Nehammers letzte Chance
Über die Irrwege und großen Missverständnisse dessen, was sich ›Medienpolitik in Österreich‹ nennt, wurde an dieser Stelle schon viel geschrieben. Zu viel vielleicht, mögen Sie, liebe Leserinnen und Leser, die hauptberuflich nicht mit Medien zu tun haben, einwenden. Aber wir kommen einfach nicht drumherum: Medienunternehmen, nein vielmehr der Journalismus, den sie finanzieren und verbreiten (sollten), sind nun einmal eine ganz wesentliche Säule einer liberalen Demokratie. Und es steht schlecht um diese Säule. Das ist nicht allein die Schuld der Politik, doch ist sie mitverantwortlich – vor allem für die Frage, wie es von hier an weitergeht.
Bleiben wir zunächst realistisch: Die Regierung, allen voran Bundeskanzler Karl Nehammer und seine Medienministerin Susanne Raab, wird in den noch verbleibenden rund zehn Monaten keine Lösungen für die epochalen Herausforderungen vorlegen, denen sich die Medienwirtschaft gegenübersieht. Sie wird keine Antworten darauf finden, wie wir trotz KI-gestützter Fake-News-Lawinen in den Sozialen Netzwerken eine halbwegs brauchbare mediale Öffentlichkeit aufrechterhalten können. Sie wird sich nicht aus ihrer Co-Abhängigkeit mit den Verlegern und Verlegerinnen der Boulevardmedien befreien. Und sie wird auch nicht das Förderwesen so umkrempeln, dass eine Form des Journalismus gedeihen kann, die eine substanzielle öffentliche Debatte trägt.
Und doch hat diese Regierung unverhofft eine Jahrhundertchance, der österreichischen Medienöffentlichkeit und damit seiner demokratischen Wehrhaftigkeit einen Dienst zu erweisen. Einen Dienst, für den sie noch von künftigen Generationen gefeiert werden würde: Der Verfassungsgerichtshof servierte Nehammer & Co. diese Gelegenheit vor wenigen Wochen auf dem Silbertablett, indem er erkannte, dass die Besetzung des ORF-Stiftungsrates und des Publikumsrates – Achtung, Überraschung – zu stark im Einfluss der Regierung stehe und somit in ganz wesentlichen Teilen nicht verfassungskonform sei. Bis 1. März 2025 muss das neu geregelt werden, so die Verfassungsrichter.
Im letzten Jahr ihrer Legislaturperiode hat diese Koalition nun also den Auftrag bekommen, die Gremien des ORF neu zu organisieren und aus der Abhängigkeit der jeweiligen Regierung zu führen. Die Grünen wollen das ohnehin schon lange – was sie allerdings nicht daran hinderte, selbst mit der ÖVP einen ›Sideletter‹ über die Bestellung des ORF-Stiftungsrates auszuhandeln. Und die ÖVP? Erkennt sie diese einmalige Chance? Versteht sie, dass ein von der jeweils amtierenden Regierung unabhängiger ORF eine unschätzbare Stütze der Demokratie sein kann? Die erste Reaktion ließ ahnen, dass beides nicht der Fall ist, denn sie erinnerte an die eines trotzigen Kindes. Der Bundeskanzler wirkte beleidigt und stellte gleich einmal den gesamten öffentlich-rechtlichen Auftrag des ORF in Frage, der allerdings vom Verfassungsgerichtshof in ebenjenem Erkenntnis bestätigt worden ist. Und die Medienministerin gab sich – wohl als Einzige in der Fachwelt – total überrascht.
Die ÖVP hat nun die Wahl, und diese Wahl bedeutet für Österreichs demokratisches Gefüge nicht weniger als eine Weichenstellung: Erliegt sie der Versuchung, das Thema jetzt nicht anzurühren, um damit den ihr oft so lästigen ORF zunächst durch Orientierungslosigkeit zu schwächen und die Reparatur der nächsten Regierung zu überlassen – in der Hoffnung, dass sie dann womöglich gemeinsam mit der FPÖ dem ORF einmal richtig ans Leder gehen kann?
Oder reißt sie sich am Riemen, besinnt sich ihrer staatspolitischen Verantwortung und verpasst dem ORF gemeinsam mit den Grünen und unter breiter Einbindung der Öffentlichkeit eine Gremienstruktur, die den ORF und seine Journalistinnen und Journalisten hinkünftig bestmöglich vor politischen Zugriffen schützt und damit wesentlich dazu beiträgt, dass wenigstens diese Säule der medialen Öffentlichkeit stabil bleibt?
Karl Nehammer möchte so gerne als Staatsmann in die Geschichte eingehen. Wenn ihm tatsächlich viel an einem ehrenvollen Vermächtnis seiner Amtszeit liegt, ist das seine beste Chance – und vermutlich seine letzte. •
Ich wünsche Ihnen viel Freude mit den Seiten der Zeit!
Ihr Sebastian Loudon
sebastian.loudon@datum.at