›Glock means death‹

Mehr als zwei Jahre arbeitete Eva Hausberger an einer Doku über die berüchtigtste Pistole der Welt. Was macht das mit einem Menschen?

Text und Fotografie:
Eva Hausberger
DATUM Ausgabe Dezember 2017

›There is a demon living in this pistol‹, antwortet Eric knapp auf unsere Frage, was er über die Glock-­Pistole zu erzählen habe. Dann setzt er sich mit kräftigen Schwüngen in Bewegung. Eric sitzt im Rollstuhl. Seit ihn eine Kugel in den Rücken getroffen hat, ist er gelähmt. ›Zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen‹, sagt er und zuckt mit den Schultern, als wäre das in Chicago das Normalste der Welt.

Wir haben Eric begleitet, mit der Kamera. Im Jahr 2013 beschließt mein Freund Fritz einen Film über die Glock-­Pistole zu drehen. Er war während seiner Reisen durch Kriegs- und Krisengebiete immer wieder auf die österreichische Pistole gestoßen und wunderte sich, wie einseitig die Berichterstattung in seiner Heimat ist. Wir begannen gemeinsam zu recherchieren. Die österreichische Berichterstattung ist irritierend freundlich. Hauptsächlich liest man von Glock in der Boulevardpresse und das Bild, das von ihr gezeichnet wird, ist stets ­glamourös. Das Unternehmen lädt zu kostspieligen Reit­sportveran­staltungen ins malerische Kärnten, lässt dafür teure Stars einfliegen und vergibt überdimensionale Schecks an karitative Einrichtungen. Kritische Berichterstattung ist erstaunlich überschaubar. Interviewanfragen werden in der Regel abgelehnt, auch unsere. Journalisten, die die dunkle Seite des Unternehmens beleuchten, müssen fürchten, vom millionenschweren Konzern verklagt zu werden.

Glock geht es ausnehmend gut. Das Unternehmen wächst und die Nachfrage steigt jährlich. Glock begann Anfang der 1980er Jahre zu produzieren, mit 1000 Stück pro Monat, mittlerweile werden rund 30.000 Waffen pro Woche gefertigt und verlassen die Produktionsstätten. 2015 war das erfolgreichste Jahr der Firmengeschichte, der Umsatz stieg laut Firmenbericht um 55 % auf 501 Millionen Euro, der Gewinn wurde auf 128 Millionen verdoppelt. Der größte Abnehmer der Glock-Pistole ist nach wie vor die USA, den Staaten verdankt Glock seinen Erfolg.

Die österreichische Glock-Pistole, die kennt hier jedes Kind.

Und die amerikanische Organisation Gun Violence liefert Jahr für Jahr alarmierende Zahlen zur Waffengewalt in den USA. Im Jahr 2016 verloren in den Vereinigten Staaten 37.000 Menschen durch Schusswaffen ihr Leben, Suizide mit eingerechnet. Besonders hoch ist die Anzahl der Toten in Chicago: Im Jahr 2016 starben 762 Menschen, mehr als in den Metropolen New York und Los Angeles zusammen. Wir beschließen in Chicago zu drehen. In dieser Stadt erzählt die Glock eine andere Geschichte, als in Österreich.

Eric, der den Dämon in der Glock-Pistole vermutet, ist Ende 30 und führt uns durch Englewood. Es ist eines jener Viertel Chicagos, in das ein Großteil der weißen Mittelschicht noch nie einen Fuß gesetzt hat. Gekonnt manövriert er seinen Rollstuhl über die viel zu hohen Gehsteigkanten. Er zeigt auf einen Wachsfleck am Boden, übrig gebliebene Kerzenreste einer Gedenkstätte. Am Zaun daneben hängen schrumpelige Luftballons mit Worten des Trosts. Außer uns sind kaum Menschen auf der Straße. Ich bemühe mich, die schönen Seiten des Viertels zu erkennen, doch ich sehe Häuser in schlechtem Zustand, brache Flächen, verbarrikadierte Gebäude und die Trostlosigkeit, die aus ihnen spricht. ›Food-Desert‹ werden diese Gegenden Chicagos auch genannt, weil man hier so schwer an gesunde Nahrung kommt, wie in der Wüste. Hier gibt es Chips und Cola beim Laden am Eck, manchmal paniertes Hähnchen in Kübeln, vielleicht Pizza. Es sind immer dieselben Reizworte, die jene Viertel beschreiben: Schlechte Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit, ein inadäquates Schulsystem mit häufig überfordertem Lehrpersonal, hohe Kriminalität, illegaler Waffenhandel.

Die österreichische Glock-Pistole, die kennt hier jedes Kind. Die Marke ist zum Symbol einer Selbstermächtigung geworden. Einer Verteidigung vielleicht auch, um gegen die Ohnmacht der sozialen Ungleichheit anzukommen. Eric schüttelt nur ungläubig den Kopf, als wir ihm sagen, dass die Waffe in Österreich unter Zivilisten so gut wie unbekannt ist. ›Hört ihr denn keinen Hip-Hop?‹ Die 1990er Jahre, erzählt er uns, waren die Jahre seiner kriminellen Karriere. Als Drogendealer trug auch er eine Waffe. Aus seinen Kopfhörern dröhnte damals Hip-Hop, das Genre wurde gerade groß. Rapper begannen von der Glock zu singen. Notorious BIG, Tupac, der Wu-Tang Clan. Und im Laufe der Jahre wurde der Name Glock so häufig verwendet, dass er zu einem Synonym für Pistole wurde, und umgangssprachlich zum Synonym für das Töten: I’ll glock you. Ich töte dich. I’ll glock your face. Ich schieß dir dein Gesicht weg. ›Cooler Gangster-Slang eben‹, witzelt Eric. Wir lachen. ›Glock means death‹, unterbricht uns eine junge Passantin unvermittelt. Sie ist stehen geblieben, blickt direkt in die Kamera und verzieht keine Miene. Ihre Ernsthaftigkeit trifft, fast schäme ich mich.

In Chicago wird mir erstmals die Tragweite der Veränderung bewusst, die diese Waffe mit sich gebracht hatte. Sie hat den internationalen Waffenmarkt entscheidend geprägt. Die Glock-Pistole wurde Anfang der 1980er Jahre im österreichischen Deutsch-Wagram von Gaston Glock im Zuge einer Ausschreibung des österreichischen Bundesheeres entwickelt. Sie war leichter als andere Waffen, hielt mehr Kugeln, war einfacher zu bedienen und billig in der Herstellung. Nachdem die österreichischen Einsatzkräfte mit der Waffe ausgestattet worden waren, zielte die Verkaufsstrategie der Firma ab Mitte der 80er Jahre darauf ab, ihr Produkt bei den US-amerikanischen Sicherheitskräften zu etablieren – um danach den zivilen Markt zu erobern. Anfangs stand man der Glock-Pistole skeptisch gegenüber, auch beim Chicago Police Department.

›Wir hatten bis dahin den Revolver, der war altmodisch und hielt nur 6 Kugeln‹, erzählt uns ein Polizist. ›Die halbautomatische Glock mit ihren 17 Schuss war etwas ganz anderes. Sie wurde für den täglichen Gebrauch damals sogar teilweise als zu gefährlich eingestuft. Mittlerweile haben sie die meisten. Es will ja kein Polizist schlechter bewaffnet sein, als der Kriminelle, der ihm gegenübersteht.‹

Mittlerweile verwenden zwei Drittel der amerikanischen Sicherheitskräfte Glocks – und auch Kriminelle schwören auf diese Waffe. Wie viele Menschen durch Kugeln aus einer Glock ums Leben gekommen sind, lässt sich allerdings nicht exakt feststellen.

In einer Lokalzeitung finden wir einen kurzen Artikel zu ›Derek Shotgun Brown‹, einem ehemaligen Gang-­Mitglied, der in North Lawndale einen kleinen Boxverein für Kinder betreibt, unter dem Motto: ›Put down the guns, pick up the gloves!‹ North Lawndale, ein ebenfalls berüchtigtes Viertel, ist nicht weit von unserer Wohnung in Humboldt Park entfernt, also machen wir uns auf. Wir haben keine genauen Angaben und halten vor einer ­Kirche, um nach dem Weg zu fragen. Vor dem Eingang sitzen zwei ältere Männer im Abendlicht. Ob sie schon einmal von Derek und dem Boxverein gehört hätten? Die Frage scheint mir absurd, in Anbetracht der Großstadt, in der wir uns befinden. Doch einer der Männer erhebt sich tatsächlich, setzt sich in sein Auto und bittet uns, ihm hinterher zu fahren. Wir folgen diesem fremden Mann mehrere Minuten ehe er hält, aus dem Fenster auf eine Garage zeigt, winkt und davonfährt, ohne, dass wir uns richtig bedanken können.

Hier steht Derek mit einem Geistlichen vor einer Garage, umringt von Kindern in großen Boxhandschuhen. Er ist ein großer, muskulöser Mann und jedes Kind folgt konzentriert seinen Anweisungen. ›Jab, jab, one, two, one, two, jab, jab.‹ Sie ahmen seine Bewegungen nach, die Bewegungen eines Boxers. Derek hat es sich mit Reverend Robin Hood, dem ortsansässigen Pfarrer, zur Aufgabe gemacht, Kindern und Jugendlichen eine Alternative zum Leben auf der Straße zu bieten. Das Boxtraining schafft einen Ausgleich für angestaute Aggressionen und die Zeit, die sie vor Dereks Garage verbringen, gibt Struktur und Halt. Sie lehren den Kindern, dass Selbstvertrauen und Kraft mit Schusswaffen nichts zu tun haben. Förderungen seitens NGOs und der Stadt seien schon lange eingestellt worden, so Derek, aber sie machen dennoch weiter, wollen davon nicht abhängig sein.

Derek weiß wie schwer es ist, der Waffe zu widerstehen.

Das Projekt ist ihm zu wichtig, denn Derek weiß wie schwer es ist, der Waffe zu widerstehen. Er liebte seine Glock. In jungen Jahren war er ein hochrangiges Gangmitglied der Vice Lords, einer Gang, die es bereits seit den 1950er Jahren in Chicago gibt und der schon sein Vater angehört hatte. Als Derek vier Jahre alt war, musste sein Vater Chicago fluchtartig verlassen, weil er jemanden erschossen hatte. Derek hat ihn nie wiedergesehen, aber wollte Zeit seines Lebens werden wie er. Und das wurde er: Ein schwer krimineller Drogendealer. Immer noch glänzen Dereks Augen, wenn er von der Glock-Pistole erzählt. ›Sie war der Diamant unter den Waffen! Meine hatte ein erweitertes Griffstück, ich konnte mehr als 30 Kugeln hintereinander abfeuern. Mit dieser Waffe zu schießen war eine Sucht für mich, ich habe auf unzählige Menschen gefeuert.‹ Reverend Robin Hood kennt Derek noch aus diesen Tagen und schüttelt den Kopf, wenn er von Dereks Geschichte hört: ›Er war verrückt, völlig verrückt! Es grenzt an ein Wunder, dass er noch am Leben ist.‹ Letztendlich aber, so der Reverend, liege es in der Eigenverantwortung jedes einzelnen, ob er zur Waffe greift oder nicht. Und das gilt es den Kindern beizubringen, dass sie es am Ende in der Hand haben. ›Es gibt zwei Wölfe, die in unseren Herzen kämpfen‹, so erzählt er den Kindern, ›den Guten und den Bösen. Der eine ist Liebe, Vertrauen, Mitgefühl und Dankbarkeit. Der andere Neid, Gier, Egoismus und Überheblichkeit.‹ Welcher setzt sich durch? ›It’s all about the one we feed!‹

Und die Versuchung, ›bösen Wölfen‹ zu verfallen ist groß. Kriminelle Banden fungieren oft als Ersatzfamilie für junge Menschen. Die ersten Gangs, darunter auch die Vice Lords, entstanden in North Lawndale in den 1950er Jahren an Schulen. Schwarze Schüler formierten sich, um sich gegen die Diskriminierung durch ihre weißen Schulkollegen zu verteidigen. Es war jene Zeit, als immer mehr Schwarze aus den Südstaaten nach Chicago kamen, auf der Suche nach Arbeit. Um die Durchmischung der schwarzen und weißen Bevölkerung zu verhindern, wurden ganze Stadtteile, darunter North Lawndale, das bis dahin ein großteils jüdisches Viertel war, systematisch zu ausschließlich schwarzen Enklaven gemacht. Korrupte Immobilienmakler, so genannte ›Blockbuster‹, schürten die Angst unter der jüdischen Bevölkerung vor der ›schwarzen Bedrohung‹ und drängten sie so, ihre Häuser unter Wert zu verkaufen und an den Stadtrand zu ziehen. Die billig erworbenen Häuser verkauften die Blockbuster zu völlig überteuerten Preisen an Schwarze weiter, die sich aufgrund der Wohnungsnot gezwungen sahen, die überhöhten Summen aufzubringen. Mit voranschreitender Segregation, der Vernachlässigung von Infrastruktur, Bildungseinrichtungen und dem immer härteren Vorgehen der Polizei gegen die schwarze Bevölkerung, stieg die Gewalt.

Als Derek 19 Jahre alt ist, wird sein bester Freund Walter erschossen. Danach verliert er den Boden unter den Füßen. Sein einziger Gedanke ist Rache, Rache für Walter an all den Feinden, die sie hatten – und sie hatten viele. ›Ich wußte nicht wohin mit der Wut, mit dem Schmerz. Ich war verzweifelt, weinte nächtelang und wollte mich eigentlich schon auf den Weg machen, meine Waffen waren schon geladen‹, sagt er. Doch dann, meint Derek, hätte er eine Vision gehabt, eine Eingebung. Etwas berührte seine Schultern, hielt ihn zurück und eine Stimme wies ihn an, die Waffen niederzulegen.

Ich ertappe mich dabei, wie ich an Dereks Geschichte zweifle, der Geschichte vom geläuterten Gangster. Bin ich nach all der Beschäftigung mit der kranken Seite der Welt schon so voller Misstrauen, dass ich die positiven Geschichten, wenn sie uns begegnen, gar nicht mehr glauben kann? Mit jeder Begegnung, jedem Erlebnis, verdichten sich meine negativen Gedanken und Gefühle. Ich frage mich, was die permanente Auseinandersetzung mit Gewalt mit unserer Seele macht. Ich schlafe schlecht und träume regelmäßig von Massakern und Amok­läufen.

Dabei schlafen wir wenig, unsere Nächte verbringen  wir im Auto von Ken Herzlich, einem alteingesessenen Crime-Scene Reporter aus Down Town Chicago. Ken fährt einen alten, gut gefederten Polizeiwagen mit vielen Antennen. Die Geräuschkulisse im Auto ist unerträglich und Ken immer konzentriert, damit ihm keiner der nervtötenden Funksprüche entgeht, die zwischen Rauschen und Fiepsen unverständlich ins Auto dringen. Die Arbeit eines Crime-Scene Reporters besteht im Grunde genommen aus Warten – fokussiertem Warten auf das nächste Unglück. Wenn wir die Nachricht von einer Schießerei erhalten, setzen wir uns in Bewegung. Ken fährt mit hohem Tempo und ohne GPS zielsicher durch alle Stadtteile. Am Tatort angekommen, geht alles schnell, Ken gibt das Tempo vor: Kamera auspacken, Stativ aufstellen, draufhalten, Perspektiven verändern, wenn es hochkommt noch ein Interview, meist nicht, dann sofort wieder einpacken, rein ins Auto und weg. Schon während wir den Ort verlassen wird das Material von Ken auf einen externen Server hochgeladen und wenig später in den News-Kanälen gesendet. Austauschbare Bilder, Nacht für Nacht dieselben. Und doch nicht, rufe ich mir ins Bewusstsein, hier sterben Menschen, keine Zahlen.

Auch den 4. Juli 2015 verbringen wir mit Ken im Auto. Der amerikanische Unabhängigkeitstag zählt Jahr für Jahr zu den blutigsten Ereignissen in Chicago. Wir positionieren uns strategisch gut im Süden der Stadt, wo Ken für diese Nacht die meisten Schießereien vermutet. Wir warten am Parkplatz vor einem Lokal, einige Männer sitzen darin und spielen Schach. Wir beobachten sie vom Auto aus. Ich fühle mich unwohl. Es ist das unvorstellbare Wissen darum, dass in dieser Nacht jemand sterben wird. Und dann machen wir diese Szene zu einer Episode unseres Films. Ich fühle mich als Partizipierende, wir sind ein Teil dieses Spiels. Wir sind Aasgeier. Und sind es nicht genau diese Bilder, die  Angst unter der weißen Bevölkerung schüren und sie bestärken im Glauben an den kriminellen Schwarzen, gegen den man sich am besten mit einer Glock-Pistole schützt?

›Shots fired, person down, Humboldt Park‹, eine weibliche Stimme kristallisiert sich aus dem Rauschen des Polizeifunks und unterbricht meine Gedanken. Ken horcht auf, aber wir befinden uns zu tief im Süden der Stadt, Humboldt Park ist zu weit weg. Ken schickt einen Kollegen. Schnell spricht sich herum, dass es sich um ein Kind handelt, wenig später erfahren wir, dass es seinen Verletzungen erlegen ist. Der siebenjährige Amari Brown ist tot, getroffen von einer Kugel, gefeuert aus einem vorbeifahrenden Auto, während er mit seinem Vater auf der Straße stand, um das Feuerwerk zu sehen. ›Ein totes Kind, das ist sehr traurig‹, sagt Ken kopfschüttelnd, ›das wird morgen auf jeden Fall die Top-Story. Da müsst ihr dranbleiben.‹

Der Tod des Kindes erschüttert Chicago. Reverend Robin Hood versucht uns Zugang zum Begräbnis von Amari zu verschaffen. Er möchte, dass wir dort drehen, denn am Bild eines toten Kindes würde die Tragweite des Problems deutlich, das grundlegende Missverständnis. Waffen, sagt er, geraten in falsche Hände, Waffen töten Menschen. Er organisiert für uns ein Interview mit Rose, einer Frau aus seiner Gemeinde mit ähnlichem Schicksal. Auch Rose hat ihren Sohn durch Waffengewalt verloren. Ihre Tochter Mary wohnt noch bei ihr. Sie ist leicht be­einträchtigt, seit ein Unbekannter ihr in den Kopf geschossen hat. Die Kugel konnte nie entfernt werden, sie steckt immer noch in Marys Kopf. Rose ist eine intelligente Frau und muss unfassbar stark sein, bei allem, was sie erlebt hat. ›But you know‹, sagt Rose dann, ›guns don’t kill people, people kill people.‹ Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Hier ist er also, der berühmte Satz der National Rifle Association (NRA), der amerikanischen Waffenlobby, die immer wieder versucht den Gegenstand und die Waffenproduzenten aus der Verantwortung zu nehmen. Wir haben ihn während unserer Dreharbeiten so oft gehört, aber aus dem Mund einer Frau, die ihr Kind verloren hat, klingt das anders, befremdlich.

Die Kugel konnte nie entfernt werden, sie steckt noch immer in Mars Kopf.

Noch am selben Tag findet vor dem Haus von Amari Brown eine Mahnwache statt. Zum Teil für die Presse, zum Teil für die Gemeinde. Die Mutter sitzt in völliger Apathie vor dem Haus, viele Menschen sind gekommen, sie weinen und zünden Kerzen an, Gospels werden gesungen. Vor den Kameras trauern ausschließlich Frauen, kein Mann ist dabei, nur der Priester. Hinter den Kameras trauern auch die Männer, darunter Amaris Vater mit seinen Freunden. Sie rauchen und trinken. Ich zweifle keine Sekunde an ihrer Trauer, doch mir drängt sich sofort der unangenehme Gedanke der Rache auf. Ich muss an Derek denken. Wohin mit all der Wut, für die man nie gelernt hat ein Ventil zu finden?

Die Universität Yale veröffentlichte Anfang 2017 eine Studie, in der sie die Ausbreitung von Waffengewalt mit der Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit verglich. Die von 2006 bis 2014 in Chicago gesammelten Daten ergeben, dass es sich mit Waffengewalt tatsächlich wie mit einem über das Blut übertragbaren Erreger verhält. Wer sich einmal infiziert hat, sprich angeschossen wurde oder jemanden angeschossen hat, gibt das Virus mit großer Wahrscheinlichkeit binnen 125 Tagen an eine ihm nahestehende Person weiter. Die Waffe selbst ist nicht die Krankheit, aber sie nährt das Virus der Gewalt. Es ist ein Geschäft mit der Schwäche des Menschen.

Die Verabschiedung von Amari findet in einer großen Kirche statt, hunderte Menschen sind gekommen und zahlreiche Fernsehteams. Die Familie Amaris reagiert gereizt auf den Medienansturm, alle Kamerateams müssen den Saal verlassen, nur wir dürfen bleiben. Reverend Robin Hood nickt uns unauffällig zu. Amari trägt einen weißen Anzug, sein kleiner Körper ist aufgebahrt in einem weißen Sarg, verziert mit Ninja Turtles. Wir filmen ihn nicht, es ist genug.

Nach der Verabschiedung fahren wir mit Reverend ­Robin Hood in seinem klapprigen aber kugelsicheren Mercedes zurück zu Derek. Wir schweigen lange, Häuserfronten ziehen an uns vorbei, Minuten vergehen. Dann gibt Reverend Robin Hood einen tiefen Seufzer von sich und drückt auf die Play-Taste des Radios. Al Green – Let’s stay together. Die Sonne scheint ins Auto. Erst singen wir nur verhalten mit, dann immer lauter: Let’s stay togehter, lovin’ you whether times are good or bad, happy or sad.

Vor der Garage steht Derek mit den Kindern, sie boxen und wir bringen Pizza. Wir öffnen die Pizzaschachteln, Robin Hood drängt die hungrigen Kinder lachend zur Seite und nimmt sich das größte Stück. ›Die Wölfe‹, grinst er. ›Remember? It’s all about the one you feed!‹