›Nationalstaaten sind gottgegeben? Nein!‹

Brexit, Populismus, Intransparenz. Die Europäische Union steckt in der Patsche. Ist das ihre große Chance? Ein DATUM-Stammtisch in Brüssel.

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Dokumentation:
Johannes Pucher
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Fotografie:
Stefan Fürtbauer
DATUM Ausgabe Dezember 2017

Es sind trübe Tage in Brüssel Anfang November, die das Datum-Team für sein Tischgespräch ausgesucht hat. Nieselregen und Nebel machen den Spaziergang zum Wien-Haus, in dem wir gastieren dürfen, ungemütlich. Die Vertretung der Bundeshauptstadt in Brüssel ist gut geheizt. An der verkehrsstarken Avenue de Tervueren hat sie sich in einem der hohen, schmalen Häuser im bürgerlichen Stadtteil Etterbeek einquartiert, gar nicht weit vom EU-Viertel entfernt. Ein hübscher, teils holzgetäfelter, teils verspiegelter Raum im Erdgeschoß ist Schauplatz unseres Gesprächs. Darin wollen wir die EU von einer Seite kennenlernen, die üblicherweise völlig im Dunkeln liegt: Was läuft in Brüssel hinter den Kulissen? Wie wird verhandelt und lobbyiert? Zwölf Gäste werden uns Einblick geben. Bevor sie eintreffen, weist der Fotograf uns an, Tische zu verrücken, Sessel zu schleppen, wie es ihm gefällt. Bis es ihm gefällt. Nach einem letzten, erfolgreichen Notfallbesuch bei einem belgischen Zahnarzt und gestärkt von asiatischen Nudelsuppen mit extra Koriander im Imbiss ums Eck, starten wir in den Nachmittag. Knappe sechs Stunden Gespräche, Hitziges und Amüsantes, ein Kommen und Gehen der zwölf Gäste, leisere und lautere, liegen vor uns. Die Aufnahmegeräte leuchten schon rot.

Was mit dem Brexit auf uns zukommt

13:46 Bryn Watkins, ein fideler junger Mann vom ökonomischen Think-Tank ›Bruegel‹, betritt das Wien-­Haus in Brüssel und geht mit großen Schritten auf den Diskussionstisch zu. ›Wie läuft das ab?‹, fragt der Brite auf Deutsch mit kantigem Akzent. Als zuerst Porträtfotos gemacht werden sollen, lacht er. ›Ich hasse es, fotografiert zu werden.‹ Mit einem ›Geschafft!‹ nimmt er Minuten später am Tisch Platz.

Herr Watkins, Sie leben als Brite in Brüssel. Wie haben Sie den 23. Juni 2016 erlebt, jenen Tag, als sich die Briten für den Brexit entschieden?

Watkins: Es war eine der schrecklichsten Nächte meines Lebens. Den Abend, es war ein Donnerstag, habe ich wie viele andere junge EU-Mitarbeiter hier in Brüssel am Luxemburger Platz verbracht, gleich neben dem Europäischen Parlament. Wir haben getrunken und gewartet. Die ersten Umfragen sagten, dass wir vielleicht doch bleiben würden. Dann hat Nigel Farage (damals Anführer der EU-feindlichen Ukip-Partei, Anm.) seine kleine Rede gehalten: ›Es sieht so aus, als hätten wir verloren. Das Vereinigte Königreich bleibt.‹ Erleichtert und ein wenig betrunken bin ich nach Hause gegangen. Die ganze Nacht habe ich Radio gehört. Gegen fünf Uhr morgens, ich war dann nicht mehr betrunken, sondern sehr, sehr nüchtern, kam die Nachricht.

Was bedeutet der Brexit für Sie?

Watkins: Für mich und meine europäischen Freunde aus Großbritannien hier ist das ganz einfach: Wir gehen nicht nach Hause. Wir bleiben hier. Ich versuche gerade einen belgischen Pass zu bekommen. Das versuchen viele von uns.

13:58 ›Jetzt konnte ich doch schon früher‹, sagt Susanne Höhn, als sie durch die Tür hereinkommt, ›denn um 15 Uhr muss ich wieder weg, dann fliege ich nach Paris.‹ Die Leiterin des Goethe-Instituts in Brüssel wirkt erleichtert, als sie den Kaffee erblickt: ›Bei dem schlechten Wetter brauche ich jetzt einen‹, sagt sie.

Watkins: Hallo, ich bin hier als Brite. Also ein vom Brexit betroffener Brite.

Höhn: Dann sagen Sie besser: Ich bin als Europäer hier.

Frau Höhn, Sie leiten das Goethe-Institut in Brüssel. Was verändert sich für Sie mit dem Brexit? 

Höhn: Wir überlegen etwa ein Projekt, in dem wir zeigen, wie es wäre, wenn die Werte Europas plötzlich nicht mehr da wären. Wenn es kein Erasmus (EU-Förderprogramm für Uni-Auslandssemester, Anm.) mehr gäbe. Wenn auf dem Fußballplatz nur noch zwei Ausländer pro Verein spielen dürften. Wenn ich beim Reisen Geld umtauschen müsste, den Pass herzeigen, an der Grenze warten.

›Wir hatten in Großbritannien jahrzehntelang nur euroskeptische Nachrichten. Das kann man in kurzer Zeit nicht umdrehen.‹

Sind die Vorteile eines vereinigten Europas auf der Insel denn je angekommen?

Watkins: In Großbritannien hatten wir dreißig, vierzig Jahre lang nur euroskeptische Nachrichten – von Politikern, von Medien. Das kann man in kurzer Zeit nicht völlig umdrehen.

14:10 Ein Mann im beigen Wintermantel mit Leder­tasche steht vor dem Eingang, schaut sich um und drückt nach einer Weile doch auf die Klingel. Es ist Gregor Schusterschitz, Karrierediplomat und Brexit-­Verhandler. Schusterschitz hatte sich zunächst im Haus geirrt: ›Das alte Wien-Haus war doch woanders, oder? Ich glaube, ich war lange nicht mehr hier.‹ Seit sechs Uhr morgens ist Schusterschitz auf den Beinen. Von Luxemburg ist er in der Früh nach Brüssel gependelt, ›um 16 Uhr geht’s wieder zurück‹, sagt er und schenkt sich Kaffee ein.

Herr Schusterschitz, erzählen Sie doch, was uns alle interessiert: Wie laufen die Brexitverhandlungen?

Schusterschitz: Wenn ich Zeitungsartikel lese über den Fortgang der Brexitverhandlungen, frage ich mich, ob ich selber dabei war oder die irgendwas anderes erlebt haben. Wissen Sie, die Verhandlungen mit Großbritannien laufen eigentlich ab wie Verhandlungen mit Drittstaaten – als würden wir mit Korea verhandeln, mit Nepal, Bhutan oder mit Argentinien. In diesem Sinn ist Großbritannien bereits ein Drittstaat.

Wie spielen sich solche Verhandlungen konkret ab?

Schusterschitz: Zunächst gibt es ein Treffen der 27 (alle EU-Mitgliedstaaten exklusive Großbritannien, Anm.), und die 27 einigen sich auf detaillierte Verhandlungspositionen. Das geht dann zur Kommission, die sich mit den Briten trifft. Es ist ein ganz wichtiges Element des Verhandlungsprozesses, dass die 27 durch die Kommission mediatisiert sind. Wie das in der EU bei allen Verhandlungen ist. Wir haben etwa nie mit Kanada über CETA (europäisch-kanadisches Freihandelsabkommen, Anm.) verhandelt, das war immer die Kommission. Nur so bleibt die einheitliche Position der EU gewahrt.

Das heißt, Michel Barnier, Beauftragter der EU-­Kommission für die Austrittsverhandlungen mit dem ­Vereinigten Königreich, spricht dann mit einer EU-Stimme mit Großbritannien?

Schusterschitz: Genau, er spricht mit David Davis (britischer Minister des neugegründeten Ministeriums für den Austritt aus der EU, Anm.). Wir 27 sind nicht dabei, wir wollen auch gar nicht dabei sein. Barnier kann allerdings nur das sagen, was wir ihm vorher sagen. Da gibt’s halt verschiedene Varianten, manchmal schlägt die Kommission vor, wir sollten diese oder jene Position einnehmen. Oder die Kommission fragt uns: Was wollt ihr dabeihaben? Oder: Die Briten haben das und das vorgeschlagen, was haltet ihr davon? Und dann diskutieren wir 27 das. Die beteiligten Personen in der Kommission sind natürlich durchwegs schlaue Füchse. Die wissen ungefähr, wie weit sie gehen können. Die Kunst des Verhandelns ist ja, dass Barnier die Grenze, die wir ihm geben, leicht ausdehnt, aber das Band auch nicht zerreißt. Wir motzen vielleicht ein bisschen, aber letztlich akzeptieren wir es. Das ist eigentlich bis jetzt schon ganz erfolgreich.

›Beim Plastiksackerlverbot stand ›Tüte‹ in der Unterlage. Tüte? Was soll das sein, das gibt’s in Österreich nicht.‹

Dieses ›schon ganz erfolgreich‹ bekommt man als ­Außenstehende nicht mit. Das mediale Bild ist:
Es geht nichts weiter.

Schusterschitz: Klar, es gibt natürlich Bereiche, wo es kracht. Nur sind das Bereiche, in denen wir den Krach eh erwartet haben.

Zum Beispiel?

Schusterschitz: Dass die Briten zur ersten Verhandlungssitzung mit der Kreditkarte kommen und sagen: ›Zack, zahlen wir‹ – das hat niemand erwartet. Und dass es immer, wenn es um Geld geht, eine Last-Minute-Dramatik gibt, ist auch logisch. So sind Verhandlungen. Dieser Brexit hat eine unheimliche Tiefe an technischen Details. Da geht es in Fitzifutzi-Sachen hinein. Das ist schwierig. Wenn ich etwa jetzt eine Kaffeemaschine bestelle: Habe ich da noch zwei Jahre Gewährleistung, wenn sie aus Großbritannien geliefert wird?

Höhn: Da werden sich die Anwälte in den nächsten Jahren freuen.

Schusterschitz: Es gibt nun einmal viele Dinge, die die Briten erst sehr spät realisiert haben. Nehmen Sie die Sicherheit von nuklearem Material. Die Briten haben Atomkraftwerke, sie haben Atomwaffen, sie haben Forschungsreaktoren. Und das gesamte Sicherheitssystem wird von Euratom (Europäische Atomgemeinschaft, Anm.) gesteuert. Das heißt, die Briten haben keinen einzigen Nuklearsicherheitsmann. Sie müssen jetzt innerhalb von eineinhalb Jahren eine völlig neue Verwaltung aufbauen, haben aber keine Leute dazu, weil die britischen Nuklear­physiker, die es gibt, bei Euratom arbeiten und dort wunderbare EU-Gehälter beziehen. Jetzt sind die Briten schon zur Atomenergiebehörde nach Wien gegangen und haben gefragt, wie man das machen kann. Und dort haben sie ihnen gesagt: Naja, das müsst ihr halt irgendwie machen.

Höhn: Wären es nicht genau diese kleinen Geschichten, die man der Bevölkerung kommunizieren müsste?

Schusterschitz: Ich weiß nicht, ob das tatsächlich die gewünschte Auswirkung hätte. Der Brexit war ja überhaupt nicht wirtschaftlich geprägt. Da ging es um dieses ›We take back control‹. Das ist ein Souveränitätsdenken, das per se nicht falsifiziert werden kann. Wenn ich wieder volle Souveränität habe und dann schlimme Sachen passieren, dann werden die immer sagen: Das ist jetzt nicht passiert, weil wir jetzt wieder souverän sind, sondern wegen der Missernte, wegen des Klimawandels oder weil die EU, weil die Russen, weil die Amis so böse sind.

Wie kommt man gegen dieses Souveränitätsdenken an?

Schusterschitz: Man muss diese Souveränitätsillusion dekonstruieren. Das ist das Hauptproblem, das ich jetzt sehe: dass Leute glauben, wir haben jetzt Nationalstaaten und die gab es schon immer und das ist irgendwie gottgegeben. Nein! Vor 300 Jahren gab es keine ­Nationalstaaten. Und in hundert Jahren gibt es wahr­scheinlich auch keine. Das sind Entwicklungen. Souveränitätsdenken ist da verfehlt. Zudem hat ein britischer Bürger nicht mehr Einfluss auf Westminster als auf Brüssel. Auch das: eine Illusion.

Um dennoch auf nationalstaatlicher Ebene zu bleiben: Was sind denn österreichische Interessen in den Brexitverhandlungen? 

Schusterschitz: Wir haben wirtschaftlich nicht so enge Beziehungen mit Großbritannien. Österreich ist viel stärker nach Zentraleuropa orientiert. Das heißt, unsere Anliegen sind eher genereller Natur, vor allem unsere Position als Nettozahler. Unser Beitrag soll nicht größer werden, nur weil die Briten die EU verlassen. Und dann haben wir auch 25.000 Österreicher in Großbritannien, ihr Status ist uns wichtig. Was wir nicht wollen, ist, dass nach dem Brexit in Großbritannien Sozial- und Umweltdumping einreißen, um dort wettbewerbsfähiger zu werden. Aber das können die Briten selbst auch nicht wollen, dass alles Mögliche über ihre Flüsse abgeleitet wird und es keine Arbeitnehmerschutzvorschriften mehr gibt.

Watkins: Für mich ist das alles sehr schwer hinzunehmen. Als gut ausgebildeter Brite mit EU-Pass hatte ich bisher so viele Privilegien, durfte überall in Europa wohnen und arbeiten. Und plötzlich werde ich verhandelt. Das ist so ein endloser leichter Stress. Ich habe komische Träume, dass ich wegziehen muss – und muss einfach warten, bis die Politiker entscheiden, was mit mir passiert.

Ist absehbar, wie lange die Verhandlungen noch dauern? Angepeilt ist ja Herbst 2018.

Schusterschitz: Das ist die einzige Alternative. Wir werden zwei Abkommen haben: ein Austrittsabkommen und ein Abkommen über das zukünftige Verhältnis. Das Austrittsabkommen muss im Herbst 2018 fertig verhandelt sein. Es braucht dann noch die Zustimmung des Europäischen Parlaments und die Zustimmung des britischen Parlaments. Erst dann kann es in Kraft treten. Das Abkommen über das zukünftige Verhältnis wird viel, viel komplizierter werden – eine Art ›CETA plus‹. Wir Verhandler sagen uns dabei intern immer wieder, wir müssen einen coolen Kopf bewahren. Und bei manchen Ausführungen der Briten bedenken, dass sie weniger mit uns als mit ihrer Yellow Press, also mit ihren Boulevardmedien, verhandeln.

Wird Österreich, das zu diesem Zeitpunkt die EU-Rats­präsidentschaft innehaben wird, das Finalisieren der ­Verhandlungen beeinflussen können?

Schusterschitz: Österreich wird in dieser Rolle einen wichtigen Anteil an der Finalisierung der Verhandlungen haben. Es wird der Rat unter unserem Vorsitz das Abkommen absegnen müssen. Da werden auch unsere vollen diplomatischen Künste gefragt sein.

Frau Höhn, glauben Sie, mit dem Brexit ändert sich auch die Stellung der deutschen Sprache innerhalb der EU-Institutionen?

Höhn: Ich bin ja Pragmatikerin und würde sagen: nein. Natürlich stehen wir für Multilinguismus, das ist ja ein ganz großer Reichtum in Europa. Nach dem Brexit fragten mich meine französischen Kollegen, wollen wir nicht eine Werbeinitiative starten für Deutsch und Französisch. Wir haben das nicht gemacht, denn es gibt im Moment andere Probleme.

Watkins: Bevor ich nach Brüssel kam, habe ich in England als Deutschlehrer gearbeitet. Und meine Schule war daran, so wie viele, die Deutschabteilung zu schließen. Die deutsche Sprache wird in Großbritannien abgeschafft. Das hält noch fünf Jahre vielleicht.

Was wird als erste lebende Fremdsprache gelehrt in Großbritannien?

Watkins: Spanisch. Es ist einfacher und hat ein besseres Branding: herrliches Wetter und kein Holocaust. Weder die Deutschen noch die Österreicher haben dafür gekämpft, dass Deutsch in den Bildungssystemen Europas wieder eine Rolle spielt.

Höhn: Wir kämpfen im Moment sehr in Frankreich.

Watkins: In Großbritannien ist der Kampf verloren.

Höhn: War der jemals zu gewinnen? (lacht) Manchmal holt einen aber auch die Realität ein. Denn junge Menschen in Südeuropa, die von einer großen Jugendarbeitslosigkeit betroffen sind, merken natürlich, dass man mit bestimmten Sprachen eher einen Job findet, als mit anderen. Da werden wir plötzlich super sexy mit unserem Deutsch.

Herr Schusterschitz, welche Rolle spielen Sprachen in Verhandlungssituationen? 

Schusterschitz: Verhandeln ist nur sinnvoll in einer Sprache, die alle gut können. Insofern ist ein Verhandlungsprozess in einer Fremdsprache immer von Pragmatik getragen. Es ist wichtig, dass da nicht ideologisch übersteuert wird, also nicht das Gefühl hochkommt, es entsteht ein Nachteil daraus, dass man diese oder jene Sprache spricht oder nicht spricht. Eine weitere Sache: Dolmetscher in Brüssel sind größtenteils Deutsche. Die haben halt oft keine Ahnung, was etwa die Begriffe der österreichischen Rechtssprache sind. Beim Plastiksackerl-­Verbot stand ›Tüte‹ in der Unterlage. Tüte? Was soll das sein? Kenn ich nicht, gibt’s in Österreich nicht.

Höhn: Man versteht doch, was ein Sackerl ist.

Schusterschitz: Ich habe damals der Kommission gesagt, wenn da am Beschlusstag ›Tüte‹ in der Unterlage steht, werde ich dagegen stimmen. Und so kam die ›Kunststofftragetasche‹ in die Richtlinie – ein Ausdruck, der weder in Deutschland noch in Österreich verwendet wird. In der Umsetzung können die Deutschen dann ›Tüte‹ schreiben und wir ›Sackerl‹.

Wie ist es mit Sprachen in der Diplomatie?

Schusterschitz: Wenn ich in einem Land bin, in dem ich die Sprache spreche, bin ich natürlich ein ganz anderer. Weil jeder, der nicht in seiner Muttersprache spricht, diese Schere im Kopf hat. Etwas ist zu kompliziert zu erzählen, deshalb erzählt er es nicht. Dabei ist es gerade als Diplomat wichtig, diese Nuancen mitzubekommen.

Höhn: Sprache transportiert ja viel Interkulturelles. Was ich hier in Brüssel spannend und ein bisschen abschreckend finde, ist, wie wenig sich Sprachen, Kulturen, Lebenswelten vermischen. Im Sommer fahre ich aus dem EU-Viertel, eigentlich eine ›Bubble‹, mit dem Fahrrad nach Hause. Ich quere da das kongolesische Viertel Matongé und tauche ein in eine andere Welt. Auf der einen Straßenseite sind Damen und Herren in Kostüm und Anzug und gegenüber fragt mich der Dealer: ›Na, willst du nicht heute Abend doch mal was kaufen? Du schaust so müde aus.‹

Schusterschitz: Es ist in gewisser Weise okay, dass Leute in ihrer Bubble leben, dort können sie unter ihresgleichen über ähnliche Probleme reden. In Wien zum Beispiel gibt es noch diese alte österreichische Hocharistokratie. Die bleibt untereinander. Und dann lernt man sie kennen und versteht auch warum: Die haben einfach andere Lebensprobleme, zerfallene Schlösser, gehen jeden Sonntag jagen. Denen sagen wir: ›Na, reg dich nicht auf, du hast doch eh ein Schloss.‹ Wenn du das dem Kongolesen von Matongé erzählst, sagt der: ›Bist du ang’rennt?‹ Bei uns Diplomaten hört man: ›Ihr trinkt eh nur Champagner und habt eure CD-Kennzeichen und parkt falsch wie ihr wollt.‹ Dass es überhaupt nicht lustig ist, alle paar Jahre umzuziehen – die Kinder heulen, verlieren ihre Freunde, der Partner kann nicht arbeiten, was hat der Partner später für eine Pension? Das sind Probleme, die wir haben und ein anderer hat null Verständnis dafür. Da unterhalte ich mich gerne mit anderen Diplomaten, die meine Probleme kennen. Also privat finde ich das nicht schlimm, wenn man in so einer Bubble drinnen ist.

Aber beruflich, wenn man auch ein Land repräsentiert?

Schusterschitz: Es ist enorm wichtig, dass man mit Leuten in Kontakt ist, die einem sagen können, wie die Situation in der Realität ausschaut. Wir haben mit der Kommission gestritten wegen des LKW-Fahrverbots in Tirol. Dann haben wir sie einmal eingeladen auf die Nockspitze bei Innsbruck: Da siehst du die braune Suppe, vom Inntal bis zum Brenner. Das ist kein Warenverkehrs­problem, das ist real, da wohnen Menschen. Deshalb ist es wichtig für die Handelnden in der EU-Bubble, dass sie auch in die Realität hinausgehen.

Ein schwarz-blaues Österreich von außen betrachtet

Österreich steht kurz vor einem Regierungswechsel. Wie gehen Sie damit um, wenn die Briefings aus Wien sich plötzlich ändern? 

Schusterschitz: Ich erhalte meine Weisungen, und die muss ich umsetzen.

Egal, von wem sie kommen oder was darin steht? 

Schusterschitz: In Bezug auf den Brexit ist es eine gemeinsame Federführung von Bundeskanzleramt und Außenministerium, die davor noch diverse Fachministerien koordinieren. Wie das künftig sein wird, wissen wir nicht. Wir wissen ja noch gar nicht, wer überhaupt Minister wird.

15:05 Dave Sinardet, Lockenkopf mit Hornbrille und dunkelblauem Anzug, entschuldigt sich für seine Verspätung. ›Die Straßenbahn hat plötzlich nicht mehr dort angehalten, wo sie sollte.‹ Das Klischee stimme, sagt er, Verkehrschaos gebe es in Brüssel öfter. Er zupft sein Sakko zurecht und eilt zum Fotografen.

Herr Sinardet, Sie sind Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Brüssel. In Österreich könnte demnächst eine Partei in die Regierung kommen, die nationalistisch und EU-skeptisch eingestellt ist. Ein Risiko für Europa oder mittlerweile ›Business as usual‹?

Sinardet: Anfang 2000, als die FPÖ ebenso in eine österreichische Regierung eintrat, gab es viel mehr Debatten darüber. Damals kündigten 14 EU-Mitgliedstaaten an, Österreich diplomatisch zu isolieren. Unser damaliger Außenminister in Belgien, Louis Michel, riet sogar davon ab, Skiurlaub in Österreich zu machen – das wäre moralisch nicht mehr vertretbar. Jetzt, nicht einmal zwei Jahrzehnte später, haben wir uns an diese Umstände gewöhnt; sie stehen nicht mehr groß zur Debatte.

Schusterschitz: Ein Grund, warum die Reaktionen jetzt harmloser sind, ist wohl auch, dass in der ersten schwarz-blauen Regierung nichts Schlimmes passiert ist. Es gab Menschen, die diese Regierung mochten, und manche, die sie nicht mochten. Allerdings hatten wir unter ihr viele Korruptionsfälle. Aber das ist unabhängig von der politischen Orientierung; nicht nur Rechtsparteien sind korrupt. Und im Jahr 2000 wurde von der ÖVP-FPÖ-Regierung auch die letzte Tranche der Entschädigungen für Opfer des Nationalsozialismus beschlossen. Das ist schon sehr erstaunlich, dass ›die Rechten‹ …

… ein Vorzeigeprojekt gestartet haben, um sich gegen Kritik zu immunisieren? 

Schusterschitz: Was immer das tatsächliche Motiv war – es war diese Regierung, die das Kapitel positiv beendet hat. Vielleicht realisieren da die Menschen: Es ist nicht alles schwarz-weiß, es gibt Abstufungen dazwischen. Ich denke, das erklärt auch die gedämpften Reaktionen heute.

15:24 Bryn Watkins verabschiedet sich, er muss – als Mitbegründer – zum Treffen einer Organisation, die sich gegen unbezahlte Praktika in der EU einsetzt. Thomas Klau, verschmitztes Lächeln, grau melierter Bart, fester Händedruck, kommt ein paar Minuten zu früh. ›Ich kann warten‹, sagt der Politologe. ›Ich wohne in Saint-Gilles und arbeite von zu Hause aus, daher hatte ich es nicht weit.‹

Herr Klau, was ist Ihr Eindruck als Beobachter nach den österreichischen Wahlen? 

Klau: Es gibt da das Phänomen dieses jungen, befremdlich jungen Shootingstars der österreichischen Politik. Er war natürlich schon davor auf dem europä­ischen Parkett präsent, aber nun in anderer Funktion. Die wichtigste offene Frage ist, ob er sich in Richtung eines Hardline-Rechtspopulisten entwickelt oder, ob das nur Wahlkampfgetöse war – in den USA würde man Propaganda sagen. Die Regierung wird wohl eher in die Mitte rücken. Ihre Europapolitik ist aber kaum vorherzusagen.

Ist die Kontinuität der politischen Prozesse in der EU auch deshalb so schwierig, weil alle paar Monate Wahlen in einem ihrer Mitgliedstaaten anstehen?

Sinardet: Nun, die EU hat da dieselben Probleme, wie viele nationale Regierungen – auch die haben es schließlich ständig mit Regionalwahlen zu tun.

Klau: Oder die USA! Eine der größten Schwierigkeiten der EU ist die Anzahl der involvierten Regierungen. Und deren politische Agenden in den Heimatländern. Die Zeiten, als ein Minister noch alle seine Fachkollegen aus den anderen Mitgliedsländern kannte und wusste, wer welcher Partei angehört, die sind vorbei. Und das, was gerade in Wien vor sich geht, ist – wenn es nicht so aufgeladen ist, wie die Entscheidung zwischen einem grünen und einem politisch weit rechtsstehenden Präsidentschaftskandidaten – nur symbolisch relevant, es passiert unter der Wahrnehmungsschwelle. Aber wissen Sie, Österreich könnte eigentlich eine wichtige und nützliche Rolle spielen, die es bislang nicht wahrgenommen hat: Österreich könnte ein kluger Anwalt der heute gar nicht mehr so neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten sein, weil es deren Sorgen, Probleme und Schwierigkeiten versteht. Traditionellerweise war Deutschland dieser Advokat der Osteuropäer. Aber Deutschland ist heute eine so dominante Macht, dass da immer der Verdacht besteht, es verfolge seine Eigeninteressen.

Welches Image hat Sebastian Kurz in Europa?

Klau: Haare.

Haare? Wie bei Trump?

Klau: Ja. Geringfügig bessere Haare als Trump.

Aha.

Klau: Er ist der einzige Spitzenpolitiker, den ich kenne, der eine ganze Tube Gel in seine Haare schmiert.

Aber wie ist die europäische Wahrnehmung von Kurz’ Politik?

Klau: Mein Eindruck ist, dass die Europapolitik von Kurz nicht immer stimmig ist, bestenfalls unfertig. Rhetorisch und ideologisch gibt er oft widersprüchliche Signale. Er ist damit freilich nicht der einzige. Das ist etwas, das er mit vielen Politikern der meisten politischen Parteien in Europa teilt.

›Es gibt da das Phänomen dieses jungen, befremdlich jungen Shootingstars Kurz.‹

Europas Krisen als Chance

Es gibt diesen schizophrenen Diskurs, dass viele Parteien, die von sich sagen, sie seien pro-europäisch, in Wahlkampfzeiten ankündigen, sie werden für mehr Souveränität kämpfen. Auch Kurz spielt damit.

Klau: Es gibt zwei Arten von Verhaltensmustern, die etwas dazu verraten: Manche Politiker versprechen etwas, das auf den ersten Blick nicht antieuropäisch erscheint, aber es de facto sein wird. Das tun sie, um kurzfristig ein innenpolitisches Problem zu lösen. Das fügt Europa beträchtlichen Schaden zu, aber das ist den Handelnden in dem Moment egal. Das ist der eine Test: Man sieht sich an, wie solche Politiker sich verhalten, sobald sie an der Macht sind. Der andere Test ist, wie sie sich in einer Krisensituation verhalten. Helfen sie mit, die Krise zu lösen oder verursachen sie selbst noch zusätzliche Probleme, die dann Lösungswege verbauen oder den Prozess überhaupt völlig zum Entgleisen bringen? Auch das lässt sich nur feststellen, wenn diese Politiker in einer Regierung sitzen und sich solchen Situationen stellen müssen. Deshalb ist es auch immer ein Lotteriespiel, einen politischen Anführer zu wählen.

Mit Blick auf Katalonien, Schottland, Polen, Ungarn – beobachten wir eine Tendenz der Desintegration Europas? 

Klau: Ich würde ausdrücklich sagen, dass Europa sich aufgrund seiner Krisen weiterentwickelt. Die Krisen haben immer zu noch mehr Integration geführt, chaotische Integration, ungeplante Integration. Es ist ein Durcheinander, sie passiert nur unter Druck, aber sie passiert an jeder Front. Und zu dem Vorurteil, die Europäer – jedenfalls die am Kontinent – würden Europa nicht wollen: Wir hatten gerade eine dramatische Demonstration, wie unsicher die Basis ist, auf der die Union steht, nämlich während der Euro-Krise. Die Griechen hatten das Gefühl, sie werden von den Deutschen schlecht behandelt. Die Deutschen hatten das Gefühl, ihre Ersparnisse werden von Sirtaki tanzenden Griechen geplündert. Während dieser Krise – trotz all des Dramas, des Chaos und der Pannen – wurde in keinem einzigen Land eine Regierung gewählt, die ihr Land aus der Eurozone herausholen wollte, geschweige denn aus der EU. Das ist ein spektakuläres Ergebnis. Die Menschen wollen Europa.

Ihre Botschaft ist also: Die EU wächst an den Lösungen ihrer Probleme?

Klau: Hören Sie, Europa ist nicht Brasília (Hauptstadt Brasiliens, die auf dem Reißbrett geplant wurde, Anm.). Es ist kein Projekt, das man auf die grüne Wiese stellt. Wenn Sie sich die Geschichte der Vereinigten Staaten ansehen und wie deren Föderalismus entstanden ist, dann ist das eine Geschichte, die sich durch das Überwinden von Krisen weiterentwickelt hat.

Es sind sich aber viele Europäer wohl dessen nicht bewusst, dass Krisen eine Form der Weiterentwicklung sind.

Klau: Weil Analysten das nicht laut genug sagen. Aber beruhigenderweise: Wenn es ans Wählen geht – und ja, die AfD (Alternative für Deutschland, Anm.) mag ihre paar Prozentpunkte bekommen –, haben die Bürger, ob Deutsche, ob Spanier, auch andere, immer wieder dafür gestimmt, dass die EU auf Schiene bleibt.

Sinardet: Wir sollten allerdings auch nicht zu optimistisch sein, etwa wenn Sie sich den Erfolg der europa­skeptischen FPÖ anschauen. Schwer zu sagen, ob die Menschen die Partei vor allem aufgrund ihrer Einstellung zu Europa gewählt haben. Eine noch schlimmere Schlussfolgerung wäre allerdings, dass diese Haltung der Partei gar keinen Einfluss auf die Entscheidung der Wähler hatte, weil sie Europa überhaupt nicht als relevant erachten. Dabei ist klar: Viele unserer Herausforderungen können einfach nicht mehr auf der Ebene der Nationalstaaten gelöst werden, ob das nun Sicherheit, Terrorismus oder Umweltschutz betrifft. Und ich sehe gerade nicht viele Beispiele eines wirklich pro-europäischen Kurses, der viel Beifall erhält.

Klau: Nun, Macron?

16:07 Gernot Haas, hellgrauer Anzug, Leinentasche mit IV-Logo, ist gemütlich zum Wien-Haus spaziert. ›Das IV-Büro ist in der Nähe‹, sagt er. Er bittet um heißes Wasser, keinen Tee, nur heißes Wasser. ›Ich bin eigentlich krank, wollte aber nicht absagen.‹ Kurz nach ihm trifft Saskia Richartz von Greenpeace ein – orange Warnweste, Haube, Schal – und will zuallererst ins Bad: ›Ich bin vom Radfahren ganz dreckig.‹

Richartz: Herr Klau, wenn Sie sagen, Krisen können uns helfen vorwärtszukommen, sollten wir bedenken, dass die Verhältnisse nicht notwendigerweise immer besser und besser werden müssen. Wir sehen gerade Ökosysteme versagen und müssen uns überlegen, uns an neue Systeme anzupassen – und das betrifft nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische Systeme. Not macht erfinderisch, aber die Lösungen liegen potenziell auch außerhalb der bekannten Systeme.

Haas: Denken Sie an die Finanzkrise. Ohne den Euro hätten einige Länder die Finanzkrise nicht überlebt. Griechenland wahrscheinlich nicht, Portugal wohl nicht, Zypern, Spanien und Italien vielleicht nicht. Der Euro ist also eine Gemeinschaft, die viele Länder vor dem Bankrott gerettet hat. Das ist eine sehr starke Demonstration, wovor die EU uns bewahrt hat.

Klau: Sogar Frankreich könnte man hier aufzählen …

Haas: Und warum sind manche Länder in eine Krise geschlittert? Weil die Kontrollmechanismen auf EU-­Ebene zu schwach waren. Da brauchen wir mehr Aufsicht. Die schwächsten Länder könnten schließlich andere in der Währungsunion anstecken.

Klau: Da gibt es zwei Optionen. Entweder es entsteht ein Zentrum, das stark genug ist, das Respektieren der Regeln durchzusetzen. Die katholische Kirche hat das so versucht. Sie hat lange genug mit Gehorsam und Ungehorsam experimentiert. Ein solches Zentrum hat aber das Problem, über eine Exekutive verfügen zu müssen, die genug Legitimität hat, auf den Präsidenten von Frankreich und seine Wirtschaftsberater zuzugreifen. Ehrlich gesagt halte ich diese Option für nicht sehr wahrscheinlich. Der andere Weg ist, föderal ein europäisches Budget zu schaffen, mit dem man Kriseninvestments vornehmen kann.

Richartz: Man braucht dabei nicht unbedingt eine zentrale Kontrollmacht, man kann auch eine dezentrale Kontrollmacht durch die Wählerschaft aufbauen.

Klau: Wie?

Richartz: Indem man versichert, dass Entscheidungsprozesse im Europäischen Rat und bei den Treffen der Premiers und Kanzler klarer werden. Was sie immer machen, ist ein ›Gentlemen’s Agreement‹: Man bringt keinen in Schwierigkeiten, verhält sich ruhig – jedenfalls solange man selbst nicht in Schwierigkeiten ist oder von der Entscheidung sogar profitieren kann. Das ist die Essenz. Natürlich, man kann über die Demokratiemüdigkeit der Bevölkerung sprechen. Aber sie ist eine Konsequenz dessen, dass den Menschen ihre Souveränität genommen wurde, sich in Debatten einzubringen.

Sinardet: Wir müssen darüber hinausdenken und die Wahlen etwa zum EU-Parlament tatsächlich europäisieren. Die Bürger wählen dabei ja immer noch Abgeordnete aus dem eigenen Land.

Klau: Transnationale Wahlen wären eine Option. Macron hat das vorgeschlagen.

Könnte das auch bedeuten, dass wir einen Kommissionspräsidenten direkt wählen?

Klau: Das wird nicht passieren.

Warum nicht?

Klau: Die Regierungen der Nationalstaaten würden niemanden mit so viel demokratisch legitimierter Macht dulden. Können Sie sich einen direkt gewählten Präsiden­ten Europas vorstellen, der mit nationalen Regierungen konkurriert?

Richartz: Im Moment sieht es vielleicht nicht umsetzbar aus, aber nur, weil wir in unserer Wahrnehmung beschränkt sind.

Sinardet: Wahrscheinlich hat es eher Chancen auf Umsetzung, nur Teile der EU-Parlamentsabgeordneten auf transnationalen Listen zu wählen. Wir entwickeln uns gerade sanft in diese Richtung mit den ›Spitzenkandidaten‹ für die Kommissionspräsidentschaft.

Klau: Exakt.

Sinardet: Beim letzten Mal, 2014, war es leider nicht sehr wirkungsvoll, weil nicht wirklich klar war, ob das Wahlresultat mit der Nominierung in Zusammenhang stehen wird. Hoffentlich wird das 2019 deutlicher.

Klau: Und politisch waren Juncker und Schulz auch fast auf derselben Wellenlänge. Es gibt da noch einen Aspekt, der öfter betont werden sollte: Wenn Sie sich die Wahlbeteiligung in den Vereinigten Staaten ansehen, sind die Prozentsätze ähnlich oder niedriger als die der EU-Wahlen. Amerikaner leben mit diesem Level der Teilnahme, es delegitimiert auch nicht diejenigen Politiker, die aus diesem Prozess hervorgehen. Das System wird einfach nicht als etwas Perfektes angesehen. Wir dagegen diskutieren ständig Prozentsätze, interpretieren sie als Scheitern der Demokratie, als die Quelle mangelnder Legitimität. Wir sollten damit aufhören. Vielleicht ist das einfach der Preis, den wir eben zahlen müssen, wenn wir ein geographisch großes, föderales Ensemble organisieren. Und selbstverständlich gehen weniger Menschen zur Wahl für oder gegen etwas, das weit weg von ihnen passiert, als wenn sie für ihren eigenen Dorfbürgermeister abstimmen sollen. So ist das eben.

Frau Richartz, Herr Haas, zu Ihrer täglichen Arbeit: Was antworten Sie Menschen, die sich fragen, was Lobbyisten in Brüssel machen?

Haas: Also, ich würde mich selbst nicht als Lobbyist bezeichnen. Wir sind eher Spezialisten, die so wie Denk­fabriken der Regierung Lösungskonzepte anbieten – im Unterschied zum Lobbyismus.

Richartz: Lobbyismus gilt vielen als negatives Wort. Es geht dabei darum, die richtigen Informationen bereitzustellen, etwa über die Auswirkung geplanter Gesetze; für uns vor allem darum, die Stimme der Umwelt zu verstärken und derjenigen Menschen, die wir repräsentieren. Und wir versuchen, die Wirklichkeit in politische Entscheidungsprozesse einzubringen.

Wessen Wirklichkeit?

Richartz: Die Wirklichkeit der Auswirkungen auf die Umwelt. Das kann bedeuten, dass wir Fischer aus West­afrika, die unter der Überfischung ihrer Gewässer durch europäische Unternehmen leiden, nach Brüssel zu persönlichen Treffen mit Entscheidungsträgern einladen, damit sie sich austauschen können.

Die Automatisierung wird weithin als eine Gefahr für den Arbeitsmarkt gesehen. Herr Haas, wie geht die Industrie damit um? Wie können Sie dennoch interessante Investoren gewinnen?

Haas: Investitionsbedingungen sind unser Kernthema. In Kontinentaleuropa haben wir hohe Personalkosten – auch hohe Löhne, das ist aber nichts, was wir in Frage stellen als solches, weil es schließlich unseren Lebensstandard ermöglicht. Andererseits bedeutet das, dass wir in anderen Bereichen sehr konkurrenzfähig sein müssen. Wo also können wir Kosten für Unternehmer reduzieren, was können wir für sie günstiger gestalten? Im Bereich Daten und Digitalisierung etwa haben wir diesen Konflikt mit dem Verbraucherschutz, dass also persönliche Daten, die verarbeitet und verkauft werden können, als ökonomisches Gut sehr, sehr wertvoll, in Europa aber sehr stark geschützt sind. Wir verstehen das durchaus. Aber manchmal passiert das in einem Ausmaß, das die Verarbeitung von Massendaten unglaublich verkompliziert. Europa tendiert dazu, überreguliert zu sein.

Richartz: Das ist das typische Szenario, das die Wirtschaft entwirft: Konsumenten- und Umweltschutzgesetze sind eine Bürde regulatorischer Natur. Eine Argumentation, die – wenn man sich die Art der EU-Gesetzgebung einmal genauer ansieht – lächerlich ist, weil der Topf für Umwelt- und Konsumentenschutz winzig ist im Vergleich zur Gesetzgebung, die Investoren und Finanz­sektor schützt. Sieht man sich die Landwirtschaft an, bemerkt man auch hier: Die Gesetze, die Nahrungsmittel, Konsumenten und Tiere schützen, machen einen Bruchteil des Gesetzesvolumens aus, das Betriebe und Technik reguliert, etwa die Sicherheitsbestimmungen für Motorenbauteile eines Traktors oder ähnliches.

17.05 Thomas Klau fragt während des Gesprächs leise, für wie lange er eingeplant ist. Als zwei neue Gäste kommen, verabschiedet er sich. Gleichzeitig treffen Michael Karnitschnig von der EU-Kommission und ­Alexandra Stiglmayer von der NGO ESI im Wien-Haus ein. Karnitschnig: ›Ah, ich soll gleich zum Fotografen?‹ Sinardet macht einen Platz am Tisch frei. Stiglmayer sitzt schon, als sie doch noch zum Fotografieren muss.

Auf gute Nachbarschaft mit der EU

Herr Karnitschnig, Sie sind Kabinettschef des österreichischen EU-Kommissars Johannes Hahn. Er ist für Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik zuständig – und 200 Tage im Jahr unterwegs bei 23 zu betreuenden Nachbarstaaten. Sind Sie da immer dabei?

Karnitschnig: Nein, ich bewundere den Kommissar auch für seine fast zen-buddhistische Geduld mit den strukturellen Problemen in unserer Nachbarschaft. Die Arbeitsteilung ist: Ich halte in Brüssel die Stellung, werkle im Maschinenraum, und der Kommissar – logisch in seiner Position – ist damit beschäftigt, unsere lieben Klienten vor Ort zu verarzten.

Wie macht man das in einem Staat wie Libyen, wo es eine große Anzahl potenzieller Ansprechpartner gibt, die aber nur schwer oder gar nicht erreichbar sind?

Karnitschnig: Libyen ist natürlich ein Sonderfall, aufgrund der zum Teil fehlenden staatlichen Strukturen – aber ein gutes Beispiel dafür, dass wir als Europäer ganz offensiv auch in fast schon katastrophal schwierigen ­Zuständen stärker unseren Mann beziehungsweise unsere Frau stehen müssen. Schlicht und ergreifend, weil – wieder Kommissar das immer so schön formuliert – Geografie unser Schicksal ist. Deswegen ist es umso wichtiger, vor Ort aufzutreten. Der Kommissar selbst war kürzlich in ­Libyen, weil zunehmend stabile und konstruktive ­Ansprechpartner vorhanden sind, und natürlich weil die Migrationskrise auf der zentralen Mittelmeerroute auch ein entsprechendes europäisches Engagement vor Ort braucht.

Gibt es da lokale Guides, die die Situation ständig beobachten und einem sagen, wie es dort läuft? 

Karnitschnig: Wir haben vor Ort Delegationen, also EU-Botschafter. In Libyen residieren sie aus Sicherheitsgründen in Tunis, aber ansonsten sind wir überall im jeweiligen Land. Das sind unsere Ohren, Augen, unser Gesicht dort, die uns regelmäßig wie ein diplomatisches Netzwerk berichten. Die sind natürlich aufgrund ihrer ›local intelligence‹ völlig unabdingbar.

Welche Rolle spielt die EU beim immer wieder geforderten Schließen der Mittelmeerroute? Fließt da Geld an libysche Milizen, die die Überfahrt von Flüchtlingsbooten kontrollieren?

Karnitschnig: Wir finanzieren Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache, arbeiten mit Ge­meinden insbesondere entlang der Migrationsrouten, um ihnen andere wirtschaftliche Perspektiven zu geben, finanzieren die Behörden bei der Bekämpfung des Schmugglerunwesens und helfen ganz generell beim Aufbau demokratischer, funktionsfähiger Institutionen im Lande.

Wir müssen ja gar nicht nach Libyen blicken: Ich bin in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo geboren, und fühle mich als Europäerin – dabei ist Bosnien nicht bei der EU. Hat die Erweiterungspolitik, nach Bulgarien und Rumänien, jetzt einmal Pause?

Karnitschnig: Nein, Nein, Nein, Nein, Nein.

Nein? Es wirkt so. 

Karnitschnig: Präsident Jean-Claude Juncker hat am Beginn dieser Amtszeit der Kommission die schlichte faktische Feststellung getroffen, dass während der nächsten fünf Jahre selbst in einem Best-Case-Szenario kein Land beitreten wird. Das ändert nichts daran, dass wir die Beitrittsperspektive insbesondere der sechs Westbalkanländer – Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien – weiter konkretisieren und weiter vorantreiben. Im Februar werden wir eine neue Westbalkanstrategie vorlegen, denn eines ist klar: Diese sechs Staaten gehören nicht bloß zu Europa, sie gehören in die Europäische Union. Die Türkei wiederum ist aus vielerlei Gründen ein Sonderfall.

Stiglmayer: Was wir gerne sehen würden, ist eine Aufstellung der Kriterien, die diese Länder erfüllen müssen – und die auch ihre Bürger verstehen. Was sind die wichtigsten Anforderungen, die an sie gestellt werden, und wie beurteilt die Kommission deren Umsetzung?

Karnitschnig: Ich gebe zu, dass die Erweiterungspolitik für manche zu einer Art Geheimwissenschaft für Initiierte geworden ist. Allerdings widerspreche ich massiv, wenn Sie sagen, es wäre nicht klar, was von den Ländern erwartet wird. Es ist nur eines der Hauptprobleme des Erweiterungsprozesses, dass wir sowohl auf Seiten der EU als auch auf Seiten der Beitrittsländer einen stärkeren politischen Willen brauchen.

Richartz: Und: eine Stärkung der Zivilgesellschaft in diesen Regionen.

›Wir laden etwa Fischer aus Westafrika nach Brüssel ein, damit sie sich mit Entscheidungsträgern austauschen.‹

Frau Stiglmayer, Sie waren Korrespondentin am Balkan. Wie zeitgemäß ist das Dayton-Abkommen noch, das den Bosnienkrieg beschloss?

Stiglmayer: Ich denke, es wäre verfrüht, jetzt eine Neuauflage von Dayton erreichen zu wollen. Das Beste wäre, Bosnien jetzt wie andere Beitrittskandidaten zu behandeln und nicht immer als Sonderfall. Klar auszusprechen: ›Das sind die Konditionen, das erwarten wir, jetzt macht mal.‹ Entweder das klappt oder es klappt nicht.

Karnitschnig: Wir müssen auch verhindern, dass die lokalen Machthaber es sich in der extrem komplizierten institutionellen Struktur behaglich einrichten.

Stiglmayer: Zu solchen Klischees möchte ich aber sagen: Was wir an Bosnien kritisieren, könnte man genauso gut an Belgien oder der Schweiz bemängeln.

Karnitschnig: (lacht) Oder an Österreich.

Der Kosovo wurde vor zehn Jahren unabhängig – wo steht er heute? Selbst in Europa haben ihn noch nicht alle Länder anerkannt.

Karnitschnig: Fünf EU-Staaten haben ihn aus verschiedenen historischen und innenpolitischen Gründen nicht als unabhängigen Staat anerkannt, und das wird sich auch nicht so schnell ändern. Aber das ist aus meiner Sicht, ähnlich wie bei Bosnien, nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass wir zu einer vollständigen, dauerhaften Normalisierung im Verhältnis zwischen Belgrad und Pristina kommen. Das ist für die Stabilität der Region wahnsinnig wichtig. Die Nicht-Anerkennung dieses Landes durch eine Reihe von Staaten weltweit ist nicht sein Hauptproblem. Die enorm hohe Jugendarbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit und – vorsichtig formuliert – die betriebswirtschaftlichen Interessen einzelner Herrschaften in diesem Land haben mit der Anerkennungsfrage herzlich wenig zu tun.

Stiglmayer: Da müsste sich auch die Erkenntnis durchsetzen, dass der EU-Beitritt nicht alles ist. Der Weg dorthin ist genauso wichtig. Denn auch wenn sie nicht beitreten sollten nach 15 Jahren, werden sie von EU-Mitgliedsstaaten umzingelt sein. Sie handeln jetzt schon mit der EU, das heißt, es ist gut, wenn sie die gleichen Verordnungen für öffentliche Ausschreibungen haben, die gleichen Standards für Nahrung, die gleichen Statistiken anwenden.

Haas: Sehen Sie eigentlich einen wachsenden Einfluss von Russland und der Türkei in der Region?

Karnitschnig: In der Geopolitik ist es wie in der Physik: Ein Vakuum hält sich nicht lange. Ich denke aber, Gerüchte über den Einfluss sowohl Russlands als auch anderer sind maßlos übertrieben. Russland hat einen negativen Einfluss in Teilen der Region als Problembär. Es glauben aber nicht einmal die Serben, dass es attraktiv wäre, der 47. Oblast der russischen Föderation zu werden.

Südosteuropäische Länder waren stets Muster­schüler in Sachen Europaeuphorie. Hat sich das geändert in den vergangenen Jahren, wo auch diese Länder merken: Ahja, die EU hat auch genug eigene Probleme.

Stiglmayer: In Albanien etwa ist die Unterstützung der EU noch enorm, über neunzig Prozent. Serbien pendelt um die fünfzig Prozent, aber das hat sich nie wirklich geändert. Ich glaube, in Bosnien ist es zurückgegangen, weil’s zehn Jahre und immer noch dauert und man natürlich sagt: Wann, wann, wann? Warten auf Godot.

Karnitschnig: Wir haben natürlich im letzten Jahrzehnt als Europäische Union nicht immer das attraktivste Bild abgegeben.

Das europäische Image

Sie waren schon im Team des Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. Wie hat sich denn das Image der Kommission gewandelt in diesen letzten Jahren?

Karnitschnig: Wir waren eigentlich – bis zum Brexit-Referendum, das wir jetzt fast schon als kabarettistische Einlage abtun, was seiner Bedeutung aber keinen Abbruch tut – permanent im Krisenmodus. Das schlägt sich natürlich in der öffentlichen Wahrnehmung nieder, das Schimpfen auf Europa, die Rolle der Institutionen als Sündenbock und so weiter. Aber ich glaube, dass sich jetzt jedenfalls durch die Beilegung der Wirtschaftskrise ein gewisser Optimismus einstellt.

Stiglmayer: Ich habe von 2003 bis 2006 auch in der Kommission gearbeitet und es war eine völlig andere Atmosphäre. Die Kommission ist heute viel schwächer als vor 15 Jahren.

Woran merkt man das? 

Stiglmayer: Ich war in der Umweltdirektion. Kyoto trat gerade in Kraft, weil Brüssel das ratifiziert hatte. Da hieß es nicht: ›Was wird Deutschland oder dieses Land dazu sagen?‹ Sondern man hat gemacht. Die Mitgliedsländer haben die Kommission dabei auch walten lassen.

Karnitschnig: Das ist der entscheidende Punkt.

Stiglmayer: Früher hat die Kommission gesagt: ›Okay, der Beitrittskandidat ist jetzt bereit.‹ Da haben die Mitgliedsländer sich einfach angeschlossen. Heute müssen sie sich bei jedem Schritt nonstop einigen.

Richartz: Aber gerade in schlechten Zeiten bräuchte man die Leitung und Vorreiterschaft der Kommission. Gerade da müsste sie sich stärken. Ist die EU geschwächt, sinkt auch das Interesse der Öffentlichkeit an der EU. Weil die Kommission mauschelt, ohne ihre Position klar darzulegen.

Karnitschnig: Die Kommission ist Teil eines institutionellen Dreiecks. Sie alleine kann nicht entscheiden. Warum gibt es Hochphasen der Integration? Weil es zu diesem Zeitpunkt einen Grundkonsens der Mitgliedstaaten gab. Je schwächer aber dieser Konsens zwischen den Mitgliedstaaten ist – und natürlich ist das in einer Union der 28 viel schwieriger –, umso schwieriger ist es für uns, die Herde zusammenzuhalten. Sie können das mit einem Kindergarten vergleichen: Der Kindergärtner kann natürlich auch etwas brutalere Methoden auspacken, aber ich glaube nicht, dass es dadurch stiller im Raum wird. Ich bin völlig bei Ihnen, wir haben ein Problem der Transparenz des Rates. Wir haben ein Problem der Scheinheiligkeit der Mitgliedstaaten. Wir haben ein Problem der Konsistenz im Europäischen Parlament. Und wir haben in Einzelfällen auch ein Problem des Selbstbewusstseins der Kommission. Nur über einen Kamm geschoren zu sagen, die Kommission sei schwach und deshalb gehe alles den Bach hinunter, ist mir ehrlich gesagt etwas zu simplistisch.

Richartz: Die Mitgliedstaaten müssen auch in die Verantwortung gezogen werden, ganz klar. Aber ich kenne keinen Klassenraum, in dem die Lehrerin im Konsens mit den Schülern den Stundenplan zusammenstellt. Und da wären wir wieder bei der Transparenz. Die Gipfeltreffen im Rat sind sowieso der Gipfel der Intransparenz, weil man sich fragt: Warum treffen sie überhaupt Entscheidungen in Feldern, in denen sie gar keine Kompetenz haben?

›Wir haben natürlich im letzten Jahrzehnt als Europäische Union nicht immer das attraktivste Bild abgegeben.‹

Ist Entscheidungstransparenz da realistisch möglich? 

Karnitschnig: Das ist völlig unrealistisch, fürchte ich. Wenn man ein Transparenzgebot einführt, würden Entscheidungen eben woanders getroffen. Zur Not auf der Herren- oder Damentoilette. Der Rat hat ja bereits Transparenzrichtlinien, gesetzgeberische Entscheidungen müssen vor laufender Kamera gefällt werden. Was passiert also? Man trifft sich beim Mittagessen und segnet sie entsprechend ab. Das ist intransparent, das erzürnt auch die Bürger.

Richartz: Gerade heute hätte die Kommission mit einem Verkehrspaket die Möglichkeit gehabt, über die Mitgliedstaaten hinaus Initiative zu ergreifen. Aber sie beschränkt sich auf die CO2-Standards der Autos, nicht mal ein Ziel für die Elektrifizierung des Verkehrs. Genau da könnte die Kommission die Weichen umstellen und Europa in Richtung Nachhaltigkeit und auch soziale Gerechtigkeit führen. Das Privatauto ist nicht, was in Europa die Entwicklung einer nachhaltigen Wirtschaft beschleunigt, im Sinne des Klimaschutzes, im Sinne der Fairness allen Verkehrsbeteiligten gegenüber.

Karnitschnig: Ich fürchte, dass die meisten Europäerinnen und Europäer ein anderes Verhältnis zu ihrem Auto haben. Und als gelernter Österreicher sehe ich schon die Schlagzeilen diverser Kleinformate vor mir – und ich meine jetzt nicht das Datum: ›Eurokraten drängen uns teure Elektrofahrzeuge auf‹. Vergessen Sie bitte nicht, dass diese wie die vorige Kommission federführend war hinter dem Energie- und Klimapaket, auch hinter dem Pariser Klimaabkommen. Die Frage ist – und da bin ich eben absolut nicht Ihrer Meinung –, wie die Kommission ihre Rolle definiert. Wir können nicht von ­Brüssel aus 28 extrem unterschiedliche Mitgliedstaaten im Detail regulieren. Wir müssen Ziele vorgeben, einen Rahmen setzen, aber eine Initiative vorzulegen, die dann von den Mitgliedstaaten und vom Europäischen Parlament völlig verwässert wird, das halte ich für keine kluge Politik. Es gibt eine Art Selbstgenügsamkeit der Europapolitiker, die glauben, es reiche schon, einen intelligenten Vorschlag auf den Tisch zu legen. Aber nein, man muss dazu beitragen, dass dieser eine Mehrheit in den Mitgliedstaaten findet. Und die Mitgliedstaaten, deren Chefs sich als Klimapremiers und Klimakanzlerinnen inszenieren und nach Grönland fahren, um irgend­welche Eisbären zu beschmusen, sind die gleichen, die ­gestern bei uns angerufen haben, um die Klimaziele im Auto­mobilbereich zu verwässern.

Richartz: Also, wenn es darum geht, den Diesel- und Benzinmotor abzuschaffen, sind viele Mitgliedstaaten und das Parlament schon weit über die Ziele hinausgegangen, die die Kommission auf den Tisch gelegt hat.

Karnitschnig: Deutschland auch?

Richartz: Ach so, die Politik wird also von Deutschland gemacht? Jetzt verstehe ich. Hat also die deutsche Industrie bei Ihnen angerufen.

Karnitschnig: Nicht nur die.

Das ist dann tatsächlich so, dass Ihr Telefon klingelt und die Industrie ist dran?

Karnitschnig: Ich habe in meiner früheren Funktion als Klima- und Energieberater von Präsident Barroso gelernt, dass die effektivsten Lobbys sehr oft die Grünen sind. Zu glauben, dass Brüssel in der Tasche diverser deutscher Autofahrerklubs und Pendlerorganisationen wäre, ist schlicht und ergreifend falsch.

Wie oft trifft ein ESI-Vertreter Kommissionsbeamte, um Lobbying zu betreiben oder jemanden auch nur zu beraten?

Stiglmayer: Das passiert schon, aber wir arbeiten sehr viel über Mitgliedstaaten.

ESI hat es dabei mit 13 Mitarbeitern geschafft, das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei auszuhandeln. Wie kommt so etwas zustande?

Stiglmayer: Wir arbeiten seit Jahren zur Türkei und zur visafreien Migration. Und wir hatten schon im September 2015 den Vorschlag gemacht, ein Abkommen mit der Türkei zu schließen – als einziger Weg, diese Krise unter Kontrolle zu bringen. Wir hatten Kontakte zum Beispiel zum türkischen Botschafter in Deutschland, zu Leuten in Ankara, in den Niederlanden und in Deutschland, selbstverständlich auch in Brüssel. Und dann haben wir halt unsere üblichen Runden gedreht und gesagt: ›Guckt mal, das wäre doch ein Weg vorwärts‹.

Aber was sind die Bedingungen dafür?

Stiglmayer: Man muss unter den Verantwortlichen jemanden finden, der sich dann wirklich dafür einsetzt. Und auch Einfluss hat. Irgendwann bildet sich dann eine Eigendynamik. Auch Frau Merkel sagte früh, man müsse mit der Türkei zusammenarbeiten. Das heißt, auch in Deutschland gab es dafür offene Ohren. Manchmal hat man eben mehr Glück und manchmal weniger.

18:03 Während der hitzigen Debatte zwischen ­Karnitschnig und Richartz betritt Karin Lukas-Eder, ­roter Nagellack, silberner Lidschatten und Locken­stablocken, den Raum. Lukas-Eder reißt die Augen auf. ›Da kann ich aber nicht mitreden‹, flüstert sie. Unauffällig nimmt sie Platz und bringt durch ihre Präsenz etwas Ruhe in die aufgebrachte Stimmung. Gernot Haas verabschiedet sich. Da stößt auch schon Michaela Kauer aus ihrem Büro im ersten Stock zu uns. ›Ich bin ja schon die ganze Zeit über Ihnen‹, sagt die Gastgeberin im Wien-Haus lautstark in die Runde. ›Und erst jetzt begeben Sie sich zu uns herab‹, lacht Karnitschnig. Die beiden kennen einander. Kauer nimmt neben ihm Platz. ›Im Wien-Haus bin ich die einzige Wienerin, das ist ein Skandal‹, scherzt sie.

Zwischen Wien und Brüssel

Frau Kauer, Sie vertreten die Interessen Wiens in Brüssel. Wie können wir uns das vorstellen? 

Kauer: Es ist irrsinnig einfach, jemandem Wien schmackhaft zu machen.

Wie tun Sie das?

Kauer: Die Geschichte, die wir erzählen, ist sehr einfach: Wien steht für eine starke Stadtverwaltung, für starke öffentliche Dienste – von der Wiege bis zur Bahre. Manchmal werden wir ausgelacht, weil das heute ein bisschen paternalistisch klingt. Unsere Überzeugung ist, dass man sich vom sektoralen Zugang lösen muss. Man kann nicht nur Verkehr denken, man muss Verkehr und Umwelt gemeinsam denken. Man kann nicht nur Energie denken, man muss auch den Müll mitdenken.

Versuchen Sie aktiv, konkrete Lösungen, die Wien für sich gefunden hat, an andere Städte heranzutragen?

Kauer: Müssen wir meistens gar nicht, weil die eh zu uns kommen. (Lachen) Ich schwöre es euch, so ist es. Die Wiener Fernwärme kann sich gar nicht retten vor Besuchern aus anderen Städten.

Von welcher Stadt hat Wien sich etwas abschauen können?

Kauer: Von einigen. Nehmen Sie Kopenhagen mit den vielen gut ausgebauten Radwegen. Die sind da wirklich sehr, sehr weit.

18:30 ›Darf ich jetzt gehen?‹, fragt Alexandra Stiglmayer plötzlich in eine kurze Gesprächspause hinein – großes Gelächter am Tisch. Michael Karnitschnig verabschiedet sich kurz darauf, als zum ersten Mal das Wort ›Opernball‹ fällt. Dafür stößt Ann Trappers, eine junge Frau mit violettem Oberteil und braunem Bob, als letzter Gast zur Runde. Sie ist mit der U-Bahn gekommen, erzählt sie. Trappers spricht langsam und bedächtig sehr gutes Deutsch. Ihre Mutter ist Deutschlehrerin gewesen.

Frau Lukas-Eder, Sie sind Wissenschaftslobbyistin, organisieren aber auch den Brüsseler Opernball. Kann man sich den als Kleinformat des Wiener Opernballs vorstellen? 

Lukas-Eder: Also bei uns in Brüssel heißt er ›Wiener Ball‹ und findet natürlich in der Faschingszeit statt, so wie es sich gehört, seit über 25 Jahren. Es ist ein karitatives Event, für SOS-Kinderdorf, also nicht wie der Opernball in Wien. Wir, ein kleines Organisationskomitee, machen alles selbst. Wir treffen uns jetzt in zwei Wochen, um die Einladungen schön zu falten.

Wir denken sofort an Richard Lugner. Gibt es einen ­Lugner in Brüssel – oder kommt der echte selbst? 

Lukas-Eder: Nein, diesen Showeffekt haben wir nicht. Wir haben keinen Herrn Lugner hier, vermissen ihn aber auch nicht. Wir haben natürlich sehr viele Ehrengäste, EU-Kommissare, Direktoren, auch aus der Industrie und vom belgischen Adel.

Welche Rolle spielt der Adel in Belgien? 

Lukas-Eder: Eine sehr wichtige. Wir haben ja den gleichen Konflikt wie die Spanier mit den Katalanen zwischen Flamen und Wallonen. Und man sagt hier: Zusammen hält sie nur der König und das Bier.

Trappers: Die königliche Familie ist die größte Seifen­oper Belgiens. Alle kennen sie.

Lukas-Eder: Sie sind sehr menschlich, vergleicht man sie etwa mit dem britischen Königshaus. Ich erinnere mich an den Tag der Inthronisierung von König Philippe. Krone haben sie ja keine, das belgische Königshaus ist ein sehr armes. Die haben sich nach der Zeremonie umgezogen und sind in das Volksfest hineingegangen, um mit den Leuten zu feiern. Alle waren begeistert.

Frau Trappers, wie arbeiten Sie als Sozialarbeiterin in Molenbeek?

Trappers: Ich arbeite für die Organisation ›Foyer‹ mit Migranten erster Generation, zweiter Generation, vor allem Roma. Für uns ist es sehr wichtig, unseren Klienten  ›Empowerment‹ zu ermöglichen, also Autonomie und Selbstvertrauen.

Wie tun Sie das?

Trappers: Sport ist für uns ein Mittel zur Integration. Wenn man Sport macht, ist das gut für das Selbstvertrauen. Jugendliche bekommen das Gefühl: Das ist auch mein Verein, da gehöre ich dazu. Das ist nicht etwas nur zum Teilnehmen.

›Wir stellen fest, dass man nach den Anschlägen auch über Radikalisierung, die bis dahin Tabu war, reden kann.‹

Kauer: Ich gehe gerne nach Molenbeek. Da gibt es einen guten Markt, es gibt ein tolles Museum, das MIMA (Museum of Visual Arts for the General Public, Anm.). Ich gehe irrsinnig gerne am Kanal spazieren. Und super sind natürlich die marokkanischen Geschäfte. Da gibt es alles: Möbel, Stoffe, Lebensmittel, Kleidung. Ich finde Molenbeek spannend – und es ist besser als sein Ruf.

Wie haben Sie die Anschläge im März 2016 erlebt?

Trappers: Der Schock war groß. Aber: Irgendwie hatten sie für uns tatsächlich mehr positive Folgen als negative. Wir stellen jetzt fest, dass man über Radikalisierung, die als Thema bis dahin Tabu war, plötzlich reden kann. Es gibt heute eine größere Solidarität, ein größeres Bewusstsein, dass es dringend notwendig ist, etwas gemeinsam zu gestalten.

Lukas-Eder: Ich bin ja auch Ausländerin hier. Ich lebe seit zwanzig Jahren in Belgien und mein Sohn ist hier geboren. Er geht in eine Schule, da sind 22 Kinder in der Klasse. Einer davon ist Belgier. Die übrigen sind Kinder, die in Belgien geboren sind, aber eine andere Staatsbürgerschaft haben: eine Dänin, eine Britin, drei Marokkaner, ein Österreicher – das ist meiner (lacht). Und wie man in Belgien dieses Schulsystem mit diesen verschiedenen Kindern aufgestellt hat, ist beeindruckend.

Kauer: Es gibt hier einfach kein Wort für Rabenmutter. (Lachen) Ich meine das vollkommen ernst. Du bist hier keine schlechte Mutter, wenn du sagst: ›Mein Kind geht mit sechs Monaten in die Kinderkrippe.‹ Das ist normal. Du wirst eher gefragt, ob du spinnst, wenn du zu dem Zeitpunkt noch nicht wieder arbeiten gehst. Das geht hier auch gar nicht.

Lukas-Eder: Sonst ist der Job weg.

Frau Trappers, Sie gehören der Erasmus-Generation an. Würde die auf die derzeitigen Krisen anders reagieren als jene, die heute Entscheidungen treffen?

Trappers: Es ist wichtig, langfristig zu denken. Aber wir sollten auch jetzt schon aktiv werden und nicht einfach alles beobachten und uns fragen: ›Was passiert da eigentlich?‹ Sondern teilnehmen. Diese Krisen sind gefährlich. Man muss die Leute, die Angst haben, ernst nehmen, ihnen zuhören. Das braucht schon auch Mut.

Wir hatten heute einen Politologen da, der meinte, Staaten­gemeinschaften sind immer an Krisen gewachsen. Das ist ein Hoffnungsschimmer.

Kauer: Für mich stellt sich die Frage, ob man nicht ganz visionär darüber nachdenken muss, wie man Europa von unten aufbauen kann. Sodass wirklich die Bürge­rinnen und Bürger zum Souverän einer Europäischen Republik werden, wie viele es auch schon benennen, etwa Ulrike Guérot oder Robert Menasse. Dann hätten wir eine Europäische Staatsbürgerschaft, ein Europäisches Par­lament und eine Europäische Regierung, die diesen Namen verdient, eine zweite Kammer, die die regionale ­Vielfalt viel besser abbildet, als das jetzt der Fall ist. Das bedeutet natürlich in letzter Konsequenz, Kompetenzen von den Nationalstaaten wegzuverlagern. Und das kann nur gelingen, wenn wir Frauen uns stärker an diesem Projekt beteiligen.

Da tun wir uns jetzt leicht mit einem Konsens in einer Frauenrunde. (Lachen)

Kauer: Ich meine das sehr ernst. Es waren lange die Frauen die Europaskeptischen. Das hat sich in den vergangenen Jahren gedreht, wenn man sich das Eurobarometer (regelmäßig von der Kommission durchgeführte Meinungsumfrage in den EU-Mitgliedstaaten, Anm.) ansieht. Offenbar gibt es heute mehr Frauen, die Europa vertrauen, als Männer. Und das Selbstbewusstsein und die Gelassenheit der Frauen können Europa nur guttun.

 

Zu den Personen

Der junge Brite Bryn Watkins aus Ostengland lebt in Brüssel und will dort auch bleiben, trotz Brexit. Der frühere Deutschlehrer startete – nach einem Jahr in Ungarn – in Brüssel mit einem Praktikum in der Presseabteilung des Europäischen Parlaments. Derzeit ist er in der ­Öffentlichkeitsarbeit des etablierten Brüsseler
Wirtschafts-Think-Tanks ›Bruegel‹ tätig.

Seit 1985 ist Susanne Höhn am Goethe-Institut tätig, einer weltweit in 98 Ländern vertretenen, deutschen Kultureinrichtung – anfangs als Dozentin, schließlich in leitenden Funktionen an den Instituten in Jerusalem, Rom und München. Heute leitet sie die Region Südwesteuropa und vertritt die Anliegen des Goethe-Instituts gegenüber den EU-Behörden.

Schon als Volksschüler wollte Gregor Schusterschitz Diplomat werden, wie sein Großonkel. Nach seinem Studium der Rechts- und Politikwissenschaften arbeitete er sich vom Presseattaché in Tschechien über die Leitungsposition der Rechtsabteilung an der Ständigen Vertretung Österreichs bei der EU bis zur österreichischen Botschafterstelle in Luxemburg hinauf. Momentan verhandelt er für Österreich den Austritt der Briten aus der EU.

Der Belgier Dave Sinardet unterrichtet Politikwissenschaften an zwei Brüsseler Universitäten und forscht dort unter anderem zu den Schwerpunkten Föderalismus, Nationalismus und politische Kommunikation. In dem belgischen Think-Tank ›Pavia Group‹ setzt sich Sinardet für einen gemeinsamen Wahlkreis in ganz Belgien ein, sodass Flamen und Wallonen die gleichen Parteien wählen können.

In Brüssel hat Thomas Klau beruflich schon viele Jahre zu tun. Thomas Klau war Korrespondent für die ›Financial Times Deutschland‹ in Brüssel und Washington. Davor arbeitete er für den Think-Tank ›European Council on Foreign Relations‹ in Paris und analysierte dort die ­europäische Außenpolitik. Daneben hat er ›Asylos‹ gegründet, ein Forschungsnetzwerk, das Informationen zur Unterstützung von Asylverfahren bereitstellt.

Der studierte Betriebswirt Gernot Haas begann 1995 in der Abteilung Finanz- und Steuerpolitik für die österreichische Industriellenvereinigung zu arbeiten. Heute vertritt er die Interessen dieser gegenüber Entscheidungsträgern in Brüssel, seit 2010 als Leiter des Brüsselbüros der Industriellenvereinigung.

Die Deutsche Saskia Richartz hat in England Ökologie und Umweltmanagement studiert. Seit 2005 arbeitet sie für Greenpeace und vertritt heute als stellvertretende Direktorin des Brüssel-Büros Umweltinteressen gegenüber der EU. Spezialisiert ist sie auf den Schutz der Ozeane.

In den Neunzigern berichtete Alexandra Stiglmayer als Journalistin über die Kriege im damaligen Jugoslawien. Ab 1998 leitete sie die Presseabteilung des Hohen Vertreters der UNO in Sarajevo. Sie ist Gründungsmitglied der Europäischen Stabilitätsinitiative ESI, jenes Think-Tanks, der 2016 durch die Initialisierung des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei bekannt wurde.

Vor 18 Jahren begann der österreichische Jurist Michael Karnitschnig in Brüssel zu arbeiten. Seitdem war er im Kabinett von EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner tätig und im Team des ehemaligen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso für Klimaschutzfragen zuständig. Seit 2014 leitet er das Kabinett von EU-Kommissar Johannes Hahn. Er betont, dass er in unserem Gespräch ausschließlich seine persönliche Meinung wiedergibt.

Michaela Kauer ist die Leiterin des Wien-Hauses in Brüssel, der Repräsentanz der Bundes- in der EU-Hauptstadt. Kauer lebt und arbeitet seit acht Jahren in Brüssel und setzt sich hier für die Interessen der Stadt Wien ein.

Karin Lukas-Eder lebt seit 22 Jahren in Brüssel, obwohl sie ursprünglich nur ein halbes Jahr bleiben wollte. Karin Lukas-Eder hat sowohl in der EU-Kommission, als auch im Parlament gearbeitet und vertritt nun seit zehn Jahren die ›Bayerische Forschungsallianz‹. Nebenbei organisiert sie den so genannten Wiener Ball in Brüssel.

Die Belgierin Ann Trappers ist Sozialarbeiterin bei der Integrationsorganisation ›Foyer‹ im Brüsseler Bezirk Molenbeek-Saint-Jean, der in den vergangenen Jahren als Heimat oder Versteck islamischer Terroristen Bekanntheit erlangte. Trappers organisiert dort Schulunterricht und Sportprojekte für Roma.