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Notizen aus Utopia: Verbrechen und keine Strafe

Warum wir in einer utopischen Gesellschaft weder Justiz noch Polizei brauchen.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Juni 2022

Es ist gar nicht so einfach, in der Utopie ein Motiv für Verbrechen zu finden. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich eine postkapitalistische Gesellschaft vor, in der alle wesentlichen materiellen Bedürfnisse erfüllt sind, in der weitreichend Gerechtigkeit und Gleichberechtigung verwirklicht worden sind, aus der alle repressiven Formen staatlichen Handels verschwunden sind. Nun öffnen Sie die Augen – was für eine Kriminalität ist da noch denkbar?

Gehen wir das Gedankenspiel anhand der aktuellen österreichischen Kriminalstatistik durch. 2020 wurden 23.716 Personen rechtskräftig verurteilt. Über vier Fünftel davon waren übrigens Männer (84,7 Prozent). Erneut, wie seit vielen Jahren, ist die Anzahl der Verurteilungen im Vergleich zum Vorjahr stark zurückgegangen, um 13,7 Prozent, auf einen neuen historischen Tiefstand. Da sich der Mensch an sich, auch in seiner austriakischen Ausformung, in den vergangenen zehn oder 20 Jahren wohl kaum grundsätzlich verändert hat, müssen wir schlussfolgern, dass das, was wir Verbrechen nennen, stark von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängt. 

Schauen wir genauer hin: Weit mehr als die Hälfte der Vorfälle betreffen Verbrechen, die es in einer Utopie von Gerechtigkeit und Würde kaum geben würde, nämlich Straftaten gegen ›fremdes Vermögen‹ (8780) und ›strafbare Handlungen nach dem Suchtmittelgesetz‹ (3670). Gerade die Kriminalisierung von Drogen ist Folge bestimmter ethischer Axiome, die auch anders gewichtet werden können (eine wachsende Zahl von Menschen verlangt hierzulande, wie auch weltweit, eine generelle Legalisierung von Drogen). So wie das Ende der Prohibition in den USA zu einem Rückgang der organisierten Kriminalität geführt hat, würde auch die Legalisierung anderer Drogen die Verbrechensquote drücken.

Unsere utopische Verbrechensquote ist somit schon arg geschrumpft. Des Weiteren gibt es eine Vielzahl von ›Verbrechen‹, die sich aus den spezifischen ordnungspolitischen Strukturen unseres Staatssystems ergeben und zudem überwiegend, etwa bei Fälschungen, Meineiden unter anderem, materiell motiviert sind. Darunter fallen Straftaten gegen die Rechtspflege (1051), gegen die Zuverlässigkeit von Urkunden und Beweiszeichen (1010) sowie gegen die Staatsgewalt (865) – eine Demonstration, die aus dem Ruder läuft, bläht die Statistik gewaltig auf.

Doch was ist mit den schlimmen, den grausamen Taten? Hat nicht Kain Abel ermordet und Romulus Remus? Was mit den Monstern, die so wenig Menschlichkeit in sich tragen? Jeder, der nicht Jus studiert hat, ist verwundert, wie selten extreme Brutalitäten in der Realität vorkommen. 2020 gab es in Österreich 43 angezeigte Morde. Mit so wenigen Leichen würde der Wiener ›Tatort‹ nicht weit kommen. Wer den Kriminalromanen oder den Schlagzeilen der Kronenzeitung vertraut, bekommt eine weltfremde Schlagseite.

Die Anzahl der angezeigten Vergewaltigungen ist mit 962 Fällen zwar schockierend hoch (von den nicht gemeldeten Fällen ganz zu schweigen), aber würde jemand ernsthaft bestreiten, dass männliche Gewalt gegenüber Frauen Ausdruck einer tiefsitzenden kulturellen Pathologie ist, die Frauen als minderwertig, als wehrloses Objekt der eigenen Begierde betrachtet? In einer postpatriarchalen Welt würden Vergewaltigungen fast völlig verschwinden. 

Wirklich schlimme Verbrechen kommen somit angesichts von neun Millionen Mitbürgerinnen ohnehin schon sehr selten vor, und viele davon sind zweifellos Ausdruck psychischer Erkrankungen, die wir in Folge unseres wachsenden Verständnisses jetzt schon vielfach medizinisch behandeln. Am Ende unseres Gedankenexperiments bleiben also Einzelfälle übrig, jeder tragisch und schmerzhaft, aber keineswegs eine existentielle Bedrohung für unser Gemeinwesen. Sodass sich dringend die Frage stellt, ob wir hierfür einen gewaltigen Apparat an Strafverfolgung, Rechtsprechung und Justizvollzug benötigen, der bekanntlich (hierüber gibt es viel mehr Studien als Gangster und Gauner) die Straffälligen selten resozialisiert, sondern stigmatisiert und von der Gesellschaft isoliert. 

Ein Blick auf die Entwicklung der Gesetze offenbart, wie willkürliche Annahmen über die Sittlichkeit des Menschen und die Werte der Gesellschaft auf Kosten individueller Freiheit absolut gesetzt wurden (die Beispiele sind Legion: Verbot der Homosexualität, Kriminalisierung von Verschuldung und Bankrott, höchst selektive Verdammung von abweichendem Verhalten, etwa große Nachsicht gegenüber ökologischen und Wirtschaftsverbrechen, obwohl diese uns alle viel mehr schädigen als ein Drogenhändler an der Straßenecke). Viele der Gesetze setzten eine böse Natur des Menschen voraus, dabei könnte es durchaus sein, dass der Mensch erst durch die Einführung dieser Gesetze böse beziehungsweise als böse angesehen wurde. 

Wir wissen von Ländern, in denen das Recht weniger repressiv und mehr deliberativ verstanden wird, dass eine Vielzahl sozialer Konflikte durch Vermittlung gelöst werden können, wenn wir uns verabschieden von archaischen und religiös aufgeladenen Bedürfnissen wie Schuld, Rache, Strafe und Abschreckung (die bekanntlich wenig hilft: Die Wiedereinführung der Todesstrafe in den USA hat nicht zu einem Rückgang der Mordquote geführt, und in Saudi-Arabien wird weiterhin gestohlen, auch wenn einem dafür die Hand abgehackt wird). 

Zumal das Einsperren eines Menschen Traumata zur Folge hat, die mit einer humanen Gesellschaft nicht vereinbar sind. Weswegen der deutsche Kriminologe und Anstaltsleiter Thomas Galli eine Entlassung der allermeisten Einsitzenden verlangt, nicht allein aus Empathie mit ihnen, sondern weil dies die Gesellschaft sicherer machen würde. Ebenso hat der österreichische Justizminister Christian Broda, der progressivste von allen in diesem Amt, eine gefängnislose Gesellschaft denkbar gemacht.

Es gibt viele utopische Ansätze diesbezüglich: Vermittler statt Richter; Beschämung statt Bestrafung; emotionale Heilung statt Rache; ethische Wiedergutmachung statt Einsperrung; Zuneigung statt Stigmatisierung. Wie soll aber mit einem Monster wie Hannibal Lector verfahren werden? Es braucht hierfür weder die Institution der Polizei noch der Gerichte. Freiwilligengruppen könnten sich solcher Problemfälle annehmen, die in Abstimmung mit der gesamten Bevölkerung in der jeweiligen Gemeinde eine Entscheidung fällen. Wer partout mit seinen Mitmenschen nicht friedlich zusammenleben mag, für den gibt es etwa die Verbannung auf einer einsamen Insel. Entscheidend ist, dass die Freiheit der Gemeinschaft nicht eingeschränkt wird, um sich vor solchen äußerst seltenen Auswüchsen zu schützen. •