Knapp daneben

Yasuyoshi Chiba war in Kiew, als dort im Oktober die ersten ›Kamikaze‹-Drohnen detonierten. Der Fotograf erzählt die Geschichte hinter einem Bild, das um die Welt ging.

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Fotografie:
YASUYOSHI CHIBA/AFP/picturedesk.com
DATUM Ausgabe November 2022

Ein Montagmorgen, Mitte Oktober in Kiew: Yasuyoshi Chiba wird durch eine Detonation geweckt. Es ist 6:45 Uhr, als er seinen Kopf aus dem Hotelfenster streckt. Im fahlen Licht der Morgendämmerung sieht er schwarzen Rauch aufsteigen. Eine Rakete, so denkt er erst. Tatsächlich handelt es sich um eine von fast 30 ›Kamikaze‹-Drohnen, mit denen die russischen Angreifer an diesem Morgen die ukrainische Hauptstadt attackieren.

Zu diesem Zeitpunkt ist Chiba bereits seit fünf Wochen in der Ukraine, um Bilder von Putins Krieg zu machen. Eigentlich sei er für die Region Ostafrika und Indischer Ozean zuständig, erzählt der 51 Jahre alte Chef-Fotograf der französischen Nachrichtenagentur AFP eine knappe Woche später. Der Gewinner des World Press Photo Awards 2020  bezeichnet sich selbst nicht als Kriegsfotograf. Trotzdem hat ihn AFP seit dem 24. Februar schon das zweite Mal in die Ukraine geschickt. ›Ich wollte das auch‹, sagt Chiba via Zoom.

Wäre er nicht Fotograf, hätte Chiba die Stunden nach der ersten Explosion vermutlich in einem Luftschutzkeller verbracht. Stattdessen geht er raus auf die Straße. Mit Schutzhelm auf dem Kopf und kugelsicherer Weste um die Brust läuft Chiba 20 Minuten lang zu Fuß in Richtung Rauch. Als er am Ort der ­Detonation eintrifft, hat die Polizei bereits die Straße rund um den Einschlagsort abgesperrt. 

Der Angriff dürfte dem Wärmekraftwerk ›Kyiv CHP-3‹ gegolten haben, das einen Eisenbahnknotenpunkt, aber auch Wohneinrichtungen der Stadt mit Energie versorgt. Doch keine der Drohnen hat ihr Ziel getroffen. Stattdessen haben sie in einem Radius von hundert Metern rund um das Kraftwerk ­ein­geschlagen. Im Zentrum Kiews.

Yasuyoshi Chiba schnappt seine Kamera und versucht, die Flammen der Explosion von einer Seitenstraße zu fotografieren. Als er gerade die ersten Fotos geschossen hat, rast ein heller Blitz über ihn hinweg. Chiba versteckt sich hinter einem Auto, fokussiert und drückt ab. Dabei erwischt er eine der Drohnen, die ­Experten später als das iranische Modell ­Shahed-136 identifizieren werden. Sie verfehlt das Kraftwerk und detoniert nur hundert Meter neben ihm. 

Dabei geht ein Mann zu Boden, den Chiba erst beim nachträglichen Sichten der Bilder wahrnimmt. ›Hätte ich den Mann am Foto ­früher gesehen und er wäre verletzt gewesen, hätte ich ihm natürlich geholfen‹, sagt er. So weit er wisse, sei bei der abgelichteten Szene aber niemand körperlich zu Schaden gekommen. Durch andere Drohnenangriffe am selben Tag sehr wohl. 

Laut Angaben der Stadt Kiew wurde auch ein Wohnhaus getroffen. Dabei seien vier Menschen gestorben, teilte Bürgermeister ­Witali Klitschko noch am selben Tag mit – unter ihnen ein junges Paar und ihr unge­borenes Kind.

Auch die Gefahr für Fotografen wie Yasu­yoshi Chiba ist in diesem Krieg besonders groß. ›Das liegt vor allem daran, dass wir ­vonseiten des Schwächeren berichten‹, sagt er, ›bisher fand unsere Berichterstattung fast immer unter dem Schutz von Staaten wie Frankreich oder den USA statt, die gegen ­Terroristen oder klar unterlegene Gegner kämpften.‹ Deswegen müssten Fotografen in der Ukraine noch ­vorsichtiger sein als sonst. Yasuyoshi Chiba ist sich dessen bewusst, ›ich würde dennoch jederzeit zurückfliegen und Bilder schießen‹. •

 

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