Iranische Ausdauer

Wie in den Köpfen der Menschen ein neues Land entsteht.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe September 2023

Bilanzen haben etwas Steriles. Diese kalte Gegenüberstellung von Etwas und Nichts. Ein klares Schwarz-Weiß. Ohne Raum für Grautöne. Würde man Bilanz ziehen wollen, was sich im Iran ein Jahr nach dem Tod von Mahsa Jina Amini am 16. September verändert hat, ist auf den ersten Blick mehr auf der Seite des Nichts als auf jener des Etwas. Die feministische Protestbewegung hat die Islamische Republik nicht zu Fall gebracht. Das Regime steht noch. Keinen Zentimeter ist es gewichen. Kein einziges Zugeständnis hat es gemacht. Es hat so reagiert, wie es immer reagiert, wenn die iranische Bevölkerung aufbegehrt: mit purer Gewalt. In den vergangenen zwölf Monaten hat diese ein neues Level erreicht: Hinrichtungen, Angriffe auf Kinder in Schulen, Schüsse auf Augen und Genitalien von Protestierenden und Gesetzesverschärfungen, die nur eines signalisieren: Ihr könnt noch so oft ›Frau, Leben, Freiheit‹ brüllen, wir geben nicht nach. Kein einziges sichtbares Haar erlauben wir auf Frauenköpfen, alles werden wir euch nehmen: eure Geschäfte, eure Arbeit, euer Studium, eure Autos, euer Vermögen, euer Leben. Mahsa Jina Amini war nur der Anfang. 

Das ist eine Art, diese Bilanz aus einem Jahr iranischer Protestbewegung zu lesen. Aber es gibt auch eine andere. Eine, die sich für Beobachterinnen von außen nicht sofort erschließt. Eine, die später in Geschichtsbüchern studiert werden wird, als der Weg jener Menschen, die sich gegen ein Regime mit Ausdauer gewehrt haben. Wie sie trotz allem weitergemacht haben. Wie es in manchen Vierteln großer Städte zur Normalität geworden ist – trotz allem –, dass Frauen ohne Hijab auf die Straßen gehen, in Cafés sitzen, U-Bahn fahren. Dass es Normalität geworden ist, dass jene, die sie dafür zurechtweisen, fotografieren, anzeigen, beschimpfen oder angreifen wollen, von anderen beschimpft, fotografiert, angegriffen und vertrieben werden. Wie sich eine neue Solidarität entwickelt hat, eine, die sich in noch nie dagewesenem Ausmaß intersektional begreift. Eine Protestbewegung, die sich zum ersten Mal den jahrhundertelangen Verletzungen marginalisierter Gruppen stellt und diese Menschen als Speerspitze des aktuellen Widerstands anerkennt.

Wie in einer Diktatur ein Nation Building in den Köpfen begonnen hat, das ein neues ›Wir‹ definiert. Eines, das niemanden zu Menschen zweiter Klasse machen will. Eines, das ein Land neu denkt. Auch eine engagierte Diaspora fühlt sich dieser Vision verpflichtet. Es ist spannend zu beobachten, wie die Kinder der ersten und zweiten Generation der exilierten Iranerinnen beginnen, plötzlich die Sprache ihrer Eltern zu lernen und sich zum ersten Mal intensiv mit deren Biografien auseinanderzusetzen. Denn auch sie begreifen es als ihre Aufgabe, diesen neuen demokratischen Staat, der bislang nur als Luftschloss existiert, eines Tages Realität werden zu lassen. Mit einer Hartnäckigkeit, die ihresgleichen sucht, nehmen sie die internationale Gemeinschaft in die Pflicht, wenn sie beim Austausch von Geiseln zu viele Zugeständnisse gemacht hat, zu oft noch Irans Machthabern den roten Teppich ausrollt, zu selten von internationalen Strafverfolgungsmöglichkeiten Gebrauch macht, um Irans Verbrecher gegen die Menschlichkeit auch im Ausland vor Gericht und im besten Fall hinter Gitter zu bringen.

Ein Regime zu Fall zu bringen, geht schneller, als eine demokratische Kultur aufzubauen. Sie in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern. Im Iran ist das passiert. Trotz allem. Auch das ist Teil dieser Bilanz. Für Irans Machthaber der Gefährlichste. Für die iranische Bevölkerung der Wichtigste. Denn darauf lässt sich eine Zukunft bauen. •

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