›Kiew wird leben‹

Putins Krieg, Europas Antwort und die Zukunft des Kontinents: Ein Gespräch mit dem ehemaligen tschechischen Außenminister Karl Schwarzenberg.

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Fotografie:
Ursula Röck
DATUM Ausgabe Mai 2022

Lieber Karl Schwarzenberg, vor ungefähr fünf Jahren sind wir einmal gemeinsam in Kiew bei der Buchwoche auf einem Podium gesessen. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass passiert, was jetzt passiert?

Schwarzenberg: Nein. Ich habe zwar immer ein tiefes Misstrauen gegenüber Putin gehabt. Das gebe ich zu. Aber weil er doch immer rational gewirkt hat, bis zu seiner Ansprache vor einigen Wochen, wo es so emotionell aus ihm herausgeplatzt ist, habe ich erst da Befürchtungen bekommen. Bis dahin dachte ich, er sei viel zu vernünftig, um einen Krieg anzufangen, der Russland nichts bringen kann.

Das habe ich auch gedacht. Bis zuletzt, als er schon die Truppen an der ukrainischen Grenze zusammengezogen hatte, habe ich gedacht, er wird allerhöchstens die Ostukraine annektieren.

Schwarzenberg: Ich habe mit Erpressungsmanövern gerechnet, aber nicht mit einem Krieg. Ich wusste immer, dass es Putin vor allem um die Küste zwischen Mariupol und Odessa geht.

Aber denken Sie nicht, dass es seine eigentliche Intention ist, Großrussland wieder aufzubauen?

Schwarzenberg: Naturalno. Selbstverständlich. Schauen Sie, man soll nie falsche Parallelen ziehen, aber ähnliche Situationen produzieren ähnliche Denkweisen und ähnliche Resultate. So wie nach dem Ersten Weltkrieg, als Deutschland Gebiete verloren hat, im Osten zum Beispiel an Polen. Die damalige deutsche Generation hat dafür gearbeitet, diese Gebiete zurückzubekommen, was leider zu Hitler geführt hat.

Dasselbe passiert jetzt. Putins Argumentation erinnert mich frappant an jene Hitlers bezüglich Österreichs. Österreich sollte keine selbstständige Nation sein, und die Ukraine soll jetzt keine selbstständige Nation sein. Es gibt so viele unheimliche Parallelen, das ist ziemlich interessant.

Ich werde immer wieder gefragt: Wie kann das weitergehen, wie kann das ausgehen? Haben Sie irgendeine Idee?

Schwarzenberg: Ich glaube, das wird weitergehen, bis beide erschöpft sind. (denkt kurz nach) Es wird einiges kosten …

Was heißt das für Europa? Dieser Krieg.

Schwarzenberg: Also bisher hat er – außerhalb der Ukraine natürlich – positive Auswirkungen! Geben wir das doch ehrlich zu. Die NATO hat sich besonnen, die europäischen Völker sind zusammengerückt, die Deutschen haben ihre Illusionen über Russland aufgegeben. Bisher, so muss ich fast zynisch sagen, sind die politischen Auswirkungen auf Europa ziemlich positiv!

Aber glauben Sie, dass es langfristig so positiv bleibt?

Schwarzenberg: Na ja, es gibt ja schon jetzt Leute, die fragen: Warum sollen wir unseren Wohlstand der Ukraine opfern, warum sollen wir zehntausende Menschen bei uns aufnehmen, wie kommen wir dazu? Das wird selbstverständlich nach einiger Zeit beginnen. Umgekehrt aber: Solange der Krieg währt, kommen die Menschen doch zum Nachdenken.

Wird sich in der europäischen Politik wirklich etwas ändern gegenüber Putin?

Schwarzenberg: Ich glaube ja. Sehen Sie zum Beispiel die neue deutsche Ostpolitik unter Willy Brandt. Seit damals sagte man sich, die wesentliche Schuld am schlechten Verhältnis zu Russland liegt an uns, weil wir den Zweiten Weltkrieg angefangen haben und so weiter, und die Russen sind völlig normale, freundliche Leute, wir müssen schauen, dass wir ein normales Verhältnis zu ihnen bekommen. Das war der deutsche Standpunkt. Jetzt kommen sie drauf, dass dieses Regime eben nicht normal ist. Dass es da einen genauso scheußlichen Diktator gibt wie einige vor ihm es waren. Diese Erkenntnis ist zwar teuer erkauft. Aber es ist gut, dass sie vor einem noch größeren Konflikt erfolgt.

Glauben Sie nicht, dass es zu einem ganz großen Konflikt kommen wird?

Schwarzenberg: Ich habe meine Zweifel, angesichts des geringen Erfolges, den die russische Armee derzeit in der Ukraine vorzuweisen hat. Ich hätte gedacht, dass die russische Armee in besserem Zustand ist. Aber das hat sich wahrlich als Illusion erwiesen.  

Das heißt, Russland kann gar keinen größeren Konflikt anfangen?

Schwarzenberg: Wahnsinnig kann man immer werden …

Wie war das für Sie, als Sie die schon erwähnte Rede von Putin gehört haben?

Schwarzenberg: Faszinierend. Mich haben zwei Sachen interessiert. Zum einen, dass dieser immer sehr kühl auftretende Herrscher von Emotionen gebeutelt schien. Zum zweiten, dass einige der engsten und wichtigsten Mitarbeiter offensichtlich keine Ahnung hatten, was er da vorhat. Denn die Erschütterung des Chefs des Geheimdienstes und meines einstigen Kollegen Sergei Lawrow war zu sehen. 

Also was Lawrow betrifft, der war doch einmal ein halbwegs vernünftiger Mensch?

Schwarzenberg: Das ist er auch. Er ist eben ein treuer Diener seines Herrn. Entschuldigen Sie, die Generation meiner Eltern hat das ja auch mitgemacht. Die kannten auch Deutsche, die sie für sehr vernünftig und hochgebildet gehalten haben, und plötzlich …

Für Lawrow ist der Dienst das Wichtigste, das ändert nichts daran, dass er hochintelligent ist. Wissen Sie, als tschechischer Außenminister musste ich ja jeden Herbst nach New York zur UNO-Vollversammlung fahren. In dieser einen Woche, wo man versuchte, alle zu treffen, gab es ein Mittagessen der Außenminister der Europäischen Union mit Sergei Lawrow. Ich war das erste Mal Mitglied dieses erlauchten Klubs und habe daher mein Maul gehalten und nur zugehört. Und dann war das nach zwei Stunden vorbei und man ging hinaus. Draußen hat mich meine Kabinettschefin erwartet, die jetzt Botschafterin in Brüssel ist, und hat gefragt: ›Wie war es?‹ Und ich hab gesagt: ›Wie wenn Maradona gegen die Auswahl von Wulkaprodersdorf spielt.‹ (lacht) Ich hab natürlich einen entsprechenden tschechischen Club genannt. Aber es war wirklich faszinierend zu sehen. Denken Sie nur, wie geschickt er Briten und Franzosen samt Amerikanern aus Syrien rausgebracht hat … und die russische Vorherrschaft aufgebaut hat mit der Türkei in einer Nebenrolle … Respekt. Nicht, dass ich davon begeistert war. Ich habe meine lieben Kollegen vor diesen Aktionen in Syrien gewarnt, das hat nicht geholfen. Aber wie Lawrow das gemacht hat – er ist ein wirklicher Könner.

Das ist er sicher. Ich habe ihn und Putin eigentlich immer für sehr rational handelnde Personen gehalten. Ich habe auch immer gesagt: Die können keinen Krieg gegen die ganze Ukraine beginnen, weil die Ukraine Widerstand leisten wird bis zum letzten Mann.

Schwarzenberg: Das ist etwas, das wir aus unserer österreichischen Geschichte kennen: So wie Hitler den Kaiserschnitt durchgeführt hat, durch den die österreichische Nation letztlich endgültig bestätigt wurde, so hat Putin jetzt den Kaiserschnitt – auch sehr blutig – bezüglich Russland und der Ukraine durchgeführt. Wobei sich bis zur Annexion der Krim viele Ukrainer als Russen begriffen haben.

Und jetzt sagen selbst die Ukrainer, die russischsprachig sind, dass sie Ukrainer sind. Als wir beide damals bei der Buchwoche in Kiew waren, bin ich mit einer jungen Frau, die mich begleitet hat, durch Kiew gegangen. Und ich hab damals gedacht, wie schön und fröhlich diese Stadt doch ist. Viele nette junge Menschen auf der Straße, die weltoffen sind, jeder zweite spricht Englisch. Das ist jetzt alles wohl kaputt …

Schwarzenberg: Nein, das ist nicht kaputt. Kiew wird leben. Ja, es wird einiges zerstört und zerschossen werden, aber Kiew wird eine fröhliche, weltoffene Stadt bleiben.
Weil sich die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten sehr ver­ändert hat. Ich erinnere mich noch, als ich vor ungefähr 35 Jahren zum ersten Mal nach Kiew gekommen bin. Der erste Eindruck war dieses riesige, aus rotem Granit errichtete Lenin-Denkmal. Das hat mich damals am meisten beeindruckt.

Als das alles losgegangen ist, habe ich so bei mir gedacht, ich werde wohl nie wieder nach Moskau fahren können und wahrscheinlich auch nicht nach Kiew. Das verändert schon gerade die Welt ganz massiv.

Schwarzenberg: Ja sicher. Aber die Leute haben es gern, sich umzubringen. Wir haben zu lange keinen Krieg gehabt, das hat uns gefehlt. 

Früher oder später wird es doch wohl einen Boykott der Gas- und Öllieferungen geben müssen, oder?

Schwarzenberg: Also ich glaube, wir werden es nicht so weit kommen lassen. Ich habe den Eindruck, dass die neuen Boykottmaßnahmen zu wirken beginnen. Wie lange Russland das aushalten kann, ist mir nicht ganz klar. 

Aber werden sie dadurch nicht noch brutaler, noch rabiater werden in diesem Krieg?

Schwarzenberg: Vielleicht, aber das wird nicht helfen.

Wird dieser Krieg das Ende Putins einläuten?

Schwarzenberg: Ja, das ist das Ende Putins, aber man weiß nicht, wie lange dieses Ende noch dauern kann.

Für wie groß halten Sie die Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb des Kremls zu einem Putsch gegen Putin kommt? 

Schwarzenberg: Der KGB ist eine andere Organisation als der deutsche Generalstab. Die KGB-Offiziere sind nicht Stauffenberg und Co. Da ist der Geist des selbstständigen Widerstandes etwas schwächer. Ob sie also fähig sind, so etwas zu tun, das weiß ich nicht. Es gibt verschiedene Varianten. Wenn ich bereit bin zu sterben, kann ich ein Attentat machen, das wird dann auch funktionieren. Die deutschen Generalstäbler hatten moralische Ideen und wollten Deutschland retten. Aber bei einem Attentat muss der Attentäter bis zum Schluss dableiben, um sicherzugehen, dass es auch funktioniert. Das haben sie damals beim Attentat auf Hitler nicht berücksichtigt. 

Wissen Sie, im 19. Jahrhundert war die Situation in Russland eine andere. Inzwischen ist das Regime noch härter geworden, der geistige Widerstand wurde vertrieben. Der französische Botschafter am Zarenhof schrieb nach der Krönung von Zar Alexander dem Ersten: Vor ihm gingen die Mörder seines Großvaters, begleitet wurde er von den Mördern seines Vaters, und hinter ihm gingen seine eigenen Mörder. Aber das war Russland vor 200 Jahren. Es war auch bei Stalin so – bevor er nicht krank wurde, hat sich keiner getraut, ihm zu widersprechen. 

Was denken Sie über die unheilige Allianz zwischen Putin und der extremen Rechten in Europa?

Schwarzenberg: Na ja, das ist die Attraktion des starken Mannes.

Okay, das habe ich mir auch gedacht. Aber was hat er eigentlich davon?

Schwarzenberg: Verbündete. Er kann auf verschiedenen Schachbrettern spielen. Einerseits hat er den Großteil der Kommunisten übernommen, und gleichzeitig die Gegner. Mit beiden kann er spielen. Und er hat auf diese Art viele nützliche Idioten. 

Als ich noch Korrespondentin in Moskau war, hat man mir immer wieder vorgeworfen, ich sei so böse, ich sei eine Russ­land­hasserin, und das tatsächlich von beiden politischen Seiten.

Schwarzenberg: Ja, wenn man realistisch war – mich haben die Russen auch beschuldigt. (Auf Russisch:) Ja lublju Rossiju. (Ich liebe Russland.) 

Es ist eine wunderschöne Sprache. Eine herrliche Musik. Eine wunderbare Literatur. Alles mögliche. Nur leider, ihre Herrscher … Mein Vater hat perfekt Russisch gesprochen und hat mich in dieser Liebe zur russischen Kultur erzogen.

Ich bin auch so aufgewachsen, deshalb trifft mich das sehr, wenn man mir unterstellt, ich würde Russland hassen.

Übrigens am Rande: Die Impfgegner, die bekommen auch Unterstützung aus dieser Ecke …

Schwarzenberg: Aber natürlich, Putin muss jeden unterstützen, der Unruhe im Ausland stiftet. Und wenn man beim Geheimdienst gearbeitet hat, weiß man, einen von hundert Leuten könnte man als Agenten gewinnen. 

Ist das die Erklärung für den massiven Rechtsruck heute in Europa?

Schwarzenberg: Ich glaube, er ist unabhängig davon. Ich glaube, das sind Wellen. Es gibt Zeiten, wo Links in Mode ist, und Zeiten, wo Rechts in Mode ist. Lange Röcke, kurze Röcke … Ich glaube, Putin hat damit wenig zu tun. Aber er nutzt die Lage.

Kann es irgendwann wieder eine vernünftige Gesprächsbasis geben? Mit ihm oder auch mit jemand anderem in Moskau?

Schwarzenberg: Solange er an der Macht ist, muss man mit ihm reden. Nicht, dass ich mein Misstrauen gegen ihn aufgeben würde, aber reden muss man mit ihm. Das ist das ABC der Außenpolitik. 

Halten Sie die Ausweisung russischer Diplomaten für richtig?

Schwarzenberg: Aber ja, die Anzahl der Spione zu reduzieren, ist immer gut. Die Erfahrungen damit sind gut.

Ich habe immer gedacht, es ist besser, man behält die Spione, die man schon kennt, als es kommen neue, die man nicht kennt. In jedem Fall aber hat man den Eindruck, dass Putin die Europäische Union nie ernst genommen hat.

Schwarzenberg: Warum sollte er? 

Er hat doch eigentlich immer nur mit Berlin oder Paris geredet, manchmal noch mit London. Aber wir hier in Österreich waren nur zum Skifahren gut.

Schwarzenberg: Nein, nein. Österreich hat seit den 50er-Jahren, seit dem Staatsvertrag, die Rolle zu zeigen, wie großzügig Russland mit kleinen Staaten umgeht. Österreich hat an der selbstbehaupteten Neutralität hervorragend verdient. 

Wie, glauben Sie, wird sich Europa nach dieser Krise weiterentwickeln?

Schwarzenberg: Ich bin kein Prophet. Ich kann nur hoffen, dass der Zusammenhalt noch eine Weile hält und dass das vielleicht die ersten Schritte zu einer Entwicklung sein könnten, nach der man Europa ernst nehmen kann! Jetzt kann man das nicht.

Darf ich Sie noch fragen, wie Sie angesichts der jetzigen Situation die Entwicklung in den USA einschätzen?

Schwarzenberg: Das wird sich jetzt entscheiden. Wenn diese ganze Auseinandersetzung letztlich mit einer Niederlage Russlands endet, dann wird der amerikanische Präsident groß dastehen in der Geschichte. Wenn es aber schief geht, fürchte ich, wird die Entwicklung sehr negativ sein. 

Biden hält sich ja sehr zurück.

Schwarzenberg: Gott sei Dank.

Trotzdem gibt es dieses Narrativ, dass hinter diesem Krieg die NATO und die USA stehen.

Schwarzenberg: Es ist unglaublich, wie viele Leute das wirklich glauben. Das ist natürlich Blödsinn.

Was kann man dagegen tun? 

Schwarzenberg: Wie hat Albert Einstein gesagt? ›Es gibt zwei Dinge, die unendlich sind. Das Universum und die menschliche Dummheit. Beim Universum habe ich noch gewisse Zweifel.‹ (lacht)

Ich wollte Sie noch fragen, was es mit der Wand hinter dem Denkmal für die bei der Befreiung Wiens gefallenen sowjetischen Soldaten am Wiener Schwarzenbergplatz auf sich hat. Diese Wand ist die Außenwand des Palais Schwarzenberg, und die ist seit Kurzem in den ukrainischen Farben gestrichen.

Schwarzenberg: Das hat löblicherweise mein Sohn gemacht. Nicht ich. Gott sei Dank, der Apfel fällt nicht weit vom Rosse, ich werde nicht behaupten, dass ich diese glorreiche Idee gehabt hätte. 

Es war ja immerhin die ›ukrainische Front‹, die Österreich befreit hat.

Schwarzenberg: Ja, die meisten Soldaten waren Ukrainer.

Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich für dieses Gespräch Zeit genommen haben.

Schwarzenberg: Es war mir eine Freude, mich mit Ihnen zu unterhalten. Doswidanja. •

Er ist als profunder Kenner ­Osteuropas und der osteuro­päischen Geschichte bekannt: Karl Schwarzenberg war Bürochef von Václav Havel, zwei Mal tschechischer Außenminister und viele Jahre lang Parlamentarier in unserem Nachbarland. Seit 30 Jahren ist Prag sein Hauptwohnsitz. Schwarzenberg reist aber nach wie vor viel und hat in Wien seinen Zweitwohnsitz im Seitentrakt des Palais Schwarzenberg, das gerade großräumig umgebaut wird. Dort traf ihn die Journalistin und Autorin ­Susanne Scholl, die lange Jahre als ­Auslandskorrespondentin des ORF aus Moskau berichtete, zu einem ­lebendigen Austausch auf Augenhöhe.

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