Verschmierte Expertenbrille

Warum ›Sunniten gegen Schiiten‹ nicht ausreicht, um den Iran zu verstehen.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Dezember 2022/Jänner 2023

Es gibt diese Tendenz bei Menschen, sich Fremdes nur erschließen zu können, indem es mit Bekanntem verglichen wird. Unter einigen Nahostexpertinnen ist man stolz auf eine Erkenntnis, die man sich über die Jahre erarbeitet hat und nach der sich diese Region entlang einer bekannten Linie wunderbar erklären lässt: da Sunniten, dort Schiiten. Der unüberbrückbare innerislamische Konflikt, der seit Jahrhunderten Verwüstung, Tod und Krieg bedeutet. Ähnlich wie früher Protestanten und Katholiken. Das hat man gelernt, das wird reproduziert. Was war es denn im Irak? Am Ende Sunniten gegen Schiiten. Und in Syrien? Da doch auch. Darum geht es im Nahen Osten doch immer. 

Auch in der Analyse rund um die aktuelle Protestbewegung im Iran nach dem Tod der Kurdin Mahsa Jina Amini wird diese Linie prominent von Experten ins Feld geführt. Da ein schiitischer Staat, der seine sunnitischen Minderheiten – Kurdinnen und Belutschen – unterdrückt, die ihrerseits Autonomiebestrebungen hätten, die sie im schlimmsten Fall sogar mit Gewalt durchzusetzen bereit wären. Das würde nicht nur die Ziele dieser Bewegung – ein Systemsturz – gefährden, sondern auch die gesamte Stabilität des Landes und der Region in ein Chaos à la Syrien stürzen, das ultimative Horrorszenario.  

Mit dieser Angst operieren totalitäre Regimes in Vielvölkerstaaten immer wieder, wenn sie sich als einzige Garanten der Stabilität inszenieren, die ihre Landsleute vor dem Abgrund bewahren, auf den gerade sie mit systematischer Repression in ihrer Divide-et-impera-Strategie zusteuern. Auch die Islamische Republik ist eine Meisterin darin, und ebenso geschickt dabei, ihre Minderheiten als gewaltbereite Separatisten darzustellen. Daher kommt es auch nicht von ungefähr, dass sie derzeit am brutalsten in den kurdischen Gebieten und ebenso in Südosten des Landes, in Sistan-Belutschistan, gegen die Protestierenden vorgeht. Es ist nicht nur Einschüchterung, sondern auch ein Signal an den Rest des Landes: Hier müssen wir so vorgehen, weil hier leben die gefährlichsten Menschen des Iran. 

Natürlich besteht bei allen die Angst, dass sich Teile dieser Protestbewegung eines Tages bewaffnen könnten, dass es gar zu einem Bürgerkrieg entlang ethnischer und religiöser Linien kommen könnte. Nichts ist je ausgeschlossen, vor allem auch, weil das Regime es gezielt darauf anlegt, wenn es etwa kurdisch-iranische Gruppierungen im Nordirak angreift. 

Doch Irans Bevölkerung lässt sich nicht spalten. Im Gegenteil. Wenn nach dem Massaker in Zahedan im Südosten Irans, wo fast hundert Belutschen am 30. September getötet wurden, Kurden im Westiran für sie Blut spenden, dann konterkariert das derartige Narrative.  Ebenso, wenn Menschen im ganzen Land Khodanour Lejai in Kunstaktionen ihren Respekt zollen. Im Sommer war der junge Belutsche wegen Diebstahls – sagt das Regime – festgenommen worden. Zur Demütigung fesselte man ihn mit Handschellen an einen Fahnenmast, wo er kauernd mit gesenktem Kopf dasaß. Ein paar Monate später wurde er auf einer Demonstration in Zahedan getötet. Nun gedenken seine Landsleute entlang aller Ethnien und Religionen in Performances in derselben kauernden Stellung seiner, von Teheran bis Wien. 

Auch er, ein Belutsche, wurde zu einem Symbol dieser Bewegung. Genau wie die Kurdin Mahsa Jina Amini, genau wie die Perserin Nika Shakarami und so viele andere. Vielleicht zahlt es sich aus, eine Situation in einem Land in einem konkreten Moment in ihrem Kontext zu betrachten, ohne zu vergleichen, nur weil man glaubt zu wissen, wie alle ›da unten‹ so ticken – und dabei die verschmierten Gläser der eigenen Expertenbrille zu putzen. •