Krethi, Plethi und Herr Anschober
Oder: Warum ich dem Hohen Gericht nicht Kafkas Werke schenken darf.
Für eine Veranstaltung hatte der Verein Concordia den ganzen Versammlungsraum des Parlaments gemietet. Alle waren da, um nicht zu sagen: Krethi und Plethi waren da. Dazu befrage ich das Lexikon: ›»Krethi und Plethi« bezeichnete im Alten Testament die Leibwache von König David, die aus zwei Söldnergruppen bestand.‹ Das war einmal, im Deutschen von heute bezeichnen Krethi und Plethi: alle möglichen Leute – in einem leicht abschätzigen Ton, auf den man aufpassen muss, wenn man selbst mitten unter ihnen erschienen ist.
Im Parlament hatte ich eine Erscheinung, nämlich von einem Herrn, der sich namentlich vorstellte: ›Anschober.‹ Es entspann sich (k)ein Dialog: ›Aha, sind Sie der ehemalige Gesundheitsminister Anschober?‹ – ›Ja‹, sagte er, und ich darauf, ›wie aus der Pistole geschossen‹: ›Ich mag Sie nicht.‹ Darauf er: ›Komisch – das sagen viele Leute.‹ Ich weiß nicht, war’s schlagfertig, war’s nachdenklich oder war’s nur eine ehrliche Antwort. Dass es all das gewesen sein könnte, spricht sehr für den Sager.
Anschober war in der Zweiten Republik Österreich einer der wenigen Menschen, die mir etwas angetan haben. Ich lag im Pflegeheim Wien-Meidling, und da war zuerst nichts und dann nichts und dann nichts und wieder nichts. Alle machten bedenkenlos auf ›normal‹. So hatte das Corona-Virus Zeit, sich voll zu entfalten. Eines Tages kamen sie in Plastikschürzen und Badehauben, schoben unsere Betten auf den Gang hinaus und desinfizierten unsere Zimmer.
Für die Zeitangabe ›spät, aber doch‹ war es schon zu spät, und klar, niemand wusste, wie man mit dem Virus umgehen sollte. Im Fernsehen hielt der grüne Gesundheitsminister pfäffische Reden – na gut, was hätte er schon sagen sollen? Aber dann wurde über das Pflegeheim die Totalquarantäne verhängt: kein Besuch, niemand durfte rein, auch die Physiotherapeutinnen nicht, die mich, der ich nicht mehr gehen konnte, schon auf den Weg gebracht hatten.
Unter Anschober fiel ich auf meine Immobilität zurück, na gut, mein Problem, aber was nicht allein mein Problem war, war das Politische: Die haben nicht eine Sekunde daran gedacht, was für die Alten und Gebrechlichen, für die Halbtoten und gerade noch Lebendigen, für die Dementen und auf ewig Schmähstaden – was für uns die totale Isolation bedeutete. Komisch, dass ich den Minister von damals nicht mag, denn die Tatsache ist ja zum Lachen, dass auch er nichts dafür kann, weil er ja bloß in der vaterländischen Regierung den falschen Posten innehatte, dem er auch physisch nicht gewachsen war. Ich schäme mich dafür, dass ich ihn seinerzeit einen ›Burnout auf zwei Beinen‹ genannt habe.
Unlängst bat ich meine Heimhilfe, etwas leiser zu sprechen, ihre Stimme wäre zu laut. Da erklärte sie sich mir: ›Ja,‹ sagte sie, ›meine Stimme ist zu laut. Das kommt von der Corona-Zeit: Da haben wir alle Gesichtsmasken getragen, und um uns verständlich zu machen, mussten wir die Dämpfung unserer Lautstärken wegen der Masken übertönen.‹ Das ist gut geeignet für einen FPÖ-Untersuchungsausschuss: ›Konditionierte Reflexe und Maskenzwang‹ – klingt auch ganz schön verfassungskonform.
Ich gehöre zu den Teilnehmern des gesamtösterreichischen Wettbewerbs: ›My potscherts Leben.‹ Daher bin ich immer wieder gerichtsanhängig, ein Gerichtsvollzieher wurde mir zur Seite gestellt. Er ist ein netter Herr, ich kenne ihn schon lange und bei der Übergabe meines Restvermögens haben wir oft ruhig und gelassen Kaffee getrunken.
Nun bin ich nicht verbrecherisch und unterschlagend unterwegs. Ich hole nur, koste es was es wolle, die Post nicht ab, in der ich vom Anlaufen der Exekutionsmaschine verständigt werde – und am Ende kostet es doch viel, und zwar viel mehr. Selbstbeschädigung ist meine Devise. Im August war mein Gerichtsvollzieher auf Urlaub, er plätscherte im Wörthersee – mit den Fusserln, wahrscheinlich aber mit Plattfüßen, die er sich vom vielen Wandern hinter den Schuldnern her eingetreten hat. Ich hatte nur mehr das Gericht als Ansprechpartner.
Ich rufe beim Gericht an, und ›als jemand, der schreibt‹ bin ich erfreut, denn mein Gericht ist in der Marxergasse stationiert – und über die Marxergasse habe ich für mein letztes Buch eine faszinierende Glosse geschrieben. So etwas mit ›faszinierend‹ würde Kishon schreiben, ich – ohne Kishon – niemals: Offene Eitelkeit, hinter der man seine gigantische, geheime, abgründige Eitelkeit verbirgt!
Also ich rufe dort an, in der Marxergasse. Bei Gericht melde ich mich und werde verbunden (verbunden sagt man auch bei einer Wunde!). Ich wundere mich: Erstens hat mein Gerichtsvollzieher eine falsche Aktenziffer auf seinen Mahnungs-Wisch geschrieben, zweitens ›kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren‹, dass die Beamtin, mit der ich verbunden wurde, sowieso nix finden würde, geschweige denn den Akt eines verbrecherisch Unbedeutenden wie mir.
Ich wurde daher mit einer höhergestellten Gerichtskundigen verbunden. Der Klang ihrer wenig eindrucksvollen Stimme war weder abweisend noch zustimmend. Er war von tiefster Gleichgültigkeit bestimmt: Kein Mensch könnte je einem anderen Menschen mehr wurscht sein als ich ihr. Sie zog ihre Nummer ab, ich hatte am Ende keine Auskunft.
Aber wenigstens eine Frage wollte ich noch stellen: ›Darf ich bitte‹, fragte ich, ›dem Hohen Gericht die Gesammelten Werke von Franz Kafka zusenden?‹ – ›Nein,‹ sagte die Beamtin, ›wir dürfen nichts annehmen!‹
Ich habe eine Brieffeindin, die mir lieb ist. Wenn wir nicht unsere Feindschaft zelebrieren, leiden wir gemeinsam an einer sehr verbreiteten Krankheit, am Rechthaben. Sie hat es dabei leichter, denn ich muss vom Rechthaben ja leben, während sie sich jeden Blödsinn leisten kann. Dankenswerterweise schickt sie mir Informationen, an die ich ohne sie nicht herankäme, zuletzt die goldenen Worte von Ioan Holender: ›Die Wiener sind ein zutiefst unsympathisches Volk. Ohne jede künstlerische Neugier, geizig, uninteressiert, bösartig und zutiefst antisemitisch.‹
Ein Antisemit ist Holender Gott sei Dank nicht. Das hätte ihm noch gefehlt. Aber ist er nicht so eine Art Oberwiener? Unvergesslich, wie er als Kutscher Frau Netrebko im Pferdewagen durch den strahlenden Saal geführt hat: Die Oper, die Sängerin, ein Fiaker, ein Direktor und unter Anführungszeichen der ›Humor‹. Wien, Wien, nur du allein. •