik an der Massentierhaltung versöhnt ?

Fabian Grimm ist überzeugter Jäger – mit Verantwortungsbewusstsein, wie er sagt, für die eigene Ernährung und den Umgang mit natürlichen Ressourcen. Er mag Fleisch, und er isst auch nicht unbedingt wenig davon, erklärt er am frühen Nachmittag, als die Temperaturen noch etwas milder sind und doch schon leise die Flocken durch den Wald wirbeln. Heute morgen etwa hat er Rehleberwurst zum Frühstück gegessen, aus eigener Verarbeitung, versteht sich. Fleischhunger ist ja erst einmal nicht ungewöhnlich für einen Jäger, aber für einen Menschen mit Grimms Biografie durchaus, denn eigentlich verkörpert der junge Mann den großstädtischen Millennial : Er ist Grafikdesigner von Beruf und hat sich aus Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewusstsein lange Zeit vegetarisch ernährt. Weil seine Partnerin damals Forstwissenschaftsstudentin war und zu Hause oft Jagdbücher liegen hatte, näherte er sich dem Thema langsam an.

Als eigentliches Erweckungs­erlebnis beschreibt Grimm den Besuch auf einer Schaf-Farm eines befreundeten Paares in Schottland. Auf der konventionell betriebenen Farm beobachtet er, wie die Züchter sich liebevoll um die Tiere kümmern und sie auf den Weiden halten, bis irgendwann der Zeitpunkt gekommen ist, mit ihnen zum Schlachter zu fahren. Dass die Schafe den Großteil ihrer Zeit auf den Weiden verbringen können, funktioniert nur, weil sie nicht täglich gemolken werden müssen – dann müssten sie im Stall stehen und mit Heu versorgt werden. Fleischschafe leben also ein natürlicheres Leben als Milchschafe, so sein Fazit. Fabian Grimm beschließt, dass er seine großstädtische Voreingenommenheit ablegen und mitreden will und dazu viele Zusammenhänge vorher richtig verstehen muss. Zusammen mit seiner Partnerin meldet er sich für den Jagdschein an, ist fasziniert von der Entscheidung, die von einem Schuss abhängt. Und davon, wie lange man sich mit einem einzigen erlegten Tier versorgen kann : Wochen und Monate. Er kommt zum Schluss, dass es okay für ihn ist, Wildfleisch zu essen. Damit vertritt Fabian Grimm, ohne explizit darüber zu sprechen, eine Überzeugung, die auch ein gleichnami­ger Club in Österreich teilt : Die ›Je­ga­na‹. Naturverbundene Jäger, die sich vom selbst erlegten Wild ernähren.

Genaue Zahlen da­­rüber, wie viele Menschen in Österreich sich tatsächlich im Dunstkreis dieser Überzeugungen befinden, lassen sich nicht eruieren. Wolfgang Holzinger ist Vorstandsvorsitzender im privaten Verein Jegana und hat ein › Manifest der modernen Waidgerechtigkeit ‹ geschrieben. Auf der Homepage des Vereins sind 22 Partner und Gleichgesinnte angeführt, die die Idee der Jegana unterstützen : unter anderem der Tiroler Jagdverband, das Jagdmagazin Die Jägerin, der Schusswaffenhersteller Steyr, der türkische Sportwaffenversand Akkar und auch Fabi­an Grimms Blog Haut Goût werden dort genannt. Zwischen Verbänden, Vereinen, Geschäften, Industrie und Einzelpersonen sind es an die 40.000 Vereinsmitglieder im deutschsprachigen Raum, sagt Wolfgang Holzinger. Er legt Wert darauf, dass die ideellen Hintergründe seines Manifests nicht als reine Ernährungsform, sondern als eigene Philosophie verstanden werden. Ganz nach dem Credo : › Der Wald kennt keine Massentierhaltung‹ bekennt man sich zu einem achtsamen Umgang mit Natur und Wild. Er spricht von Verantwortung und Ehrlichkeit, genauso wie Fabian Grimm es tut. Das Manifest hat Hol­zinger 2016 gemeinsam mit kritischen Stimmen zur Jagd entworfen, wie er erzählt. Es gebe so viel Literatur zu Jagdethik, aber ihm sei es ein Anliegen gewesen, die Ideen kompakt auf eine Seite zu bringen.

Für viele Vegetarier und Veganer käme es nicht in Frage, aber : Sich sein eigenes Essen zu schießen, das steht für Jeganer wie Fabian Grimm nicht im Widerspruch zu einer ökologischen und moralischen Ernährungsform. Im Gegenteil : Er findet es sehr ehrlich. Landet ein Reh in der Plastikwanne des Kof­ferraums im braunen Dacia, wird bei Grimm daheim alles aus dem Körper des Tiers verarbeitet : Das Muskelfleisch natürlich, aus den Knochen kocht er Kraftbrühe, viele der In­nereien essen er und seine Lebensgefährtin selbst, andere kriegt der Hund. Fabian Grimm sieht es als Zeichen des Respekts, alles vom Tier zu verwerten. So zumindest beschreibt er es auf seinem Blog, in dem sich alles um Jagd und Wildverarbeitung dreht : Haut Goût – vom Lebewesen zum Lebensmittel heißt dieses Online-Journal programmatisch.

An der Ästhetik seines Internetauftritts zeigt sich, dass Fabian Grimm es mit der Jagd ein bisschen anders hält als viele seiner Zunftgenossen : Keine Bilder von Trophäen und stolzen Schützen neben toten Hirschkörpern, sondern rohe Fleischteile und stilvoll drapierte Gerichte mit Wild, dazwischen abgezogene, leblose Rehkörper. Ab und zu gibt es auch ungeschönte Bilder und Videos, die Insta­gram als sensible Inhalte gekennzeichnet hat. Sie zeigen, wie Grimm die toten Körper aufbricht und die Inner­eien aus dem Schnitt herausquellen.

Mit seiner Hündin Kira spricht Grimm liebevoll, eine Tonlage höher als mit Menschen, und nennt sie › eine süße Maus‹, wenn sie auf seinen Pfiff hin sofort aus dem Unterholz hervorprescht. Die Münsterländer-Hündin Kira und ihr Besitzer haben äußerlich eines gemeinsam : Den orangen Halsschmuck, bei Kira mit gelben Reflektoren als Halsband, bei Fabian Grimm als doppelt ­gefalteter Schal. Was für Menschen eine Signalfarbe ist, wird von Rehen gar nicht wahr­genommen. Das ist auch gut so. Denn wenn Kira und Grimm durch den Wald streifen, dann mit dem Ziel Hochsitz und ausschließlich zum Jagen. Nur dasitzen und beo­bachten gibt es bei ihnen nicht. Der Jäger sagt dazu, dass er nicht grundlos im Wohnzimmer der Rehe herumlaufen will. Schließlich sind Rehe Wildtiere und sollen ihre natürliche Scheu vor dem Menschen behalten.

Die Jagd steckt jenseits von Fabian Grimms Welt allerdings mehr denn je in einer Legitimationskrise. Während sich die meisten Menschen in ­Fragen zu Fleischkonsum aus Massentierhaltung zumindest darauf einigen können, dass sie im derzeitigen Ausmaß die Klimakrise befeuert, lässt sich beim Thema Jagd kein Grundkonsens finden. Jäger sind je nach Wertekatalog des Betrachters blutige Hobbykiller oder naturverbundene Beschützer des Waldes. Diese Kluft scheint tendenziell zu wachsen. So nimmt Erhebungen von Statista zufolge die Zahl derer, die sich aus Tierschutzgründen vegan, vegetarisch oder flexetarisch ernähren, stetig zu : Im Jahr 2020 gab es acht Prozent Vegetarier oder Veganer, so viele wie nie zuvor. Andererseits lässt sich auch in der Jagd seit einigen Jahren ein Trend beobachten : Immer mehr Menschen melden sich zum Jagdschein an. So wurden laut Statistik Austria in der Saison 2016 / 17 insgesamt 127.385 Jahresjagdkarten in Österreich ausgegeben – 2019 / 20 waren es bereits 131.464. Auch wenn coronabedingt viele Kurse und Jägerprüfungen nicht stattfinden konnten und erst sukzessive nachgeholt werden, reißt die Nachfrage nicht ab. Besonders auffallend bei den jüngsten Entwicklungen ist, dass derzeit vergleichsweise viele Frauen Jägerinnen werden wollen. In manchen Bundes­ländern machen sie bei den Ausbildungen bereits ein Viertel der Anmeldungen aus.

Einer, der sich an der Schnittstelle dieser einander widersprechenden Trends befindet, ist der österreichische Amtstierarzt und Tierethiker Rudolf Winkelmayer. Seit den 90er-Jahren beschäftigte er sich mit Wildbrethygiene und Jagdethik, war einst selbst Jäger und hat Schlachthöfe kontrolliert. Rudolf Winkelmayer hat ein Ernährungskonzept entwickelt und geprägt, das nicht so weit entfernt ist von dem, was Fabian Grimm in den Wäldern bei Bayreuth verfolgt : den Feretarismus, die pflanzliche Ernährung, deren einzige Ausnah­me Wildfleisch ist. Der Begriff ­leitet sich von ferus ab, der latei­nischen Bezeichnung für Wild. Dass das Wild in diesem Konzept nicht unbedingt selbst erlegt werden muss, ist der kleine Unterschied zu Fabian Grimms Ideologie. Denn in einigen Fällen, argumentiert Winkelmayer, lässt sich der Tod von Tieren nicht vermeiden, zumindest so lange nicht, wie die Landschaft auf die heutige Art und Weise kultiviert wird. Trotz seiner kritischen Sichtweise auf die Jagd akzeptiert er, dass es innerhalb dieser Kulturlandschaften Belastungsgrenzen gibt, dass Rehe, Rotwild und Wildschweine auf Äckern und in Wäldern zur Plage werden können.

Niemand müsse aber Hasen, Gänse, Auerhähne oder in den meisten Fällen auch Gämsen jagen, die durch Wintertourismus und Klimawandel ohnehin stark unter Druck stehen, sagt Winkelmayer. Viele Jäger halten die Populationen durch Winterfütterungen künstlich hoch, schießen kleine Beutegreifer, wie Krähen und Füchse, weil sie in ihnen Konkurrenten sehen, und auch Gatterhaltungen und Fasanerien sind sehr ­offensichtlich weit entfernt von tier­ethischen Überzeugungen. Zieht man diese Arten bei der Jagd ab, bleibt für Winkelmayer nur noch eine vertretbare Form übrig : die Ultima-Ratio-Jagd, wie er sie nennt. Abschuss im professionellen Rahmen, wobei genauestens geplant wird, welche Bestände wie weit zwingend reguliert gehören. Das sei die höchste ethische Qualitätsstufe von Wildfleisch.

Allerdings lebt Winkelmayer seinen › Feretarismus ‹ seit etwa 20 Jahren selbst nicht mehr. Wenn man intellektuell redlich sein wolle, sagt er, komme man bei heutigem Wissensstand über Evolutions-, Verhaltens- und Kognitionsbiologie sowie Tierethik bald an den Punkt, an dem die einzige vertretbare Lösung › so vegan wie möglich ‹ lautet. Es sei letztlich einfach Unrecht, Tiere zu töten, weil sie sehr nahe am menschlichen Empfinden dran sind und ihr Leid sich deshalb nicht für den Gaumengenuss des Menschen rechtfertigen lässt, so sein aktueller Standpunkt. Der Großteil der Jagd in unseren Breiten sei aus wildtierbiologischer Sicht heute sowieso nur ein Freizeitvergnügen.

Fabian Grimm sieht das anders. Dass Tiere sterben, ist für ihn in einer modernen Welt unvermeidlich. Weil einerseits landwirtschaftliche Anbauflächen eben von Wild freigehalten werden müssen – mit dem Gewehr. Gleichzeitig glaubt er, dass nicht jede Fläche, auf der Fut­termittel angebaut wird, einfach für pflanzliche Ernährung umgewidmet werden kann. Eine Milchmädchenrechnung nennt er das. Andererseits stelle eben jede Kulturlandschaft, ob Feld oder Weide, einen Eingriff in ein Habitat dar und verdränge Lebensraum und Arten. Gänzlich fleischlose Ernährung, so findet er, ist deshalb nicht zu Ende gedacht. Grimm will Fleisch essen, und zwar auf die eigenverantwortlichste Art und Weise, die innerhalb seiner Moralvorstellungen möglich ist : von Tieren, die in freier Wildbahn gelebt haben. Er will ihr Sterben nur mit sich selbst abklären müssen und sich selbst dazu entschließen.

Ist Jagdfleischkonsum aber bezüglich seiner Exklusivität vertretbar ? In Wien plädiert Klaus Hackländer, Professor für Jagdwirtschaft an der Universität für Bodenkultur und Vorstandsvorsitzender der deutschen Wildtierstiftung, für einen neuen, differenzierteren Umgang mit der Jagd. Er schlägt vor, bestands­orientiert vorzugehen. Eine respektvol­le Jagd setzt für ihn voraus, dass Auswüchse wie Fasanen- und Gatterjagden abgestellt werden. Eine andere Frage sei die Herkunft des Fleisches : Ein Drittel des Wildfleisches im österreichischen Handel etwa stammt nicht aus Österreich. Rotwild, also Hirsche etwa, werden in Neuseeland wie Rinder gehalten und exportiert. Das sei verrückt, sagt Hackländer, weil doch Österreich eigentlich die größte Dichte an Schalenwildarten, also Steinbock, Hirsch, Dam, Reh, Mufflon und Wildschwein in ganz Europa habe.

Klaus Hackländer sieht im kombinierten Wildfleischkonsum mit Bio-Landwirtschaft in Österreich gar eine Chance auf das Ende der Massentierhaltung. Besonders der Direktbezug, betont Hackländer, verstärke den Nachhaltigkeitsaspekt. Im Internet lässt sich heute schon leicht recherchieren, wo in der Nähe Wildbret direkt vom Jäger zu erwerben ist. Das sei auch für einkommensschwache Menschen erschwinglich, weil einige Zwischenschritte in Transport und Verarbeitung übersprungen werden und kein Wildbrethändler entlohnt werden muss. Hoffnung auf das Ende der Massentierhaltung schürt bei vielen auch das sogenannte Laborfleisch, im Englischen › Cultured Meat ‹ oder › Clean Meat ‹ genannt : Dafür werden Zellen von lebenden Tieren in Nährlösungen zu Fleischprodukten weitergezüchtet. In einem Jahrzehnt könnten sie den Massenmarkt bereits erreicht haben, mutmaßen Experten.

Fabian Grimm ist nicht der Meinung, dass seine Wildfleischernährung die Probleme mit der Fleischindustrie lösen wird. Er sagt das, während er den Dacia über die Forststraße Richtung Hochsitz navigiert. Für die nächsten zwei Stunden heißt es nämlich in der Abenddämmerung sitzen und warten, regungslos, zugedeckt mit einer orangefarbigen Decke und damit gut getarnt für das Wild. Ob das Schießen schmerzhaft ist, auch für den achtsamen Jäger ? Eine Überwindung sei es schon, sagt Grimm. Aber die Entscheidung dazu habe er längst getroffen, nämlich spätestens dann, wenn er am Vortag beschließt, auf die Jagd zu gehen.

Es vergehen zwei Stunden, und die Kälte kriecht über den Hochsitz in die Knochen, bis Fabian Grimm die Starre löst, über die Leiter auf den Boden klettert und damit klar ist, dass heute kein Reh seinetwegen sein Leben lassen wird. Am erfolgreichsten sei Jagen nach der Kälte, wenn es am nächsten Morgen sonnig ist, nach nächtlichen minus acht Grad. Vielversprechend sei das deshalb, weil sich die Tiere dann auf Südhängen aufwärmen und bewegen, sagt Grimm. Man müsse sich als Jäger in die Tiere ­hineinversetzen. •