Wir sind sozusagen die Flex‹. Mit diesem Satz löste im April 2020 der damalige Innenminister Karl Nehammer wenige Wochen nach Ausbruch der Covid-Krise Verwirrung aus. Der Sinn des Satzes war unklar und erschloss sich erst später: Die Polizei werde durch Befragung erkrankter Bürger die Infektionskette durchbrechen.
Drei Jahre später erntete Karl Nehammer, nunmehr Bundeskanzler, in einem ORF-Interview in der ZIB2 nach dem EU-Gipfel zur Asylpolitik in Europa erneut Unverständnis. Minutenlang erschloss sich der Sinn seiner Aussagen nicht. ›Jetzt sagen Kritiker, das Wort »Zaun« kommt nicht explizit vor, wir sagen, es kommt auch nicht das Nicht-Zaun-Bauen vor‹, kommentierte Nehammer die Abschlusserklärung. Er hätte auch sagen können: ›Wir sind sozusagen die Flex‹, mit der Österreich durch sein Schengen-Veto gegen Rumänien und Bulgarien die Migration durchbrechen will.
So aber ließ er sein Publikum ratlos zurück und gab dem Grübeln über sein Verhalten und die Politik der ÖVP neuen Auftrieb. Für den ersten Punkt dürfte die Antwort banal ausfallen: So aggressiv und persönlich angriffig wie in den letzten beiden ORF-Interviews kannte man Nehammer bisher nicht. Sein Nachfolger im Innenministerium Gerhard Karner und/oder sein neuer Kommunikationschef Gerald Fleischmann dürften Nehammer eingehämmert haben: Härte zeigen. Wenn die FPÖ mit Herbert Kickl als unbeliebtestem Politiker des Landes in den Umfragen an erster Stelle stehen kann, dann hat Nehammer mit gekünstelter Aggression noch Spielraum.
Auch der zweite Punkt lässt sich unschwer erklären. Die Vehemenz, mit der die ÖVP seit Herbst 2022 das Asylthema in der Öffentlichkeit platziert, wird intern wie extern mit dem nahezu verzweifelten Plan erklärt, die Route der Wähler von der ÖVP zur FPÖ zu schließen. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass die Volkspartei geradezu 1:1 Wähler an die Freiheitlichen verliert, dann lieferte ihn die Wählerstromanalyse der niederösterreichischen Landtagswahl.
Aus Panik vor weiteren Verlusten vergessen die Strategen in der ÖVP, dass selbst mit einem ›Zaun‹ gegen rechts die Flucht der Wähler nicht zu stoppen ist, weil die FPÖ mit den Emotionen der Wähler arbeitet und nicht mit vernünftigen Lösungen. Und dennoch versucht man es in der ÖVP-Zentrale immer wieder, zuletzt sogar mit unverständlicher Härte bei der Visaerteilung für Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei, die bei Verwandten in Österreich auf Zeit unterkommen könnten. Nehammer nahm in diesem Zusammenhang jüngst wieder das Wort von der ›Hilfe vor Ort‹ in den Mund. Ob er sich des Zynismus’ bewusst war?
Die große Regierungspartei könnte bis jetzt schon bemerkt haben, dass ganz andere Themen die Lebenswirklichkeit der Wähler ausmachen. Statt Zukunftskonzepte vorzulegen, bereits verwirklichte oder geplante Lösungen zu kommunizieren und die FPÖ inhaltlich bloßzustellen, will die ÖVP mit einem Härtewettbewerb Wähler von der Ab- oder Rückwanderung zur FPÖ abhalten.
Gleichzeitig (übrigens ein Lieblingswort Nehammers) schwingt man sich jetzt mit einer Versöhnungskommission auf die weiche Tour gegenüber den Corona-Maßnahmen-Gegnern ein – in der Hoffnung, die Hunderttausenden durchschauen das durchsichtige Spiel einer versuchten Rückholaktion nicht. Panik diktiert die Politik. Der ÖVP fehlt ein klarer Kopf. •
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