Im einzigen alternativen Musik- und Kulturklub Odessas spiegeln sich Hoffnungen und Enttäuschungen der ersten Generation, die in einem freien und unabhängigen Land aufwuchs.
Seinen Eltern sei er heute noch dankbar, sagt der Mann mit den blond gefärbten Haaren und den Tätowierungen, die ihm buchstäblich bis zum Hals stehen. Weil sie ihm nie unnötige Vorschriften gemacht hätten und ihn immer tun ließen, was er wollte. Selbst als er sich zum neunten Geburtstag einen Irokesenschnitt wünschte, hatten sie damit kein Problem: ›Was soll ich sagen? Ich surfe auf der Punk- und Hardcore-Welle, seit ich denken kann.‹ Das mit dem Surfen meint er durchaus wörtlich. Wenn es die Wellen des Schwarzen Meers hergeben, und das sei ›das ganze Jahr über, außer im Sommer‹, steht er oft täglich um vier Uhr morgens am Strand und schmeißt sich auf sein Brett. Die Kälte macht ihm und seinen Freunden nichts aus. ›Wir sind keine Poser. Manchmal kommen ein paar verwöhnte Buben und Mädels aus gutem Haus vorbei, die bei uns Mitglied werden wollen. Aber die sehen wir in der Regel nur einmal‹, sagt Denis und grinst: ›Odessa City Surf Crew gibt’s halt nur eine.‹
Denis ist ein Kind der ukrainischen Hafenstadt. Er ist 38 Jahre alt, hier geboren, aufgewachsen und zur Schule und Universität gegangen. Obwohl er in seinem Leben schon viel herumgekommen ist, in Europa, in den USA, in Asien, kann er sich nicht vorstellen, woanders zu leben. ›Es ist ein guter Ort. Er lässt Dinge zu, die anderswo nur schwer oder gar nicht möglich wären.‹ Für seine These dient der Absolvent der hiesigen Hochschule für Welthandel quasi als lebender Beleg. Denis ist, in beliebiger Reihenfolge, Surfer, Grafikdesigner, Skater, Manager und Sänger. Neuerdings arbeitet er auch als Spendenkeiler. Denis hilft, Geld für die Soldatinnen und Soldaten der Ukraine einzusammeln. Ein Surfpunk als Gönner des Militärs? ›Tja, so sind die Zeiten. Ich hätte mir das auch nicht träumen lassen. Aber die Situation lässt nichts anderes zu.‹ Sagt’s und schiebt eine so simple wie unzweideutige Botschaft nach, die seine Motivation unterstreicht: ›Fuck Putin‹.
Odessa im Frühjahr 2022, das ist ein Leben in der Grauzone. Einerseits stehen die Menschen, die die Stadt bisher nicht verlassen haben – nach offiziellen Schätzungen bis zu einer halben Million, die Hälfte ihrer Bevölkerung – mitten im Krieg und im Zentrum seiner Folgen. Andererseits sind sie von seinen schlimmsten Auswüchsen bisher weitgehend verschont geblieben. Während kein Tag vergeht, an dem nicht mindestens einmal die Sirenen heulen, die einen Raketenangriff der Schwarzmeerflotte ankündigen, gab es in Odessa bisher vergleichsweise wenige Todesopfer und Verletzte zu beklagen. Wenn man in einem der wenigen offenen Innenstadt-Cafés sitzt und bei Cappuccino, Zitronenkuchen und stabilem W-LAN die Online-Ausgaben der Zeitungen liest, könnte der Krieg manchmal kaum weiter weg erscheinen. Die Illusion der relativen Sicherheit zerbricht nicht nur dann regelmäßig, wenn der Luftalarm einsetzt und der Lärm und der nach verbranntem Plastik riechende Schweif der russischen Raketen die Idylle zerstört.
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