Mit überspitzter Feder

Der Umgang mit allem Russischen spaltet die ukrainische Literaturszene. Wer sich nicht kategorisch distanziert, muss vor allem auf Social Media schlimmste Schmähungen fürchten. Unseren Autor erinnert die Debatte an Orbáns Ungarn oder Morawieckis Polen.

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Mitarbeit:
Olena Kontsevych
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Illustration:
cruella bobo
DATUM Ausgabe Dezember 2022/Jänner 2023

Der Anlass war gegeben, das Ambiente angemessen, der Boden neutral. Wie es seit drei Jahrzehnten Brauch ist, versammelten sich Anfang September im norwegischen Westen die literarische Elite des Kontinents und ausgewählte Gäste aus dem Rest der Welt. Im paneuropäischen Kulturkalender zählt das Bjørnsonfestivalen in der Kleinstadt Molde zu den Großereignissen. Das nach dem Literaturnobelpreisträger und Nationaldichter Bjørnstjerne Bjørnson benannte und seit 1992 jährlich in dessen malerischer Heimatregion ausgetragene Literaturfestival ist nicht nur das größte des Landes. Es ist auch das mit Abstand prestigeträchtigste. Die Liste der Schriftsteller, die hier schon zu Gast waren, liest sich wie ein Who-is-Who der Weltliteratur: Wole Soyinka, Seamus Heaney, Amos Oz, Bei Dao, Yaşar Kemal, um nur ein paar der berühmtesten zu nennen. Angesichts des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine boten die norwegischen Fjorde deshalb theoretisch den optimalen Boden, um auszuloten, wie es um die Dialogbereitschaft derer steht, die nicht von der Macht der Gewehre leben, sondern an die der Feder glauben. Und wer wäre, als Repräsentant der Angegriffenen, dafür besser geeignet als der Mann, der als Pate der modernen ukrainischen Literatur gilt? 

Jurij Andruchowytsch ist der meistausgezeichnete Schriftsteller, den das Land seit seiner Lösung aus der sowjetischen Umklammerung Anfang der Neunzigerjahre hervorgebracht hat. Im deutschsprachigen Raum erreichte der heute 62-Jährige mit Übersetzungen seiner postmodernen Geniestreiche wie ›Moscoviada‹ (1993) oder ›Perversion‹ (1997) schon früh ein Publikum, von dem fast alle zeitgenössischen Literaten der Ukraine nur träumen können. Allem voran in den deutschsprachigen Ländern. Erich-Maria-Remarque-Preis, Hannah-Arendt-Preis, Goethe-Medaille: Kaum eine Auszeichnung, die Andruchowytsch, dessen Werke bei Suhrkamp erscheinen, dort in den vergangenen Jahrzehnten nicht bekommen hat. In der Literaturszene seines eigenen Landes steht er entsprechend im Range eines Säulenheiligen. Einer, dessen Jünger ihn bisher so treu wie unbedingt ergeben gegen alles verteidigten, was sie als unangebrachte Kritik an ihrem Idol empfanden. Bis er im Rahmen seines Besuchs in Molde einen Fehler machte. Einen, den viele von ihnen für durch nichts zu rechtfertigen halten. Andruchowytschs Vergehen: Er hatte die norwegische Bühne mit dem Autor Michail Schischkin geteilt und mit ihm über den Krieg gesprochen. 

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