Landflucht, Landsucht
Zwei benachbarte Dörfer: das eine wächst, das andere schrumpft. Wie kann das sein?
Geschichten über Abwanderung beginnen für gewöhnlich in kleinen, leeren Gemeinden. Dort, wo Volksschulen und Lebensmittelgeschäfte reihenweise schließen und Ortskerne aussterben. Diese allerdings beginnt im 8. Wiener Gemeindebezirk, zwischen Museumsquartier und Rathaus – dort, wo man zehn Volksschulen und fünf Supermärkte in zehn Gehminuten erreicht. Diese Geschichte beginnt in einer kleinen, dunklen Wohnung, in der eine junge Frau alle zwei Wochen auf der Couch übernachtet. Sie beginnt mit Carina.
Carina ist 26 Jahre alt, sie beendet gerade ihren Bachelor in Agrarwissenschaften, früher hatte sie eine Wohnung im 16. Bezirk. Vor knapp einem Jahr ist sie dort ausgezogen, zu wenig Zeit verbrachte sie in Wien. Für die letzten Prüfungen fährt sie in die Stadt und übernachtet bei Freunden, die meiste Zeit verbringt sie zuhause.
Carinas Zuhause heißt Vorderstoder und liegt im südlichen Oberösterreich. Dort wächst die Bevölkerung, obwohl sie in der ganzen Region schrumpft. Carina ist eigentlich eine von jenen Menschen, die die Dorfgemeinde statistisch gesehen verlassen sollten. Jung, gut ausgebildet, weiblich. Und Vorderstoder sollte eigentlich eine jener Gemeinden sein, die verlassen werden. Ländlicher Raum, wenig Arbeitsplätze, schwache Infrastruktur. Aber Carina hat sich wie viele ihrer Freunde dafür entschieden, in Vorderstoder zu bleiben. Was hält die Menschen ausgerechnet dort?
Aus Hinterstoder, nur fünf Kilometer von Vorderstoder entfernt, gehen sie. Hinterstoder und Vorderstoder waren einst Bergbauerndörfer in der Peripherie der Alpen, beide setzten schon früh auf den Tourismus. Und doch haben sie wenig gemein. Hinterstoder, das war einmal das Zuhause der 22-jährigen Lisa. Sie ist auf einem Bauernhof am Rande des Dorfes aufgewachsen. Früher hat sie gern am Land gelebt, sie war das erste Mädchen in der Jugendfeuerwehr und hat es genossen, jeden auf der Straße zu kennen. Nach der Matura hat Lisa ihren Heimatort verlassen. Sie pendelt heute mit dem Zug von Wels nach Salzburg, wo sie Kommunikationswissenschaft und Geschichte studiert.
Die Straße ist verwinkelt und eng, Einheimische erkennt man am Autokennzeichen (KI – Kirchdorf/Krems) und der Geschwindigkeit, mit der sie Kurven schneiden.
Wenn Carina mit dem Zug von Wien nach Vorderstoder fährt, muss sie zweimal umsteigen. Einmal in Linz, einmal am Bahnhof Hinterstoder. Dann geht es mit dem Auto weiter. Die Straße ist verwinkelt und eng, Einheimische erkennt man am Autokennzeichen (KI – Kirchdorf/Krems) und der Geschwindigkeit, mit der sie Kurven schneiden. Es geht entlang der tosenden Steyr, an schattigen Hängen vorbei, hinein ins Stodertal. Je näher man Vorderstoder kommt, umso mehr weicht der Nebel der Sonne und umso höher geht es nach oben auf über 800 Meter Seehöhe.
Viel gibt es hier nicht: eine Volksschule, ein Gemeindeamt, eine Kirche, einen Pfarrhof, den neuen Kindergarten, aber auch ein Haubenlokal. Die größeren Hotels stehen so weit voneinander entfernt, dass sie kaum auffallen. Überall ist viel Wiese, auf der Südseite des Ortes ziehen zwei verwaiste Skilifte die Blicke auf sich. Im Februar 2016 waren sie das letzte Mal in Betrieb. Die wenigen Vorderstoderer, die man auf der Straße trifft, grüßen jeden freundlich mit ›Griass di‹.
Schön ist es hier, sagen die Urlauber. Und ruhig, die Luft ist gut in den Bergen. Aber gute Luft und schöne Landschaft ist nicht genug, um Abwanderung abzuwenden. Nicht in Österreich und auch sonst nirgends in Europa. Auf dem ganzen Kontinent, von Ostdeutschland bis Nordengland, kämpfen Regionen mit dem Bevölkerungsverlust. Meistens trifft es ohnehin bereits dünn besiedelte Gebiete. Die Landflucht ist das Ergebnis aus unzähligen individuellen Entscheidungen, und doch lassen sich Parallelen erkennen. Der klassische Abwanderer hat einen hohen Bildungsabschluss und ist 15 bis 35 Jahre alt. Und er, der klassische Abwanderer, ist eigentlich eine Sie, denn es sind vor allem junge Frauen, die auf dem durch Handwerk und Landwirtschaft stark männlich geprägten ländlichen Arbeitsmarkt keine passenden Jobs finden. Diese Entwicklung wird durch patriarchale Strukturen des ländlichen Raums und fehlende Kinderbetreuung verstärkt. Diese Gründe betreffen Lisa und Carina gleichermaßen.
›Die Bevölkerung in Gemeinden wird weniger, wenn es keine adäquaten Arbeitsplätze in zumutbarer Entfernung gibt und die infrastrukturellen Gegebenheiten immer mehr verschwinden‹, erklärt Gerlind Weber, emeritierte Universitätsprofessorin und eine von Österreichs bekanntesten Forscherinnen zum Thema Abwanderung. ›Kein Arzt und keine Volksschule, kurze Kindergartenzeiten – das ist für viele abschreckend.‹ Denn wo weniger Menschen an einem Ort wohnen, wird die Infrastruktur zurückgeschraubt, Nahversorger schließen, Busse fahren seltener. Weniger Menschen bedeutet auch weniger Geld für die öffentliche Hand, weniger Investitionsmöglichkeiten für Gemeinden – kein neuer Kindergarten und kein neuer Fußballplatz. In Österreich sind vor allem Gegenden im Wald- und Mühlviertel, der Mur-Mürz-Furche, Oberkärnten und im südlichen Oberösterreich betroffen. Vier von zehn österreichischen Gemeinden sind in den letzten zehn Jahren geschrumpft, in manchen Gemeinden ist die Bevölkerung allein seit 2007 um über zehn Prozent, teilweise sogar 15 Prozent zurückgegangen. Im selben Zeitraum sind Städte und vor allem ihr Umland rasant gewachsen, Wien um 10, Innsbruck um 13, Graz um 14 Prozent; Gemeinden um die jeweiligen Landeshauptstädte teilweise sogar um über 20 Prozent.
Fast wie ein gallisches Dorf wirkt Vorderstoder inmitten von Gemeinden, die zu den am stärksten schwindenden in ganz Oberösterreich zählen.
Die Folgen von Landflucht sind schwerwiegend. Für die Städte, in denen das Wohnen durch den starken Zuzug immer teurer wird, und für die Dörfer selbst, in denen sich die Menschen vergessen fühlen, ein Nährboden für die Ablehnung städtischer Eliten und einer pluralistischen Gesellschaft. Das ist ein Mitgrund für die großen Erfolge, die populistische Parteien im ländlichen Raum erzielen.
In Vorderstoder ist die Bevölkerung seit 1981 um mehr als 18 Prozent gewachsen, 2016 wohnen hier 817 Menschen. Fast wie ein gallisches Dorf wirkt Vorderstoder inmitten von Gemeinden, die zu den am stärksten schwindenden in ganz Oberösterreich zählen. Es sind vor allem Pensionisten, die die Ruhe im Dorf genießen und sich in Vorderstoder niederlassen. Durchschnittlich 44 Jahre alt ist man in Vorderstoder, zwei Jahre älter als im Bezirksschnitt. Aber auch junge Menschen wie Carina entscheiden sich dafür, in der Gemeinde zu bleiben.
Um zu verstehen, was die Menschen hier behält, muss man dahin gehen, wo man die Vorderstoderer trifft. Das Dorfstüberl ist ein unscheinbares kleines Lokal zwischen gelb gestrichener Volksschule und blau gestrichenem Gemeindeamt. Alle paar Jahre wechselt es den Besitzer, eine Goldgrube sei es nicht, sagt man im Ort. Heute Abend ist im Dorfstüberl nicht viel los, sechs Männer sitzen im hinteren Eck, Bauernstammtisch, die Hälfte mit Hut, jeder mit Bier in der Hand. Als Gerhard Lindbichler das Lokal betritt, verhalten sie sich fast andächtig. ›Jössas, da Herr Bürgermeister. Gfreid mi oba, dass i Sie siach‹, ruft der eine. Gerhard Lindbichler ist seit 2009 Bürgermeister der Gemeinde. Er ist der vierte Vorderstoderer Bürgermeister seit 1945 und trat in die Fußstapfen seines Vaters, der dieses Amt von 1973 bis 1997 innehatte. 2015 wurde Lindbichler junior wiedergewählt, damals verfehlte die ÖVP knapp die absolute Mehrheit.
Dass Vorderstoder heute da ist, wo es ist, führt Lindbichler vor allem auf die Errungenschaften seines Vaters Ernst in den Neunzigerjahren zurück. Ernst Lindbichler habe damals erkannt, dass man den Einheimischen spezielle Zugeständnisse machen müsse, damit sie im ländlichen Raum bleiben. Im Fall von Vorderstoder waren diese speziellen Zugeständnisse vergünstigte Baugründe. Der Vorderstoderer Gemeinderat beschloss, Gründe nur noch dann in Bauland umzuwidmen, wenn die Grundbesitzer sich bereiterklärten, die Hälfte dieses Baulands günstig an Einheimische zur Verfügung zu stellen. Die ersten offiziellen Verträge mit einheimischen Bauwerbern wurden 2003 abgeschlossen.
Die Idee, Einheimischen günstige Baugründe zur Verfügung zu stellen, ist nicht neu. Viele Gemeinden haben in den letzten Jahrzehnten auf dieses Modell gesetzt. Bei weitem nicht alle konnten damit Abwanderung abwehren. ›Das ist kein innovatives Rezept mehr‹, erklärt Gerlind Weber. ›Und es funktioniert nicht überall, es gibt in allen Flächenbundesländern einen massiven Baulandüberschuss.‹ Vergleicht man österreichische Bodenpreise, bestätigt sich diese Annahme: Im nördlichen Niederösterreich, dort, wo die Jungen abwandern, kostet ein Quadratmeter Bauland oft nur zwischen 15 und 20 Euro.
Der Medianpreis für einen Quadratmeter Bauland liegt in Vorderstoder bei 57 Euro. Warum das Konzept in dieser Gemeinde funktioniert, lässt sich an zwei Dingen festmachen: Die Gründe, die damals verkauft wurden, befinden sich in bester und sonniger Lage. Dadurch wurden viele Familien angelockt, die sich das Bauland so leisten konnten, obwohl Vorderstoder als Tourismusstandort in den Ausläufern der Alpen für Zweitwohnsitze beliebt ist. Derzeit kommt in Vorderstoder auf zwei Hauptwohnsitze rund ein Nebenwohnsitz, einer der höchsten Werte im ganzen Bezirk. Die Nebenwohnsitze stellen für die Bewohner von Tourismusgemeinden oft eine große Hürde dar. Jene Menschen, die sich einen Zweitwohnsitz leisten können, sind zumeist finanziell besser situiert als die Einheimischen.
Außerdem wurde versucht, die kaufkraftstarke Konkurrenz klein zu halten. Christine Zauner ist Gemeinderätin und Obfrau des Vorderstoderer Sozial- und Bauausschusses. ›Diese Investoren, die sich drei Baugründe kaufen, dort ein Haus hinstellen und das einfach vermieten, die wollen wir hier nicht‹, sagt sie mit fester Stimme. ›Auch die treiben die Preise einfach nur nach oben.‹ Dass die Baugrundverteidigung in den nächsten Jahren nicht mehr so einfach wird, ist Christine Zauner bewusst. Die Bevorzugung von Einheimischen verstößt gegen EU-Recht, konkret gegen die Niederlassungsfreiheit. Seit 2017 sind Einheimischenmodelle wie jenes in Vorderstoder nur noch unter speziellen Voraussetzungen möglich. Auch Auswärtige dürfen sich jetzt um vergünstigte Grundstücke bewerben. Bei der Entscheidung für die Vergabe werden außerdem soziale Faktoren wie etwa niedriges Einkommen berücksichtigt.
Hätte man den Vorderstoderern in den letzten Jahrzehnten keine Zugeständnisse gemacht, wären sie am freien Markt schlichtweg überboten worden. Auch für Carina war das Thema Wohnen ausschlaggebend. Neben ihrem Studium arbeitet sie im oberösterreichischen Schlierbach als Projektassistentin und pendelt 30 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz. ›Ich habe mich manchmal schon gefragt, ob es nicht klüger wäre, mir eine Wohnung in der Nähe meiner Arbeit zu suchen‹, sagt sie. ›Aber ich habe mich dagegen entschieden. So günstig, wie ich hier in schöner Lage wohnen kann, das krieg ich so schnell nirgendwo sonst.‹
In Vorderstoder, auf 800 Meter Seehöhe, blickt man mit vorsichtigem Optimismus in die Zukunft. Man weiß, dass es nicht einfach wird, eine Zuwachsgemeinde zu bleiben. Dass die positive Entwicklung kein Selbstläufer ist, dass selbst anpackende Politiker das Ruder nicht zwingend herumreißen können, zeigt der Nachbarort Hinterstoder.
Mit dem Auto fährt man in fünf Minuten über 200 Höhenmeter hinunter ins Tal, in Lisas alte Heimat. Hinterstoder ist vielen Leuten ein Begriff. Auf der Hinterstoderer Höss, dem zweitgrößten Skigebiet des Bundeslandes, haben viele Oberösterreicher die ersten Skikurse absolviert.
926 Menschen wohnen hier 2016, knapp 100 mehr als in Vorderstoder. Wer ins Hinterstoderer Ortszentrum fährt, hätte wohl auf einige mehr getippt. Die Infrastruktur unten im Tal ist besser ausgebaut als in Vorderstoder. Hier kann man beim Essengehen auswählen – Pizzeria, Kaffeehaus oder Hausmannskost. Rechts an der Dorfeinfahrt steht ein großes Explorer-Hotel, gebaut von einem bayerischen Investor, dahinter ein riesiger Parkplatz. Zu den Stoßzeiten an Weihnachten und in den Semesterferien pilgern die Skifahrer und Snowboarder in Kolonnen vom Parkplatz zur Seilbahn. Im Sommer ist es hier ruhig, vereinzelt laufen ein paar Wanderer durch den Ort. Es sind die Wintersportler, denen hier so viel zur Verfügung gestellt wird, aber es sind die Einheimischen, die eigentlich ganzjährig davon profitieren sollten. Seit den Achtzigerjahren ist die Ortschaft um zwölf Prozent geschrumpft, 2013 war Hinterstoder die älteste Gemeinde Oberösterreichs. Schrumpfende Gemeinden können normalerweise weniger Infrastruktur zur Verfügung stellen, in Hinterstoder ist man aber aufgrund der starken touristischen Ausrichtung viel besser versorgt als in weiten Teilen des ländlichen Raums. Und trotzdem: Junge Menschen wie Lisa verlassen den Ort, die meisten von ihnen kommen nicht wieder.
Patriarchale Strukturen auflösen und traditionelle Rollenbilder überdenken, das findet man in keinem Masterplan, der Landflucht aufhalten will.
Die Gründe für Lisas Abwanderung waren eine Kombination aus unterschiedlichen Faktoren. ›Nach meiner Matura habe ich mich als bisexuell geoutet und mich innerhalb der Ortsgesellschaft nicht mehr akzeptiert gefühlt‹, erklärt sie. ›Heute denke ich, vielleicht hätte ich einfach die Blicke und das Gerede am Anfang ertragen müssen, und irgendwann wäre es schon wieder gegangen. Aber damals hat mir der Rückhalt gefehlt.‹ Mit etwas Distanz fragt sie sich gegenwärtig, ob sie damals nicht gerade deswegen bleiben hätte sollen: ›Es ärgert mich, weil ich weiß, dass sich aus der Ferne nichts ändern wird. Die Leute werden nicht aufgeschlossener, wenn ich weggehe, sie werden aufgeschlossener, wenn ich ihnen zeige, dass es andere Lebensweisen gibt, die genauso normal sind.‹
Patriarchale Strukturen auflösen und traditionelle Rollenbilder überdenken, das findet man in keinem Masterplan, der Landflucht aufhalten will. Dabei sind solche Aspekte doch vor allem für Frauen häufig ein Mitgrund, Dörfer zu verlassen. Wer einmal aus der Gemeinschaft fällt, verliert sein soziales Netz, manchmal für immer. Lisa hat sich nicht stark genug gefühlt, eine Vorreiterrolle einzunehmen, vor allem weil ihr Outing nicht der einzige Grund für sie war, Hinterstoder den Rücken zu kehren.
Weil sie nicht im Tourismus, sondern als Journalistin oder Kuratorin arbeiten will, gibt es für sie dort keinen Arbeitsplatz. Im Fremdenverkehr spürt man den Personalmangel. In der Gastronomie arbeiten zumeist Saisonarbeiter aus Ungarn oder Tschechien, ohne Hauptwohnsitz in der Region. Zusätzlich lohnt sich, anders als bei Carina in Vorderstoder, das Pendeln für Lisa nicht. Der Medianpreis für Bauland liegt hier bei 70 Euro pro Quadratmeter, 13 Euro mehr als in Vorderstoder. Im österreichischen Vergleich kein exorbitant hoher Preis – aber doch teurer als in den meisten Orten der Peripherie. Die Einheimischen konkurrieren hier mit mehr Nebenwohnbesitzern als in Vorderstoder. Die Investoren, die Christine Zauner in Vorderstoder nicht haben will, sind hier gern gesehene Gäste. Große, prestigeträchtige Tourismusgemeinden wie Kitzbühel oder Lech haben dieses Problem schon länger. ›Die richtig Geldigen‹, wie man sie hier nennt, kommen zwar nicht nach Hinterstoder, aber die, die kommen, haben genug finanzielle Mittel, um die Einheimischen am freien Wohnungsmarkt zu überbieten.
Auch hier im Tal hat man versucht, den Einheimischen billigere Gründe zu geben. Christiane und Erik Holter waren zwischen 1992 und 2005 für die Raumplanung in Hinterstoder und Vorderstoder zuständig. Die beiden erinnern sich gut daran, was in Hinterstoder damals schieflief. Man hatte gesehen, dass das Projekt in Vorderstoder funktioniert. ›Die Gründe, um die es in Hinterstoder damals ging, waren aber geographisch viel schlechter gelegen, das Angebot war kleiner und das Projekt wurde nicht mit dem nötigen Elan verfolgt‹, sagen sie. Einfach nur Baugründe vergeben, das funktioniert eben nicht.
Helmut Wallner ist seit 1991 Bürgermeister der Gemeinde, die ÖVP hat auch in diesem Stoder fast die absolute Mehrheit. Heute ist er müde. Gemeinsam mit seiner Frau führt er eine Pension, gestern Abend sei das Zusammensitzen mit den Gästen lang geworden, sagt er. Spricht man ihn auf das Thema Abwanderung und Überalterung an, merkt man ihm die Mühen der letzten Jahre an. Wenig hat Wallner in den letzten Jahren unversucht gelassen, um die Leute im Ort zu halten: Er hat die Infrastruktur verbessert, ein regionales Busnetz aufgebaut, ist Mitglied zahlreicher Regionalinitiativen geworden – ›Zukunftsorte‹, ›gesunde Gemeinde‹, ›familienfreundliche Gemeinde‹, ›europäische Dorferneuerung‹. Trotzdem ist Lisa gegangen. Wenn all die Konzepte nicht greifen und Gemeinden wie Hinterstoder im ganzen Land, sogar auf dem ganzen Kontinent, unter Abwanderung leiden, ist es dann überhaupt möglich, Landflucht überall aufzuhalten? Können alle immer wachsen?
Seit Jahren gibt es keine Einigung, es streiten Parteien im Gemeinderat, Hotelbesitzer mit Naturschützern, und weil sich in kleinen Gemeinden immer dieselben Leute gegenübersitzen, streiten Brüder mit ihren Schwestern und umgekehrt.
Wenn man Helmut Wallner diese Frage stellt, ist er zunächst still. ›Ich habe Bedenken‹, sagt er schließlich. 1999 wurden die Höss in Hinterstoder und die Wurzeralm in Spital am Pyhrn privatisiert und sind seither Teil der Schröcksnadel-Gruppe. ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel ist Mehrheitseigner an den Bergbahnen, seine Anteile liegen bei 53 Prozent. Er trieb den Ausbau des Tourismus weiter voran. ›Jahrelang sind wir allen nachgelaufen, endlich trägt es Früchte‹, sagt er. Durch die touristische Expansion sollen Arbeitsplätze entstehen, die Leute zum Bleiben animiert werden. Ein Chalet-Dorf soll nach Hinterstoder kommen, 400 Betten, es laufen Verhandlungen über eine Skigebietsverbindung von Hinterstoder nach Vorderstoder. Seit Jahren gibt es keine Einigung, es streiten Parteien im Gemeinderat, Hotelbesitzer mit Naturschützern, und weil sich in kleinen Gemeinden immer dieselben Leute gegenübersitzen, streiten Brüder mit ihren Schwestern und umgekehrt. Arbeitsplätze rufen die einen, Naturzerstörung die anderen.
Der Tourismus im Stodertal ist Fluch und Segen zugleich. Paradoxerweise sind es nämlich die Vorderstoderer, die von den Bemühungen in Hinterstoder am stärksten profitiert haben. Mit dem von Helmut Wallner initiierten Busnetz wurde die ganze Region erschlossen. Den Trubel im Winter hat man hier oben in Vorderstoder nicht, aber durch die unmittelbare Nähe zum Skigebiet wurde Vorderstoder ein immer beliebterer Tourismusstandort.
Wie es in Zukunft weitergehen soll, bewerten die betroffenen Interessensgruppen unterschiedlich. Hotelbesitzer sprechen sich für härteren Ausbau wie in Hinterstoder aus, Naturschützer betonen immer wieder, dass das Kapital der Ortschaft die naturnahe Landschaft ist. Christine Zauner findet: ›Massentourismus herholen wäre der größte Fehler, den wir machen können.‹
Zum Wachstum in Vorderstoder trägt etwas bei, das kein Masterplan erzeugen kann: Zusammenhalt. Christiane Holter erzählt von der Zeit, in der alle Bauern mit Heuen beschäftigt sind, wenn der Bauer, der schon fertig ist, mit seinem roten Lindner-Geotrac-Traktor zum Nachbarn fährt, um auch dessen Heu vor dem Regen in den Stall zu bringen. Auch Carina schwärmt von der sozialen Einbettung ins Dorfgeschehen. Heute sitzt sie für die ÖVP im Gemeinderat und leitet die Theatergruppe. ›Früher bin ich jeden Freitag nach Hause gefahren, weil ich wusste, da ist Musiprob’.‹ Der Musikverein Vorderstoder ist nur einer von zahlreichen Vereinen der Gemeinde. Ein anderer ist die Landjugend. Die Landjugend ist mit 90.000 Mitgliedern die größte Jugendorganisation im ländlichen Raum, die Mitglieder sind zwischen 14 und 35 Jahre alt. Das Konstrukt ist hierarchisch aufgebaut, an unterster Stelle finden sich die Ortsgruppen. Das sind jene Gruppen, die einen so wichtigen Beitrag zum Leben in den Gemeinden liefern. Die Landjugend Vorderstoder feiert 2014 ihr 50-jähriges Bestehen. Von allen Gemeinden im Bezirk Kirchdorf ist Vorderstoder die kleinste Gemeinde mit eigener Ortsgruppe. 66 Mitglieder zählt die Landjugend Vorderstoder momentan, 11 davon sind aus Hinterstoder, wo es keine eigene Ortsgruppe gibt, eine Hand voll aus Roßleithen.
Carina hat ein Lächeln auf dem Gesicht, wenn sie von der Landjugend erzählt: ›Das ist so wichtig für den Ort. Du machst dort deine ersten Erfahrungen, du hast die erste Liebe, es ist auch ein bisschen wie Tinder.‹
Das Vereinswesen unterstreicht einen weiteren Punkt, der beim Thema Landflucht wichtig ist: Ob Gemeinden größer oder kleiner werden, hängt oft mit dem Engagement einzelner Personen zusammen. Es sind Einzelpersonen, die sich mit spezifischen Betrieben in bestimmten Gemeinden ansiedeln und damit für Arbeitsplätze sorgen. Es sind Einzelpersonen, die im Ehrenamt dafür arbeiten, dass Vereine wie die Landjugend funktionieren. In Vorderstoder ist die Landjugend im kompletten Dorfleben vertreten und vernetzt die Dorfbewohner untereinander. Es sind die Bäuerinnen, die zu Erntedank die Erntekronen binden und die Männer der Landjugend, die sie am Festtag bei der Prozession durch das Dorf tragen. Im Juli wird bei der ›Sautrogregatta‹ der schönste Sautrog der Gemeinde gekürt. Bei diesen Festen kommt oft das ganze Dorf zusammen – und manchmal sogar die ganze Region. Vorderstoder hat sich durch das rege Vereinswesen von der Landjugend bis zum Eisstockschießen zu einem Knotenpunkt zwischen den Dörfern entwickelt.
Was können Österreichs oder vielleicht sogar Europas verlassene Dörfer also von der kleinen Gemeinde im südlichen Oberösterreich lernen? In erster Linie, dass es die eine Lösung, nach der alle suchen, nicht gibt und dass viele Faktoren darüber entscheiden, ob Konzepte funktionieren oder nicht. Aber es gibt kleine Lektionen: Dass es manchmal hilft, wenn man den großen Tourismus nicht bei sich im Ort hat, sondern im Nebenort. Und dass man sich um die Jungen bemühen muss, es wichtig ist, ihnen Zugeständnisse zu machen und sie in ein soziales Netz einzubetten. ›Einen jungen Menschen davon abzuhalten, wegzugehen, halte ich für fast unmoralisch‹, sagt Abwanderungsforscherin Gerlind Weber. Stattdessen müssten Landgemeinden erkennen, dass sie in einem starken Konkurrenzkampf zu den Städten stehen und sich dementsprechend um die besten Köpfe bemühen. Mit günstigen Starterwohnungen, passenden Lokalen, schnellem Internet, Kinderbetreuung, die flexible Arbeitszeiten möglich macht. Es geht darum, aktiv auf die jungen Menschen zuzugehen und Veränderungen, wie etwa den Übergang zur Wissensgesellschaft, wahrzunehmen.
Und noch etwas betont Weber: Die stetige Forderung nach Wachstum sei ein rein wirtschaftliches Paradigma, das demographische, ökologische und räumliche Grenzen schlichtweg ausblendet. ›Wenn Gemeinden kleiner werden, wird das immer beantwortet mit »Ihr müsst wachsen«. Dabei gibt es oft weder qualitativ noch quantitativ die Leute, die dieses Wachstum erzeugen können. Es ergibt sich darum immer die Frage, wie man mit diesem Wenigerwerden umgeht.‹ Wie aber erklärt man einer ortsansässigen Familie, dass man sich dafür entschieden hat, die Gemeinde langsam zugrunde gehen zu lassen? Dass die Schulen eben schließen und die Geschäfte ebenso? Heimat ist kein Thema, das man rationalisieren kann, Heimat ist Emotion.
Auch für Lisa. Mit ihrer Heimat hat sie Frieden geschlossen, an eine Rückkehr denkt sie trotzdem nicht. Von Wels pendelt sie mit dem Zug eine Stunde nach Salzburg. Für Carina hingegen hat es sich gelohnt, nach Hause zu ziehen. Jetzt sitzt sie in der dunklen Wohnung in der Wiener Josefstadt, dort, wo man zehn Volksschulen und fünf Supermärkte in zehn Gehminuten erreicht. ›Schau, dass die Leute wieder heimkommen‹, sagt sie am Ende des Gesprächs. Und schließt die Tür hinter sich. •