Negin und der Müll

Wie fünf Menschen ihre Flucht ins Museum bringen.

·
Fotografie:
Stefan Fürtbauer
DATUM Ausgabe Oktober 2018

Wenn du alles überstehen willst: Zieh deine Schuhe aus, bevor du aus dem Boot steigst. Deine Füße ­müssen ­trocken bleiben. Schließ die Augen vor deiner eigenen Lage. Trenn dich nicht von deinen Verwandten, oder mit wem auch immer du unterwegs bist. Schließ keine Freundschaften auf dem Weg, spar deine Energie. Denn du wirst die Menschen nie ­wiedersehen und all deine Kraft brauchen.*

Der Fotograf kennt kein Pardon. ›Bitte mehr nach links, du da hinten, du musst die Hose runter­krempeln! Schultern nach vorne!‹ Von der Wand blicken gestreng die Schlögelgrubers, ein Bauernpaar aus dem frühen 19. Jahrhundert, darunter zeugen ein reich bemalter Holztisch und der Bauernschrank mit den Evangelisten vom ländlichen Stolz von einst. Mit energischen Gesten richtet der Fotograf die Personengruppe mitten in diesem österreichischen Setzkasten aus. Yarden Daher, der Transmann aus dem syrischen Homs, der in Syrien Hijab trug und sich Regenbögen auf den Rucksack klebte, in der Hoffnung, dass einer verstünde – er muss nach hinten. Der Kabuler Aktivist Ramin Siawash mit dem immer frisch gebügelten Hemd, der sich in Österreich seit drei Jahren durch Notquartiere schlägt und so dringend ein WG-Zimmer sucht: bitte nach vorne rechts. Die Irakerin Sama Yaseen mit dem in Bagdad von amerikanischen GIs geschliffenen Englisch versucht, sich aus dem Bild zu nehmen. Das geht aber nicht, weil ihr der Journalist Reza Zobeidi im Weg steht, der sich als Araber sieht, obwohl sein Pass das iranische Emblem auf dem Umschlag trägt. In der ersten Reihe steht die Künstlerin Negin Rezaie in Modell-Pose über alledem, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Sie kommt aus einer regimekritischen Familie aus dem iranischen Shiraz und ist die letzte, die geflohen ist. Ihre Mutter konnte bei der eigenen Flucht vor zehn Jahren nach Großbritannien nur die jüngere Tochter mitnehmen.

Missbrauch, Verfolgung, Krieg: Faktoren, die sie nicht beeinflussen konnten, haben alle fünf flüchten lassen, der Zufall hat sie nach Österreich geführt und ein Programm hierher in die Laudongasse, Hausnummer 15–19, ins Volks­kundemuseum Wien. Eineinhalb Jahre lang haben sie in den weitläufigen Räumen des ehemaligen Palais das kuratorische Handwerk gelernt, haben daran gearbeitet, ›Flucht‹ zu abstrahieren, museal umzusetzen, sie haben schlussendlich in die bestehende Dauerausstellung und damit in die DNA des Hauses eingegriffen. Man kann auch sagen: Sie haben die Dauerausstellung auf den letzten Stand gebracht. Jetzt brandet das Meer in der ­Tiroler Bauernstube, jetzt ruft das Metallstockbett aus der Notschlafstelle zur unbequemen Schlafstatt unterm hölzernen Baldachin, jetzt fordern die Habseligkeiten der Heimatlosen die österreichischen Selbst­verständlichkeiten heraus. ›Ich will ein stolzes Foto!‹, ruft der Fotograf noch, bevor er mehrmals abdrückt. Das Pressefoto ist geschossen. Mit lauten ›Klick! Klick! Klick!‹ gehen Monate der Vorbereitung zu Ende. Das ›Museum auf der Flucht‹ ist fertig.

Drei Jahre ist es nun her, dass rund 700.000 Menschen auf der sogenannten Balkanroute nach Europa gekommen sind. Entlang von Trampelpfaden und Schleichwegen über einen halben Kontinent bis zur Küste, wo die Plastikboote warteten, dann weiter entlang der Zugschienen durch Länder, die sich selbst an den Krieg erinnern, als sei er gestern gewesen. Drei Jahre ist es her, dass rund 90.000 von ihnen in Österreich blieben, dass ein Kleinlaster, der einst Hühnerfleisch transportiert hatte, an einem hochsommerlichen Augusttag auf der A4 die Leichen von 71 erstickten Menschen freigab.

Längst hat der Duden den Begriff der ›Balkanroute‹ in der deutschen Sprache inventarisiert. Längst wirken diese Wochen politisch nach. Wo Grenzen auf der einen Seite gesperrt wurden – in Gevgelija, in Röszke, in Spielfeld und in Nickelsdorf – da wurden sie auf der anderen Seite verschoben. Wie aber werden sich die Menschen in diesem Land künftig an die Flüchtlinge erinnern? Welche Bilder werden in den Schulbüchern landen: die Bilder der Polizisten in den weißen Schutzanzügen von Parndorf oder doch die Polizeipatrouillen in Salzburg? Und wer darf überhaupt an dieser Erinnerung mitwirken, sich einbringen, wem steht der Beitrag zum künftigen Gedächtnis zu? Dem Betroffenen? Dem Staatsbürger?

Buch Icon

Wörter: 3119

Uhr Icon

Lesezeit: ~ 17 Minuten

Diesen Artikel können Sie um € 1,50 komplett lesen.
Wenn Sie bereits Printabonnentin oder Printabonnent unseres Magazins sind, können wir Ihnen gerne ein PDF dieses Artikels senden. Einfach ein kurzes Mail an office@datum.at schicken.
Genießen Sie die Vorteile eines DATUM-Printabos
und wählen Sie aus unseren Abo-Angeboten! Und Sie erhalten DATUM zehn Mal im Jahr druckfrisch zugesandt.