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Nicht ohne mein Schatzi

Kosovo lebt vom Geld seiner Auswanderer. Im Sommer kehren sie zurück und lassen sich feiern.

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Fotografie:
Florian Rainer
DATUM Ausgabe Oktober 2018

An Bord der kleinen Adria-Airlines-Maschine JP 838 ist jeder Platz ausgebucht. Die Passagiere haben Schwierigkeiten, Stauraum für ihr Handgepäck zu finden. Eine junge Frau mit Jeansjacke und Birkenstocksandalen fragt ihren Sitznachbarn, ob sie am Fenster sitzen könne. Klar, sagt er – ein Mitt­zwanziger mit Hugo-Boss-Shirt und Diesel-Uhr. Er streckt ihr die Hand hin – ›Hi, ich bin Liridon‹ – sie lächelt, ›Liridona‹. Die beiden kommen ins Gespräch. Über den albanischen Vornamen, den sie sich teilen. Über den Sommer, den sie in der alten Heimat verbringen werden. Einer Heimat, die ihnen eigentlich fremd ist. Darüber, ein ›Schatzi‹ zu sein.

Ein was? Liridon und Liridona schmunzeln. Im Kosovo ist dieses deutsche Wort weit verbreitet. So nennt man Mitglieder der Diaspora, die unter dem Jahr Geld nach Hause schicken und im Sommer zurückkehren. Albaner, die in Wien, Zürich oder München leben – und deren Verwandte in einem der ärmsten Länder Europas zurückgeblieben sind. ›Meine Cousins im Kosovo verdienen 200 Euro im Monat‹, sagt Liridon – und nach einer kurzen Pause: ›Ich kaufe mir Schuhe für so viel Geld!‹

In weniger als eineinhalb Stunden hat die kleine Maschine einen großen Teil des Westbalkans überflogen – Slowenien, Kroatien, Bosnien und Teile Serbiens und Montenegros. Hier lag einmal Jugoslawien. Als der Vielvölkerstaat in den Neunzigerjahren gewaltsam zerfiel, flohen Hunderttausende Familien aus ihrer alten Heimat. So wie Liridon und Liridona. So wie die meisten Passagiere, die heute in der Maschine JP 838 sitzen.

Sie sind Albaner aus dem Kosovo, die seit zehn, zwanzig oder mehr Jahren in Deutschland, Österreich oder der Schweiz leben. Viele von ihnen haben zu Beginn auf Baustellen oder in der Gastronomie gearbeitet. Sie gründeten Familien und bekamen Kinder. Sie bauten Häuser, lernten eine neue Sprache. Irgendwann bekamen sie einen neuen Pass. Aber viele ließen ihre alte Heimat nie los – so trostlos sie auch wirken mag. Man merkt, dass man im Flugzeug über dem Kosovo schwebt, weil plötzlich viele kleine Würfel in der flachen Landschaft auftauchen. Fast so, als hätte ein Riese mit Bausteinen gespielt. Bei näherem Hinsehen erkennt man darin die Konturen unverputzter Ziegelsteinhäuser, die verstreut auf den Feldern stehen. Man sieht sofort, welche Familien ein ›Schatzi‹ im Ausland haben. Ihre Häuser sind vollständig – haben Fassade, Balkon und Gartenzaun.

Kosovo ist flächenmäßig in etwa so groß wie Kärnten. Hier leben 1,8 Millionen Menschen – so viele wie in Wien oder Hamburg. Die Diaspora erscheint im Vergleich dazu gewaltig. Sie wird laut offiziellen Angaben auf 800.000 Menschen geschätzt. Inoffiziell könnten es über eine Million sein. Die ›Schatzis‹ schicken regelmäßig Geld nach Hause – für Lebensmittel, Medikamente, Feuerholz oder Häuserfassaden. Im Kosovo ersetzen die ›Schatzis‹ das, wofür eigentlich der Staat zuständig wäre. Weil es kein Sozialsystem gibt, springt die Familie ein. Dadurch hat sich ein eigener Finanzkreislauf entwickelt. Weil jeder Dritte ein ›Schatzi‹ im Ausland hat und jeder Vierte Geld zugesandt bekommt, häufen sich Summen an, die es mit dem Staatshaushalt aufnehmen können. Die Zentralbank mit Sitz in Pristina schätzt, dass das Land jährlich 1,5 Milliarden Euro an seiner Diaspora verdient.

Im Sommer kehren die ›Schatzis‹ zurück. Dann verwandelt sich der Kosovo in eine nicht enden wollende riesige Partyzone. Es wird getrunken, gefeiert und geheiratet. Man hört Sportwägen durch die Straßen röhren, die ausländische Kennzeichen tragen. Die Clubs sind bis früh am Morgen geöffnet. Festivals werden organisiert und Gratiskonzerte veranstaltet. Zum Beispiel in Ferizaj – einer Stadt im Süden des Landes, wo einmal im Jahr zu Ehren der Diaspora ein Feuerwerk über den Plattenbauten gezündet wird. Der Marktplatz ist voller Tische, Bänke und Luftballons. Die Menschen stehen dicht gedrängt vor der Bühne, wo ein Volkssänger albanische Popsongs singt. Am Rande steht ein junges Mädchen – 17 Jahre vielleicht – die im schweren Schweizer Dialekt spricht. Sie tanzt, wie Albaner tanzen. Mit den Armen über dem Kopf, die Hüften leicht schwingend. So, dass es federleicht aussieht. Wie ist das, ein ›Schatzi‹ zu sein? Ihre Antwort folgt prompt: ›Du bist nicht hier und nicht dort zu Hause‹, sagt sie. Viele werden das im Laufe dieser Recherche sagen. Denn eine Geschichte über ›Schatzis‹ ist nicht nur eine über Wohlstand und Reichtum. Sie erzählt von Zerrissenheit und Heimweh. Und von der Schwierigkeit, Wurzeln zu schlagen, weil man zwischen zwei Welten lebt. Die Frage, wer oder was ein ›Schatzi‹ ist, führt uns in aussterbende Dörfer ebenso wie in überfüllte Pools. Sie erzählt von Menschen, die international bekannte Fußballer und Popstars geworden sind, ebenso wie von Menschen, die alles verloren haben. Es geht um Wirtschaftspolitik, die nicht von Ministern, sondern von Hunderttausenden Familien betrieben wird. Und um eine Frage, von der das Schicksal eines ganzen Staates abhängt. Wie lange noch?

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