Notizen aus Utopia: Das Ende des Krieges … und die Fallstricke des Pazifismus

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe April 2022

Von Anton Tschechow stammt der berühmte Satz, wenn eine Pistole an der Wand hänge, müsse diese bis zum Ende der Geschichte auch benutzt werden. Tschechow bezog dies auf die narrative Ökonomie von Kurzprosa, aber der Satz könnte ebenso für viele der utopischen Haltungen zum Krieg gelten.

Dort, wo es Waffen gibt, werden sie eines Tages eingesetzt werden. Dort, wo Autorität und Gehorsam vorherrschen, wird eines Tages der Befehl erfolgen, auf andere zu schießen. Dort, wo die Staaten die Menschen in Nationen aufteilen, wird die Loyalität gegenüber dem eigenen Nationalstaat eines Tages die dem Menschen innewohnenden Gefühle von Solidarität, Empathie und gegenseitiger Hilfe unterdrücken. Dort, wo eine starre Grenze existiert, wird eines Tages die Unterscheidung zwischen eigenen Bürgern und fremden Barbaren festgeschrieben.

Doch selbst in Utopien wird diese Unterscheidung oft vorgenommen. Die Utopistas sind wie die meisten anderen Menschen rücksichtsvoll gegenüber ihresgleichen, aber grausam gegenüber Sklaven, sie lieben Frieden im eigenen Haus und führen Kriege im ›Ausland‹. Diese Dichotomie ist uns wohl bekannt, erst recht dieser Tage, und doch erstaunt es, dass sie in einer guten, besseren oder gar perfekten Gesellschaft nicht beseitigt worden ist. Selten folgen die utopischen Werke der letzten Jahrhunderte dem universalistischen Ideal des antiken Griechen Zenon, der in seiner Republik die Brüderlichkeit (zeitgemäßer: Geschwisterlichkeit) aller Menschen weltweit postulierte. Stattdessen akzeptieren entsetzlich viele Utopien den Krieg als etwas Unvermeidliches.

Oft wird das Thema umschifft, indem ein Reisender von einer fernen Insel berichtet, die vom Rest der Welt abgeschnitten ist, so dass jegliche kriegerische Dynamik mangels Gelegenheit entfällt. Bei diesen Visionen ist Friede ein hohes Gut und Friedfertigkeit höchste Tugend. So auch in der Inselstadt Christianopolis, 1619 auf Latein imaginiert von dem schwäbischen ­Protestanten Johann Andreae. ›Die drei am meisten geschätzten Eigenschaften des Menschen sind: Der Drang zu Gleichberechtigung, der Wunsch nach Frieden und die Verachtung von ­Reichtum.‹

Andererseits gibt es kaum eine Dystopie, die ohne Krieg oder brutale Konflikte auskommt. Die wohl berühmteste, George Orwells ›1984‹, geht von einem perpetuierten Krieg aus, der systemrelevant ist und daher nicht enden kann und darf, denn ›Krieg sorgt für das Wohl des Staates‹, wie der amerikanische Pazifist Randolph Bourne 1918 schrieb, kurz bevor er der Spanischen Grippe erlag (das Aufeinanderfolgen von Pandemie und Krieg vor einem Jahrhundert ist ein historisches Echo, das momentan zusätzlich für Beklemmung sorgt).

Die wohl wirkmächtigste Utopie gegen Krieg ist der Pazifismus, der sich einerseits aus religiöser Überzeugung ableitet (im Buddhismus oder Jainismus etwa), andererseits immer wieder in politischem Aktivismus mündet (zum Beispiel bei Bertha von Suttner und Clara Zetkin). Der vielleicht bekannteste Vertreter einer kompromisslosen Gewaltlosigkeit war Mahatma Gandhi, dessen Haltung allerdings oft als duldsame oder passive Frömmigkeit missverstanden wird. Gandhi war bereit, sein eigenes Leben einzusetzen und zu opfern. Er hatte keine Angst vor der Gewalt. An seinen Freund Reverend C. F. Andrews schrieb er im Juni 1918, es gebe manche, die allein aus ›Feigheit oder Trotz‹ nicht kämpfen wollten. ›Man kann jemandem, der unfähig ist zu töten, nicht ahimsa beibringen. Man kann einem Tauben nicht die Schönheit und den Wert von Stille vermitteln.‹ Gandhis utopisches Ziel war es nicht, Gewalt zu vermeiden, sondern die Gewaltfreiheit in der ganzen Welt zu verankern. Zu diesem Zweck müssten die Menschen als erstes lernen, den Tod nicht zu fürchten.

Immer wieder postulierte Gandhi, dass der Tod der Sklaverei vorzuziehen sei. Er sprach davon, die Wahrheit auf Kosten des Lebens zu schützen. Die Bereitschaft, sich selbst zu opfern, gehöre zum Wesen der Gewaltlosigkeit. Die Taufe der Gerechtigkeit (und somit der Wahrheit) durch ein Feuer der Selbstvernichtung erscheint nur widersprüchlich, wenn wir aus den Augen verlieren, dass die Kompromisslosigkeit des politischen Kampfs für Gandhi stets eine spirituelle Komponente enthielt. Nur wer nach den Sternen greift, kann über sich hinauswachsen. Aus einer rein irdischen Sicht ist Pazifismus ein extremer Anspruch, der in einer Epoche des bürgerlichen Überflusses und der individuellen Bequemlichkeit fanatisch erscheinen muss.

Nur wer dies versteht, kann dem Argument etwas entgegensetzen, Gewaltlosigkeit sei kein geeignetes Instrument gegen die exterminatorische Blindheit einer Angriffsarmee, einer gierigen Diktatur. Wer hingegen auf dem Selbstverteidigungsrecht beharrt (wie der Verfasser dieser Zeilen), muss seine Hoffnung in die Utopie der Abrüstung und der universellen Gemeinschaft legen, allerdings nicht unter der Herrschaft einer Weltregierung, wie von manchen Utopien imaginiert, denn die totalitären Gefahren einer solchen ›Lösung‹ sind offensichtlich.

Manche Utopien erahnen auf eigenwillige Weise das Unvorhersehbare. Edward Bulwer-Lyttons schräger ­Roman ›Das kommende Geschlecht‹ berichtet von einer Menschenart, die unter der Erde lebt. Jede und jeder von ihnen ist mit einem sogenannten ­Vril-Stab ausgestattet, einer Art Miniatur-Atombombe. Kaum wurde die zerstörerische Wirkung des Vril begriffen, endeten die Kriege, da jegliche vermeintliche Überlegenheit nivelliert worden war. Würde eine Armee eine andere angreifen, wäre die Vernichtung beider sicher. Krieg war somit abgeschafft, aber nicht nur das. Allmählich schwanden alle Aspekte von Gewalt aus den politischen Systemen, eine gerechtere und freiere Gesellschaft entstand.

Es ist nicht klar, ob Baron Lytton seinen 1871 erschienenen Roman mit satirischer oder okkultistischer Absicht schrieb – immerhin war er sowohl für die Liberalen als auch für die Konservativen Abgeordneter im Unterhaus und unter Disraeli auch noch Kolonialminister –, aber er hat mit verblüffender Clairvoyance die militärische Strategie namens MAD (›mutually assured destruction‹) vorweggenommen, die trotz aller aktuellen Ängste vor einem nuklearen Erstschlag weiterhin nicht widerlegt ist.

Den tagträumerischen Abschluss möge der wunderbare Philosoph Herbert Read formulieren: ›Keine Trommeln, die geschlagen werden könnten, keine Fahnen, die geschwenkt werden könnten, keine Salutschüsse und niemand, der in die Knie geht, keine Armeen, die marschieren, keine Chöre, die aus einer Kehle skandieren, sondern nur die sanfte kleine Stimme und Weizen aus dem Morgenland.‹ •

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