Notizen aus Utopia: Aller Umbruch ist schwer
Über offene Fragen und die Verwirklichung von Tagträumen.
Am Ende dieser kleinen Reihe utopischer Entwürfe und Vorschläge steht die Frage nach der möglichen Verwirklichung von Tagträumen. Zum einen, weil es einfach schön wäre (zumindest in der Vorstellung einer wachsenden Zahl von Mitbürgerinnen), zum anderen aber auch, weil die meisten Mitmenschen dem Imaginären keine eigene Realität zubilligen und deswegen Konkretes fordern, also etwas, was sie anfassen können (früher), beziehungsweise etwas, was sie kaufen und verbrauchen können (heute). Legen wir gleich los.
Luxus und Verzicht
Vielleicht besteht momentan unser größter Fehler darin, jene Ressourcen in den Mittelpunkt unserer Sehnsüchte und Begierden zu stellen, die endlich sind (wie wir inzwischen ›endlich‹ verstanden haben): Gas und Öl, Gold und Platin, Sand und Wasser. Anstatt von jenen Ressourcen auszugehen, die unbegrenzt vorhanden sind: Wissen und Liebe. Genuss und Wertschätzung. Aufmerksamkeit und Reflexion. Wie viele Luxusartikel erschienen obsolet, begriffen wir das Leben selbst als größten Luxus? Würden wir dann nicht das Überflüssige am Überfluss erkennen? Und wenn wir dem materiellen Überfluss Grenzen setzen würden, welche anderen Grenzen (wie viele Zäune und Mauern) fielen dann weg? Und wie wäre es, wenn wir das Bedürfnis nach Luxus öfter durch eigenes, kreatives Handeln befriedigen würden: Handwerk mit eigenen Händen, Kunst zwischen den eigenen Ohren. Kultur ist unter anderem die unentwegte Suche nach Ausdrucksformen, die relevant sind. Was geschieht mit einer Gesellschaft, in der diese Suche von einigen wenigen vollzogen wird, während die anderen sich damit begnügen, ›Likes‹ zu verteilen?
Wachstum
Womit wir schon beim Wachstum wären, der heiligen Kuh des Kapitalismus. Die aus naheliegenden Gründen nicht geschlachtet werden kann. Weswegen das Dogma des Wachstums unentwegt wiedergekäut wird. Angeblich die Grundlage für alles Wohl, vor allem aber für soziale Gerechtigkeit. Das ist folgerichtig, denn Wirtschaftswachstum ist die am wenigsten konfliktträchtige Lösung des Verteilungsproblems. Und jede Gesellschaft wird definiert durch Mechanismen der Verteilung. Nicht nur zwischen Menschen (heute: ›wirtschaftliche Akteure‹), auch gegenüber den Göttern (Stichwort: Opfer) und der Natur. Wenn materieller Wohlstand sich vermehrt, dann können sich die Ärmeren und Unterprivilegierteren von den Brosamen ernähren, die vom kalten Buffett der Überversorgung fallen. Unser naturzerstörerischer Wachstumswahn ist unter anderem ein bequemer Mechanismus, Fragen der sozialen Gerechtigkeit hintanzustellen. Mit katastrophalen Folgen. Die einseitige Verteilung von Vermögen hat zu einer Verknöcherung der Gesellschaft geführt, zu einem manischen Verteidigen der eigenen Privilegien. Die nicht als Privilegien angesehen werden, wie eine faszinierende sozialpsychologische Studie von der Universität Berkeley neulich zeigte, bei der die Probanden Monopoly spielten, manche von ihnen von Anfang an mit viel mehr Papiergeld ausgestattet als die anderen. Natürlich gewannen sie im Nu und erklärten danach, wie gut sie gespielt hätten!
Das Gesetz des schwindenden Nutzens
Womit wir bei dem wohl wichtigsten Gesetz wären, das nicht in der Schule unterrichtet wird. Im Gegensatz zu den drei Hauptsätzen der Thermodynamik (bitte keine Leserbriefe, dass diese inzwischen auch nicht mehr gelehrt werden). Wer sich je auf eine neue Sportart eingelassen hat, kennt das Gesetz zur Genüge: Ein Anfänger macht rasante Fortschritte. Wer gut ist, muss sich mehr anstrengen. Der Könner aber ist eine bemitleidenswerte Kreatur, denn er oder sie muss immens viel trainieren, und selbst dann ist eine Verbesserung keineswegs sicher. So verhält es sich auch beim Begehren und Verbrauchen. Wer viel hat, muss sich viel mehr aneignen, um ein wenig mehr Beglückung zu erfahren. Wer viel verdient, muss Unsummen verdienen, um seine Lebensqualität wesentlich zu verbessern. Einfacher gesagt: Es gibt keine Steigerung von satt. Gesamtgesellschaftlich gesprochen bedeutet dies, dass wir auf dem Niveau des Jahres 1978 wären, wenn wir wirtschaftlich um die Hälfte schrumpfen würden. Ich lade jede Leserin und jeden Leser des DATUM ein, mir zu beweisen, dass die Menschen hierzulande damals im Durchschnitt unglücklicher waren. Für dieses stagnierende Glück haben wir im letzten halben Jahrhundert unglaublich viele Naturgüter verbraucht und verschwendet. Gibt es eine bessere Definition von Dummheit als Zerstörung ohne Gewinn?
Zeit oder Geld?
Es gibt keinen Wechselkurs zwischen Zeit und Geld. Weswegen viele Gesellschaften nicht gemäß unserer ökonomischen Logik gehandelt haben, nämlich alles zu investieren, um möglichst viel Geld zu erwirtschaften, sondern im Gegenteil sich mit dem begnügten, was ihnen erlaubte, ihre Zeit spielerisch genießen zu können. Ich habe absichtlich nicht ›Freizeit‹ hingeschrieben, weil ihre Freiheit ja gerade darin bestand, nicht einer fremdbestimmten und verinnerlichten Gier sklavisch zu folgen, sondern sich autonom das Wertvollste einzuteilen: die Lebenszeit. Offenbar gibt es eine wachsende Zahl von jüngeren Mitmenschen, die ähnlich denken und fühlen, weswegen eine österreichische Bankchefin neulich Alarm schlagen musste: Die Leute wollten – oh Graus! – nicht mehr arbeiten (Euphemismus für ›schuften‹), was wiederum der Redaktion einer führenden Tageszeitung so wichtig erschien, dass sie diese Aussage als Titelgeschichte platzierte. •
Zum Abschied einige offene Fragen
Was wäre, wenn wir alle genussvoll im Donaukanal schwimmen könnten?
Was wäre, wenn wir dort, wo wir wohnen, auch spielen könnten?
Was wäre, wenn die Vögel lauter wären als der Verkehr?
Was wäre, wenn es in Wien mehr Bäume als Menschen gäbe?
Was wäre, wenn ein Eichhörnchen vom Wienerwald bis zur Lobau gelangen könnte, ohne den Boden zu berühren?
Was wäre, wenn wir nachts in der Stadt die Milchstraße sehen könnten?
Was wäre, wenn wir begreifen würden, wie vergeblich das Raffen ist, an das wir uns gewöhnt haben?
Was wäre, wenn wir etwas nur dann besitzen würden, wenn wir es verschenken?