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Innenpolitik

Wie man jahrzehntelang über Österreich schreibt, ohne zynisch zu werden.

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Illustration:
Christoph Abbrederis
DATUM Ausgabe Juli/August 2019

Irgendwann schoss mir nach Jahrzehnten der Beobachtung nationaler und internationaler Politik folgender Gedanke durch den Kopf: Älter werden ist gut. Zynismus lässt sich mitunter nicht vermeiden. Alternde Zyniker jedoch sind unliebsame Zeitgenossen. Also musste – damals – ein Vorsatz her: Weiter mit Neugier und Interesse nach Antworten auf die Frage suchen: Wie ticken handelnde Personen in der Politik? Was immer die unterschiedlichen Rahmenbedingungen sein mögen, darauf kommt es an.

Das ist gar kein leichtes Unterfangen. Google wirft bei den Begriffen ›Politiker und Lügen‹ 6.690.000 Treffer aus. Daraus könnte man, wenn man denn so will, die Bestätigung der eigenen Vorurteile und die Begründung für das verheerende Image der in der Politik Tätigen – national wie weltweit – ablesen. Doch so einfach ist es nicht.

Nimmt man zum Beispiel eines der berühmtesten Zitate her, mit dem Politiker bei jeder passenden Gelegenheit konfrontiert werden, so wird klar, wie Verstärkung in der Politik wirkt: ›Was geht mich mein Geschwätz von gestern an‹, wird Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963, heute noch zitiert. Der Satz soll beweisen, dass ein Politiker eventuell heute die Wahrheit sagt und gestern gelogen hat oder umgekehrt; jedenfalls, dass man es in der Politik mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. 

Adenauer hat es aber so nie gesagt, sondern ›Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, nichts hindert mich, weiser zu werden‹. Das heißt, die Öffentlichkeit und wir Journalisten hören oft nur, was wir hören wollen, was zu dem eigenen Bild passt oder die eigene Argumentation stützt. Überprüfung findet nicht statt. Bestätigung ist das Zauberwort im Wechselspiel von Öffentlichkeit und Politik. Die Gesellschaft sucht Bestätigung durch die Politik, diese durch die Gesellschaft. Wenn beides in Übereinstimmung gebracht werden kann, spricht man von politischen Erfolgen. 

So musste der österreichische Bundeskanzler wider Willen von 1983 bis 1986, Fred Sinowatz, viel Häme für seinen Satz ›Es ist alles sehr kompliziert‹ ertragen, auch Jahre nach seinem Abschied aus der Politik. Nur, er ist in der Regierungserklärung von 1983 so nicht gefallen, sondern: ›Ich weiß, das klingt alles sehr kompliziert.‹ Niemand hätte in diesem Fall dagegen halten können. Zu diesem Zeitpunkt hatte Sinowatz aber bereits das Image, Bruno Kreiskys Sancho Pansa zu sein, dementsprechend nahm ihn die Öffentlichkeit genauso wenig ernst wie es offenbar auch Kreisky tat. Da wirkte ein Satz, der Hilflosigkeit signalisierte, eben verstärkend. 

Die Beispiele Adenauer und Sinowatz – stellvertretend für viele andere – haben eine Gemeinsamkeit: Die Verfälschung des Gesagten war nur bei mangelnder Kommunikation mit der Öffentlichkeit möglich, weil eben ausreichende Begründungen und das Ausleuchten der Hintergründe unterblieben sind. Heute würde man sagen, sie hätten eben die richtige ›Erzählung‹ gefunden. Ob das Modewort ›Narrativ‹ die Sache für die Öffentlichkeit verständlicher macht, muss bezweifelt werden. 

Politik, erfolgreiche zumal, funktioniert weitgehend nur über Identifikation; in Österreich mit seiner traditionell schwachen Zivilgesellschaft, die sich bis jetzt kaum als (Mit-)Spieler in allem Politischen verstanden hat, wahrscheinlich noch mehr als anderswo. So waren in den 70er-Jahren die Anwürfe von SPÖ-Chef und Bundeskanzler Bruno Kreisky gegen Israel sicher eines der Geheimnisse seines Erfolges. Sie wurden als antisemitisch wahrgenommen, wodurch sich ein Teil der Wählerschaft in seinem eigenen latenten Antisemitismus bestätigt fühlen konnte, während man ihn gleichzeitig abstreiten durfte. Wenn Bruno Kreisky als Jude über Juden von einem ›miesen Volk‹ sprechen konnte, dann können die Österreicher, die ähnlich denken, doch keine Antisemiten sein. Da war auch ein Element der ›Übertragung‹ beinhaltet. Kreiskys Konflikt mit dem Leiter des ›Dokumentationszentrums des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes‹, Simon Wiesenthal, um die SS-Vergangenheit des früheren FPÖ-Obmanns Friedrich Peter wurde 1975 von manchen Wählern auch als  ›Übertragung‹ der Verharmlosung der Nazi-Mitgliedschaft verstanden.

Ganz deutlich aber zeigten sich die ›Zutaten‹  Identifikation und Übertragung in der Politik in den Jahren des Aufstiegs von Peters Nach-Nach-Nachfolger, Jörg Haider. Dessen zunehmende Ausländerfeindlichkeit während und nach der Flüchtlingswelle aus dem kriegsgeschüttelten Ex-Jugoslawien lieferte weiten Teilen der Bevölkerung die Rechtfertigung der eigenen Ablehnung. Damals erhielt das Wechselspiel der gegenseitigen Bestätigung massenhaft Zulauf. Ähnliches ist seit einigen Jahren wieder verstärkt zu beobachten. Das lässt den Schluss zu, dass der Begriff Populismus in der Politik wahrscheinlich zu oberflächlich ist und zu kurz greift.

Die Öffentlichkeit und wir Journalisten hören oft nur, was wir hören wollen, was zu dem eigenen Bild passt oder die eigene Argumentation stützt. Überprüfung findet nicht statt.

In den Haider-Jahren von 1990 bis 2000 tauchte zusätzlich noch der immer stärkere Wunsch nach ›Übertragung‹ auf, der in dieser Vehemenz in den Jahren zuvor nicht erkennbar gewesen war. Er ist in Österreich der oben beschriebenen Schwäche der Zivilgesellschaft geschuldet: Wir lassen protestieren – gegen das verkrustete und auch tatsächlich erschöpfte System der rot-schwarzen Machtaufteilung mit all seinen Irritationen. Diese wurden für die Öffentlichkeit ab dem Ende der so genannten Gnadenpolitik sicht- und erlebbar. Jahrzehntelang waren die Österreicher daran gewöhnt, im Austausch gegen die Stimmen bei Wahlen für SPÖ und ÖVP Nutznießer in der Verteilungskette zu sein, die Gnade parteivermittelter Arbeitsplätze, Karrieren, Wohnungen et cetera zu empfangen. Mit der Krise der Verstaatlichten Industrie und den geänderten Rahmenbedingungen der Wirtschaft ist diese Kette abgerissen. Und die Schwächen des in Rot und Schwarz aufgeteilten Systems lagen plötzlich offen. Damit konnten die Vertreter der beiden Staatsparteien von Regierungs- bis zur Verbändeebene nicht wirklich umgehen. 

Ohne selbst auftreten zu müssen,  sahen immer mehr Österreicher in Jörg Haider das geeignete Double für ihren Protest. In der geheimen Wahlzelle ›übertrugen‹ sie ihm die Aufgabe, gegen das System, das sie nicht mehr ausreichend versorgen konnte, aufzutreten. So erklärte sich damals die überraschende Diskrepanz zwischen den Umfragewerten für die FPÖ und den tatsächlichen Wahlergebnissen. Sie waren meist besser als prognostiziert. 

Womit die Einsicht einhergeht, dass Lüge nicht nur ein Stilmittel der professionellen Politik ist, sondern auch von der Gesellschaft eingesetzt wird. Besonders frappant trat dies bei der Kärntner Landtagswahl 2004 zutage. In diesem Jahr hatte Haiders FPÖ auf Bundes­ebene schon die Turbulenzen der Regierungsbeteiligung, die Wahlniederlage 2002 und so manche irrationale Aktion Haiders hinter sich. Im Sommer 2003 beteuerten sogar frühere Haider-Fans, den Landeshauptmann nicht wählen zu wollen. Die Stimmung im Bundesland hatte sich dem Anschein nach geändert. Offenbar nur dem Anschein nach, denn Haiders FPÖ gewann 42,43 Prozent der Stimmen. Das ließ sich dann nur mehr mit Unehrlichkeit erklären.

Mangelnde Aufrichtigkeit und/oder Lüge ist aber bei weitem kein Merkmal der österreichischen Politik allein. Seit der Kandidatur Donald Trumps für die US-Präsidentschaft und erst recht seit seinem Einzug in das Weiße Haus gehören die Lüge, die Unwahrheit, die falschen Behauptungen zum Hauptmerkmal seiner Politik. US-Medien haben zuletzt errechnet, dass er von Jänner 2017 bis jetzt mehr als 10.000 Mal dieses Stilmittel eingesetzt hat. Geschadet hat ihm dies bis jetzt bei seinen Wählern nicht. Akribisch scheint sich Trump vor allem an eine der Regeln zu halten, die der umstrittene Politikberater Roger Stone aufgestellt hat: ›Leugne alles. Gib nie eine Lüge zu. Geh zum Gegenangriff über.‹

Die Fragen, die sich aus der offensichtlichen Wirksamkeit dieser politischen Methode immer wieder – und auch aus weniger bedeutenden Anlässen – ergeben: Warum tolerieren die Menschen das in einem demokratischen System? Und warum nutzen sie nicht die Mittel zur Abwehr? Woher kommt diese Toleranz für Lug und Trug? Die Bestätigung der eigenen Vorurteile, Politik sei, wie schon Johann Wolfgang von Goethe wusste, ›ein garstig Lied‹ allein kann es nicht sein. Hier kommt offenbar wieder der Identifikationsfaktor ins Spiel. Wer lügt denn nicht in seinem Leben? Die Lüge macht den Politiker zu einem Gleichgestellten. Und an seiner eigenen Lüge will ja auch niemand zu schwer tragen. Das heißt, wie jetzt in Zeiten der irrlichternden Gestalten in der Politik schon oft analysiert wurde: Politiker, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, werden nicht trotz ihrer mangelnden Moral gewählt, sondern genau wegen dieses Mangels. 

Auf österreichische Verhältnisse heruntergebrochen, ließe sich dies als Erläuterung dafür verwenden, warum seit Jahrzehnten keine Affäre, kein Skandal, keine Pleite je zu erkennbaren Konsequenzen bei dem nächsten Urnengang nach Auffliegen der Unregelmäßigkeiten geführt hat: Der Skandal um den Bau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses (AKH) in den 70er-Jahren hatte für die Wiener SPÖ so wenig wahltechnische Folgen wie die BAWAG-Pleite 2006 für die SPÖ im Bund. Dann der Geldkoffer-Vorfall in der ÖVP, die Konsum-Pleite, die Noricum-Affäre, der Lucona-Skandal, die Bank Burgenland, die Kommunalkredit und jetzt die Kostenexplosion beim Bau des Krankenhauses Nord, um nur einige zu nennen – all das bescherte jeweils einige Unannehmlichkeiten für den einen oder anderen Involvierten, aber keinerlei Sanktionierung durch die Wähler an den Urnen. 

So ist Politik eben. Ist sie so? In Österreich vielleicht. Das könnte mit zwei weiteren spezifischen Faktoren zu tun haben. Einerseits mit der Medienlandschaft, andererseits mit der Gleichgültigkeit jenem Regelwerk gegenüber, das die demokratische Ordnung festschreibt. Es gibt in Österreich keinen Verfassungspatriotismus, also keine emotionale Bindung an die Bundesverfassung, die erst in diesen turbulenten Tagen unvermittelt in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit – eher zufällig als gewollt – gerutscht ist. Mehr noch: Politik und Bevölkerung haben sich eine Hintertür gezimmert, durch die sie problemlos zur so genannten Realverfassung ausweichen können.  Der Gewöhnungseffekt, mit dieser Realverfassung alle zweifelhaften Strukturen und politischen Mechanismen zu entschuldigen, bestimmt über weite Strecken das politische Geschehen. 

In der Medienlandschaft fokussiert sich die Politik seit jeher auf den Boulevard, jahrzehntelang eben auf die Kronen Zeitung, und jetzt mehr und mehr auf die Gratisprodukte – immer auch mit Blick auf den öffentlich-rechtlichen ORF. Er ist seit Bruno Kreiskys Gegenreform 1975 zum Spielball der jeweiligen Regierungen geworden. Eine Solidarisierung der Gegenkräfte, wie sie 1967 mit dem Volksbegehren für einen unabhängigen Rundfunk stattgefunden hat, gab es seither nicht – und ist in der neuen Medienlandschaft auch nicht zu erwarten. 

Das hat zur Folge, dass die Qualitätsmedien über die Jahrzehnte hinweg jede Menge ›Trostpreise des Lebens‹ eingeheimst haben. So nennt man doch die Genugtuung, Recht gehabt zu haben? Wirklich Eindruck auf die politischen Akteure hatten und haben sie damit aber nicht gemacht. Noch vor Ausbruch des Zeitalters der wohlfeilen Prognosen, also noch in der Phase der klassischen Berichterstattung, waren politische Entscheidungen wie die verfehlte Wirtschaftspolitik der späten Kreisky-Jahre tagein, tagaus thematisiert worden. Die damalige SPÖ-Alleinregierung oder die spätere rot-blaue Koalition blieben unbeeindruckt.  Als die Verstaatlichte Industrie unter einem Berg von Schulden zusammenkrachte und tausende Arbeitsplätze verloren gingen, hatten sich alle Warnungen bewahrheitet. Allein, davon profitierte niemand mehr. Vielleicht auch deshalb verzichten Journalisten seit geraumer Zeit immer öfter auf den ›Trostpreis des Lebens‹ und verlegen sich auf Vorhersagen. Nur, diese stellen sich ebenso immer öfter als falsch heraus.

Eine gültige Antwort, wie Politik-Macher unter den jeweiligen Rahmenbedingungen ticken, lässt sich offenbar nicht finden. So bleibt alles bei einem Annäherungsversuch. Damit muss man sich zufrieden geben, Neugier und Interesse wach halten. Damit kein alternder Zyniker aus einem wird. •