›Nicht in die Hose machen‹

Vor hundert Jahren wurde das Adels­aufhebungsgesetz beschlossen. Ein Gespräch mit Karl Schwarzenberg über Adel und Politik, sein Vermächtnis und den Weg zur Hölle.

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Fotografie:
David Tesař
DATUM Ausgabe März 2019

Der Name Schwarzenberg führt Jahrhunderte zurück, ganz tief in die Geschichte des Heiligen Römischen Reichs: 1599 wurde Adolf von Schwarzenberg für seine Leistungen als Heerführer von Kaiser Rudolf II. in den Grafenstand erhoben, 1670 wurden die Schwarzenbergs zu Fürsten. Am 3. April 1919 war dann aber Schluss, die konstituierende österreichische Nationalversammlung beschloss das Adelsaufhebungsgesetz. Was ist bis heute geblieben? Darüber wollten wir in Prag mit Karl Schwarzenberg, oder auch: Karl Johannes Nepomuk Josef Norbert Friedrich Antonius Wratislaw Mena, Fürst von Schwarzenberg sprechen. Das Zugticket war bereits gebucht, da erfuhren wir von seinem Krankenhausaufenthalt. Deshalb führte unser Autor das Interview per Telefon. 

Herr Schwarzenberg, wie geht es Ihnen?

Danke, danke, es geht. 

Bei uns war gerade in den Nachrichten, dass Sie mit Herzproblemen ins Spital mussten.

Das mit dem Herzen muss noch gelöst werden, aber alles in allem geht es ganz gut.

Wir wünschen gute Besserung. Wir wollen über den Adel sprechen. Ich wüsste zu Beginn gerne einmal: Wie wäre es Ihnen denn am liebsten, dass ich Sie anspreche?

Wissen Sie, das ist mir eigentlich blunzn. Wenn mir etwas blunzn ist, dann das.

›Fürst von Schwarzenberg‹?

Das interessiert mich nicht. Schauen Sie, was ich bin, das bin ich. Zum Adel muss man generell sagen, dass es ihn in Wirklichkeit nicht mehr gibt. Es gibt noch einige Familien, aber der Adel als Stand ist bereits im 19. Jahrhundert zugrunde gegangen, als gesellschaftliche Klasse etwas später, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg. Weil sich die Leute mehr und mehr in verschiedenste Berufe zerstreuen und sich ihrer Umgebung anpassen.

Würden Sie von sich selbst sagen, ›ich bin ein Adliger‹?

Ich kann das nicht bezweifeln. Wenn man Schwarzenberg heißt, ist man es, Punkt.

Was macht das für Sie aus?

Nicht sehr viel. Das ist für mich, wie wenn Sie mich fragen, sind Sie brünett, haben Sie braune Augen. Dann sag ich, ja, hab’ ich – aber es spielt für mich nicht die wesentlichste Rolle.

Aber wenn Sie sagen, selbstverständlich bin ich ein Adliger – und gleichzeitig, dass es den Adel gar nicht mehr gibt, wie geht denn das zusammen?

Sie dürfen nicht vergessen, ich bin ja auch schon über achtzig – ein Ausläufer einer Zeit, in der der Adel zwar nicht mehr als Stand, aber immerhin noch als geschlossene Klasse existiert hat. Aber das ist vorbei.

Würden Sie sagen, Ihre Kinder sind auch Adlige?

Ja. Aber ich weiß nicht, ob sie sich so fühlen, wenn Sie sie selbst fragen würden.

Wie gibt man denn Adel weiter, wenn sich sowohl Stand als auch Klasse aufgelöst haben?

Das ist doch Blödsinn, weitergeben. Schauen Sie, als äußere Klasse ist es verschwunden, aber für die Person kommt es darauf an, ob man sich bestimmten Prinzipien verbunden fühlt.

Welchen Prinzipien?

Die tiefe Verbundenheit mit der Religion – was generell verschwindet, schauen Sie nur in die Politik, wo die ÖVP beim besten Willen nicht mehr als eine christliche Partei bezeichnet werden kann. Dann der Dienst gegenüber Kaiser und Land. Gut, der Kaiser ist weggefallen, aber es bleibt, dass man sich dem Staat gegenüber zu Dienst verpflichtet fühlt.

Der Dienst dem eigenen Land gegenüber ist ein spezifisches Merkmal des Adels?

Deswegen waren früher viele Bürgermeister ehemalige Adlige. Aber auch das schwindet, diese besondere Bindung gegenüber dem Ort, wo man zuhaus war. Die Leute sind alle in die Stadt gezogen.

Was ist mit der Geschichte der Familie? Wenn man weiß, wie in Ihrem Fall, dass der Name Schwarzenberg Jahrhunderte zurückgeht, höchste Beamte gestellt hat, Bischöfe, Generäle – bedeutet einem das etwas?

In meinem Fall schon. Für mich war es relativ prägend. Ich bin aufgewachsen in der Burg Orlík, wo man den Schatten der Familie Schwarzenberg in jedem Zimmer spürte, wo man unzählige Geschichten von den Vorfahren hörte. Aber wenn man in einer Stadtwohnung aufwächst, entfaltet das nicht diese Wirkung. Mein Vater war Historiker, meine Mutter eine begeisterte Österreicherin; beiden war gemeinsam: Dieser Name bedeutet Verpflichtung für dich. Verpflichtung, für das Land zu arbeiten.

Für welches Land denn? Ihre Familie hat ja Besitzungen in Österreich, in Deutschland und in Tschechien …

Das Land, wo man gerade ist! Ich habe immer versucht, einen Beitrag zu leisten, ob ich in der Steiermark oder in Tschechien gelebt habe. Man muss dort Hand anlegen, wo man ist. Besitz hat Bewohner, Nachbarn, die Ortschaft, wo er liegt – denen gegenüber hat man eine Verpflichtung. Für mich war es selbstverständlich, für die Steiermark und für Österreich zu arbeiten. Erst als ich nach Böhmen übersiedelt bin, habe ich den Vorsitz am Joanneum aufgegeben, was mir sehr leidgetan hat.

Ich bin der Ausläufer einer Zeit, in der der Adel zwar nicht mehr als Stand, aber immerhin noch als geschlossene Klasse existiert hat. Aber das ist vorbei.

Wenn ich durch Wien gehe, begegnet mir Schwarzenberg an vielen Ecken: Der Platz, das Palais, das Kaffeehaus …

Mein Onkel ist nach dem Krieg nie mehr dorthin gegangen, wissen Sie warum? Weil es von 1938 bis 1945 Café Großdeutschland geheißen hat.

Wie geht es einem, wenn man so durch Wien spaziert und sieht: Meine Familie hat durch ihre Bauten, durch ihr Vermögen die Stadt geprägt?

Ich habe ehrlich gesagt keine Zeit, über so etwas nachzudenken. Wenn ich in Wien bin, bin ich dort für Termine, da komme ich ja zu nichts, wenn ich dauernd über meine Familie nachdenken würde.  

Viele ehemalige Adlige, die politisch aktiv wurden, taten das auf europäischer Ebene; wenn ich etwa an die Pan­europa-Union Richard Coudenhove-Kalergis denke …

Das waren die interessantesten Geschwister der Generation. Der älteste war der Hans Coudenhove, ein Original, der ist ein eigenes Kapitel, aber weniger bekannt war die große katholische Schriftstellerin Ida Görres – auch eine Coudenhove-Schwester.

Ich wollte fragen: Ist Europa quasi das natürliche Betätigungsfeld für Menschen aus Familien wie der Ihren, die verschiedenste Staatsbürgerschaften und -sitze haben?

Nein. Europa ist ein zweiter Schritt. Mit der Politik sollte man zuhause anfangen, in dem Dorf oder dem Stadtviertel, in der Berufsgruppe, in der man ist. Wenn man ohne politische Erfahrung gleich in die Europapolitik einsteigt, führt das gewöhnlich zu peinlichen Ergebnissen.

Meinen Sie da jemand bestimmten?

Nein (lacht), nomine sunt odiosa, hab ich in der Schule gelernt. Die beste Schule ist die lokale Politik. Ich erinnere mich an eine Erfahrung: Vor 40 Jahren gab es irgendein politisches Problem – ich weiß nicht mehr, was es war, jedenfalls habe ich dazu an einer Diskussion in der Industriellenvereinigung teilgenommen. Danach bin ich nach Murau gefahren zu einer Diskussion der Landwirtschaftskammer. Die war viel näher am Boden. Daher: immer zuhause anfangen.

Was unterscheidet denn eine adlige Familie wie die Schwarzenbergs von einer, wie man früher gesagt hätte, bürgerlichen Familie?

Ich glaube, nur mehr, dass wir wissen, wer mein Ururgroßvater war – und dass ich meine Vettern und Cousinen vierten Grades noch als Verwandte betrachte. Das ist alles. 

Anlass unseres Gesprächs ist ja das Adelsaufhebungs­gesetz, das sich in Österreich heuer zum hundertsten Mal jährt. Haben Sie mit Ihren Eltern jemals darüber gesprochen, ob das für sie ein Bruch war?

Nein. Das hat uns wirklich nicht interessiert. Das Gesetz hat den Adel im Staat gestrichen, aber sie haben uns ja Gott sei Dank nicht umgebracht – er hat weiterbestanden.

Das heißt, das Gesetz war eigentlich …

… eine Demonstration des damaligen Parlaments. Wenn man Revolutionen inszeniert, muss man so etwas machen.

Wenn man diese alten Familien über die Medien ein wenig beobachtet, von großen Hochzeiten und Jagden liest, bekommt man ein wenig den Eindruck, da gibt es eine Parallelwelt. Ist es so?

Das gibt es noch, aber viel weniger als früher. Jeder Mensch hat seine Kreise, in denen er verkehrt. Und sowohl bei unseren Jagden als auch bei Hochzeiten sind auch immer Leute dabei, die nicht zu unseren Familien gehören. Es sind vielleicht größere Ereignisse als anderswo, aber es ist nicht mehr so wie früher, dass diese Gesellschaften geschlossen sind. Wir haben aber eines gemeinsam mit Bauern: Unsere Begräbnisse enden immer fröhlich. Da sind wir sehr ländlich geblieben, ohne diese städtische Angst, bei der man sich am liebsten vor dem Tod verstecken würde. 

Ich höre immer wieder eine Skepsis dem städtischen Leben gegenüber heraus.

Nein. Das ist ein anderes Leben, ein Gegensatz. Wir, der Adel, waren mit dem Land verbunden. Es gibt auch Länder, in denen er städtisch orientiert war, zum Beispiel Italien, aber unsere Stärke lag im Land.

Ironisch, dass Sie bei der tschechischen Präsidentschaftswahl 2013, bei der Sie Miloš Zeman mit 45 zu 55 Prozent unterlegen sind, die meisten Wähler in den urbanen Regionen hatten.

Richtig. Aber das ist wieder der gesamtpolitischen Lage geschuldet, der massiven Differenz zwischen Stadt und Land – ob bei den Wahlen in Polen oder der Bundespräsidentschaftswahl in Österreich, in Amerika oder bei der Brexit-Abstimmung. Es tut sich dieser Gegensatz immer mehr auf.

Fällt Ihnen ein, wie man diese Kluft überwinden könnte?

Ja, aber ich glaube, das ist von den Menschen zuviel verlangt. Dass man aufeinander zugeht, dass wir einander zuhören.

Kann ein Staat etwas dazu tun, das zu bewerkstelligen?

Im Moment fällt mir nicht viel ein. Als ich noch in Österreich tätig war, zur Zeit von Joschi Krainer, Erhard Busek und so weiter, haben wir in jungen Jahren immer versucht, in Kontakt mit den damaligen Sozialdemokraten zu bleiben. Heute hat sich dieser Graben wieder geöffnet, man spricht kaum mehr miteinander. Das ist nicht gut für dieses Land. Wenn man aufhört, über Parteigrenzen miteinander zu reden, ist das der beste Weg, das Land zu zerstören.

Aber ist das denn wirklich eine neue Entwicklung?

Vor 30 Jahren war das noch anders.

Ich würde einwenden, vor 30, 40 Jahren hat es nur zwei relevante Parteien gegeben.

Heute haben wir drei Mittelparteien. Und die sogenannten bürgerlichen Parteien haben ihren Hauptgegner und damit auch ihren Charakter verloren. Die ÖVP ist keine christlichsoziale Partei mehr, beim besten Willen nicht – und die FPÖ ist kaum mehr deutschnational. Die ist mehr nach Visegrád orientiert als in die Bundesrepublik. Das ist eine tiefe Umwälzung, soziologisch hochinteressant. Die Zweite Republik war etwas Seltsames – in Wirklichkeit hat sie viele Elemente vom Grundgedanken des Ständestaats übernommen, auch wenn das nicht so genannt werden durfte. Und die Sozialdemokraten haben festgestellt, dass sie durch die Sozialpartnerschaft viel stärker dastehen als in anderen Staaten. Aber das verschwindet jetzt auch; das ist eine österreichische Revolution für mich.

Wenn man aufhört, über Parteigrenzen miteinander zu reden, ist das der beste Weg, das Land zu zerstören.

Würden Sie sagen, die Zweite Republik ist vorbei?

Ja.

Weil Sie jetzt schon mehrmals gesagt haben, die ÖVP sei keine christlichsoziale Partei mehr: Was macht denn das für Sie aus?

Dass man das Soziale, die christliche Nächstenliebe an erste Stelle setzt. Und nicht sich als die Partei propagiert, die erfolgreich die Grenze schließt, die erfolgreich die Familienbeihilfe kürzt. Es verändert sich alles – Österreich ist heute ganz woanders, als es noch vor zehn, noch vor 30 Jahren war.

Wo sehen Sie denn, dass diese Entwicklung hinführt?

Das weiß ich nicht, ich bin kein Prophet. Ich sehe nur, dass Dinge aufbrechen. Österreich hat lange Politik gemacht, als ob es irgendwo im südlichen Elsass liegt: orientiert an Deutschland und der Schweiz, die östlichen Nachbarn sind irgendwie, ja, die Tschuschen halt, die wollten wir nicht anerkennen. Das ist jetzt vorbei: Heute sind wir Visegrád-interessiert. Das wäre noch vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen. 

Ist das nicht eine positive Entwicklung, dass wir jetzt auch die östlichen Nachbarn wahrnehmen?

Ich habe einen hochintelligenten, jungen politischen Gesprächspartner, demgegenüber ich Zweifel an gewissen mitteleuropäischen Politikern wie Viktor Orbán geäußert habe. Er hat geantwortet: ›Du wolltest doch immer, dass wir mit unseren Nachbarn näher zusammenrücken. Jetzt passiert das, und da schimpfst du schon wieder.‹

Und, schimpfen Sie?

Ich finde gut, dass wir mit unseren Nachbarn mehr und enger zusammenarbeiten als früher. Eine politische Richtung hätte ich lieber eine andere. Mehr europa-integrativ, als sie jetzt ist.

In ganz Europa erleben nationale und nationalistische Parteien einen Aufstieg, Salvini in Italien, Orbán in Ungarn, Le Pen in Frankreich. Glauben Sie, ist das eine dauerhafte Entwicklung?

 Das ist ja nicht erst seit ein paar Monaten so, sondern schon seit Jahren. Bisher ist alles gut gegangen für die Europäische Union – wir sollten bedenken, was wir da erreicht haben, was uns schon alles gelungen ist. Aber offensichtlich interessiert das keinen mehr. Interessant.

Gibt es aus Ihrer Sicht ein Gegenmittel?

Man würde annehmen, dass es die Vernunft ist. Da bin ich eher skeptisch.

Erlebt der Nationalstaat gerade eine Renaissance?

Nein, weil er sich überlebt hat. Er kann die Funktionen, die er vor hundert Jahren gehabt hat, nicht mehr erfüllen. Weder die Verteidigung noch die Energieversorgung noch die Außenpolitik: nichts davon können wir heute in Europa noch national lösen. Das ist einfach nicht mehr machbar. Weder Österreich noch Tschechien noch ein Land wie Italien könnte sich heute militärisch alleine verteidigen oder autonom mit Energie versorgen. Also bitte, wozu brauchen wir dann noch einen Nationalstaat?

Wenn das so ist, warum haben Sie dann auf nationaler Ebene in Tschechien kandidiert?

Weil ich hier eine bessere Politik wollte. Ich sehe in der aktuellen Politik wenige, die über den nächsten Wahltermin hinausdenken.

War das, um zu unserem ursprünglichen Thema zurückzukommen, vielleicht einer der Vorteile von aristokratischen Systemen, die auf dynastischen Prinzipien basieren – dass das langfristige Denken dort ausgeprägter war?

Es war, zugestandenermaßen, einer der Vorteile. Aber es ist auch ungeheurer Blödsinn geschehen, deshalb ist ja auch die Monarchie zugrunde gegangen.

Könnten moderne Republiken von Monarchien etwas übernehmen, um diese Vorzüge zu bekommen?

Sie können aus ihren Fehlern lernen. Das alte Österreich zum Beispiel war ein relativ gut funktionierender Staat. Er hat starke demokratische Elemente gehabt, die Justiz hat tadellos funktioniert – er war nicht übermäßig sozial, aber das waren die anderen europäischen Staaten damals auch nicht. Dennoch ist er entzweigebrochen; nicht wegen des Siegs der Alliierten oder wegen Politikern im Inneren – sondern, weil er seit den 1880er-Jahren unfähig zur Reform war. Das konnte nicht gutgehen mit dem Zustand von 1867, mit drei Klassen von Nationen. Die Welt hat sich verändert, und der Staat war unfähig, sich anzupassen.

Also ständig in Bewegung bleiben?

Ja! Ja! Ja, das ist es!

Gut, wohin soll denn der Weg heute gehen? Wir in Österreich diskutieren gerade, ob es eines Tages die Vereinigten Staaten von Europa geben soll …

Wir müssen die großen Fragen nach Europa geben, die nur gemeinsam zu beantworten sind, Außenpolitik, Energiepolitik, Verteidigung, Sicherheit. Umgekehrt können wir ruhig aus Brüssel Sachen zurückholen. Es ist mir nicht einsichtig, warum jemand bestimmen soll, ob ein heiliges Produkt der Wachau Marillenmarmelade genannt werden darf oder nicht. Das ist doch Blödsinn, damit soll man den Bürgern nicht auf die Nerven gehen. 

Aber gerade bei den großen Fragen wird Konsens in Europa schwieriger – wenn wir an Außenpolitik denken, etwa angesichts der Einstellung vieler Parteien zu Russland. Lassen sich solche Gegensätze überhaupt auflösen?

Einfach angehen, die Probleme, nichts liegen lassen. Nicht wie Ministerpräsident Taaffe (Anm.: Ministerpräsident Cisleithaniens, 1868-1870) sagen, wir wurschteln irgendwie weiter. Das war der Untergang.

Weder die Verteidigung noch die Energieversorgung noch die Außenpolitik: nichts davon können wir heute in Europa noch national lösen.

Was macht Europa aus?

Da muss man zwischen West-, Mittel- und Osteuropa unterscheiden. Westeuropa hat die komplette Entwicklung von der Antike, Christentum, Renaissance, Aufklärung, bürgerliche Revolution mitgemacht. Dasselbe gilt auch für Mitteleuropa, aber der Unterschied ist, dass in Westeuropa die Reformen von unten angegangen wurden. In Mitteleuropa waren es die Herrscher, etwa Josef II., die Neoabsolutisten.

›Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk‹.

Richtig. In Osteuropa dagegen fehlten Renaissance, Aufklärung, bürgerliche Revolution. Die bekamen dann eine Revolution 1917, die eine ganz andere war.

Gerade wenn man an die Artikel-7-Verfahren gegen Polen und Ungarn denkt: Kommen diese Gegensätze nicht gerade besonders stark zur Geltung?

Also passen Sie einmal auf: Zunächst einmal ist ein westeuropäisches Staatsverständnis nicht mit dem in Polen oder Ungarn gleichzusetzen. Das geht aus unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen hervor, das kann man nicht so vergleichen. Und sicher kann man über manches diskutieren, aber: Ich wüsste von keinem einzigen politischen Gefangenen in Polen. Das angebliche Verbrechen in Polen besteht gerade darin, dass Richter in Pension gehen müssen – wie alle anderen auch. Was ist das Unrecht darin, Richter mit 65 in Pension zu schicken, mit Verlaub? Richter, die durch ihre Ausbildung im alten, totalitären Regime geprägt sind, wie jeder Mensch. 

Der Vorwurf ist, dass die polnische Regierung das tut, um ihre eigenen Richter dort hineinzusetzen.

Dass sie mit 65 in Pension geschickt werden, ist der Vorwurf. Und natürlich will jede Politik Einfluss auf die Gerichte. Christian Broda, den ich gekannt hab, hat mir ganz offen gesagt, er sieht die Justiz als Instrument der ­Politik. Dasselbe sehen wir überall, nicht nur in Ungarn oder Polen.

Wenn Sie sagen, das sind historisch unterschiedlich entwickelte Staaten: War es denn richtig, die meisten osteuropäischen Staaten 2004, zu diesem Zeitpunkt, in die Union aufzunehmen? 

Wenn wir eine Europäische Union wollen, müssen wir irgendwann alle europäischen Staaten aufnehmen. Die große Frage wird Russland, das der Fläche nach größer als ganz Europa ist – soll man einen Elefanten im Kuhstall aufnehmen? Bis Russland akzeptiert, dass es ein normales Land ist, wird es noch Generationen dauern. 

Was ist mit der Ukraine?

Auch die hat noch einen langen Weg vor sich. Ja, ich bin dafür, dass die Ukraine in die EU aufgenommen wird, aber ich weiß auch, dass das kaum noch zu meinen Lebzeiten passieren wird.

Ich meinte die Staaten, die schon dabei sind, Tschechien, Ungarn, die Slowakei …

Halt, halt! Weder Tschechien noch Ungarn noch Polen sind osteuropäische Staaten, das sind mitteleuropäische Staaten, wie auch die Kroaten oder die Slowenen.

Dann lassen Sie mich umformulieren: War es richtig, diese Staaten zu dem Zeitpunkt, in der sogenannten EU-Osterweiterung, an Bord zu holen?

Ja, sicher! Das ist ein Riesenerfolg geworden. Allein wirtschaftlich sind diese Länder aufgeblüht, auch Deutschland und Österreich haben profitiert. Die Grenze zwischen Tschechien, Ungarn und Westeuropa ist ja erst nach dem Zweiten Weltkrieg heruntergegangen.

Die Frage ist doch, ob es der richtige Zeitpunkt war, ob die Unterschiede nicht noch zu groß waren. Allein in Ungarn geht die Zahl der Auswanderer seit dem Beitritt in Richtung einer Million.

Na gut, wenn man nichts zu fressen hat, wandert man aus. Die materiellen Umstände waren eben so, dass die Leute einen Job gesucht haben. Warum soll jemand in Ungarn bleiben, wenn er, sagen wir, 80 Kilometer weiter in Graz Arbeit findet? 

A propos Arbeit: Die Familie Schwarzenberg ist Großgrundbesitzer in mehreren Staaten. Was bedeutet denn so ein großer Besitz, wie ihn Ihre Familie in einer Privatstiftung hält?

Das bedeutet natürlich auch große Verantwortung: zu Lebzeiten etwas daraus zu machen, nicht nur zu genießen, aber auch der nächsten Generation zu bewahren. 

Wenn man zum Beispiel einen großen Besitz in der Steiermark erbt, ohne etwas dafür geleistet zu haben – ist das nicht ein unfairer Startvorteil gegenüber Menschen, die keine so reiche Familie haben?

Jeder hat seine individuelle Lebenserfahrung. Ist es ein Startvorteil? Sicher. Aber in jungen Jahren habe ich auch festgestellt, dass die Vorurteile gegenüber dem Adel sehr groß waren.

Wie hat sich das geäußert?

Ich erinnere mich, dass ein angesehener ÖVP-Vorsitzender einem Deutschen vorgeschlagen hat, er solle mich einsetzen, und der sagte dann: Mit dem Namen lieber nicht. Das habe ich unzählige Male mitgemacht in meiner Jugend, diese Einstellung ›lieber nicht mit denen‹. Aber diese Vorurteile sind jetzt weniger, das war in meiner Jugend viel stärker.

Wie stehen Sie denn zu einer Erbschaftssteuer?

Überraschenderweise bin ich gegen eine Erbschaftssteuer. Im Forstbetrieb wäre das wirklich ein Problem: Der wirft nicht so viel ab, dass man sehr viel aufbauen könnte. Und ich habe kein Interesse daran, dass der Familienbesitz zerschlagen wird.

Das Argument dafür ist doch: Manche Leute starten nicht mit einem Forstbetrieb, sondern mit gar nichts oder vielleicht einem kleinen Haus – ist das ungerecht?

Ich habe bemerkt, dass es in der Praxis nicht so viel Unterschied macht, ob jemand mit viel Besitz startet oder nicht. Wichtig ist, ob schon die Eltern akademisch gebildet sind oder nicht. Wenn man Bildung schon mit der Muttermilch bekommt, ist das ein großer Startvorteil – und der wird Gott sei Dank nicht besteuert.

Sie sind jetzt 81. Wenn Sie auf zig Generationen Schwarzen­bergs zurückschauen: Was ist denn Ihr Vermächtnis, das Sie weitergeben wollen? 

Wie immer die Zeiten werden: nicht in die Hose machen. Für mich waren das große Beispiel meine Eltern, die in Kriegszeiten nicht einen Millimeter zurückgewichen sind, als die Nazis gekommen sind, nein gesagt und sich zur Tschechoslowakei bekannt haben. Das waren die Vorbilder, und auch Onkel Heinrich, der dafür nach Buchenwald geschickt worden ist. Auch, wenn ich mich nie so heldenhaft verhalten habe, hoffe ich, das meinen Kindern weitergeben zu können: Niemals zurückweichen, niemals glauben, mit dem Bösen einen Kompromiss eingehen zu können. Das ist der Weg zur Hölle. •